29.06.2013 01:29:38
Nach dem Urteil am 13.12.2012 im Revisionsverfahren zu dem Tod von Oury Jalloh ist dieses am 8.5.13 den beteiligten Parteien zugestellt worden. Nebenklage, Staatsanwalt und Verteidigung haben Revision eingelegt.
Verbrannt und diffamiert
Oury Jalloh und acht Jahre koloniale Justiz
Deutsche Polizist_innen sind sicher. Denn sie sind deutsch und Polizist_innen. Und sie haben das Recht auf ihrer Seite. Als Oury Jalloh am 7.1.2005 in der Gewahrsamszelle Nr. 5 der Polizeistation der deutschen Stadt Dessau verbrannte, wurde von diesem Revier am selben Tag die Meldung herausgegeben, dass sich der Asylbewerber aus Sierra Leone selbst angezündet habe. Der Staatsanwalt, der routinemäßig die Ermittlungen einleitete, übernahm diese Version und erließ schließlich Anklage gegen zwei Polizeibeamte: Der eine habe das Feuerzeug übersehen, mit dem sich Oury Jalloh angezündet habe, der Andere sei nicht schnell genug gegen das Feuer vorgegangen. Schon die war dem zuständigen Landgericht Dessau zu viel und erst nach einigen Verzögerungen und zahlreichen Protesten von migrantischen und anderen Organisationen und Aktivist_innen wurde das Verfahren trotzdem zwei Jahre später zugelassen. Es endete nach über anderthalb Jahren mit Freisprüchen und weitere zwei Jahre später wurde das Revisionsverfahren am Landgericht Magdeburg eröffnet. Dieses endete am 13.12.2012 nach fast zwei Jahren mit einer Geldstrafe für den Angeklagten, dem Dienstgruppenleiter Schubert, wegen fahrlässiger Tötung. Erneut war für die beteiligten rechtsstaatlichen Abteilungen die Frage danach, wie das Feuer überhaupt zustande kam, belanglos. Denn die Antwort steht auch ohne jede Ermittlung in diese Richtung und trotz aller Widersprüche fest: Das Opfer ist der Täter. Denn Deutsche und erst recht Polizist_innen können es nicht gewesen sein. Und wenn, dann zumindest nicht offiziell.
Die Verfolgung und Kriminalisierung von denjenigen, die auf Grund von Herkunft und Hautfarbe als Menschen aus der „3. Welt“ - wie die kolonisierten Länder heute bezeichnet werden - gelten, gehört zur Berufsaufgabe der deutschen Polizei. Damit sieht sie - und das Selbstbewusstsein der ausübenden Beamt_innen - sich in einer über 500jährigen Tradition, in der die Menschheit in die westliche Welt und die kolonisierten Kontinente aufgeteilt und hierarchisiert wurde und wird. Migrieren die Kolonisierten ungefragt in den „westlichen Teil“ (wer damit gemeint ist, lässt sich in den Visa-Ausnahmebestimmungen der Ausländerbehörde nachlesen), gelten sie meist als illegal oder als Asylbewerber_innen und sind an den äußeren wie inneren Grenzen einem Gewaltapparat ausgesetzt, der ihren Tod billigend in Kauf nimmt und „geräuschlos“ herbeiführt. Auch Oury Jalloh galt als geduldet und damit von Abschiebung bedroht und kannte die Kontrollen und Festnahmen, mit denen nicht-weiße „Ausländer_innen“ kontinuierlich zu rechnen haben. Als er am Morgen des 7.1.2005 zwei Frauen ansprach, riefen diese die Polizei – „Da belästigt uns ein Ausländer“ -, die wiederum ihn, der sich längst von ihnen entfernt hatte, zur „Identitätsfeststellung“ auf den Boden warf, fesselte, zum Auto und dort hinein zerrte. Mit derselben Begründung wurde er – trotz der Duldung, die er dabei hatte, sowie ohne Erklärung und Befragung vor Ort - zum Revier gebracht und dort in die Zelle eingesperrt.
Die Konstellation der Macht
Diese Gewalttaten gehören zur Normalität und werden bei einer Anzeige damit beantwortet, dass dieses Mittel für die Gegenseite gemacht ist: Widerstand gegen die Staatsgewalt lautet spätestens dann der Vorwurf durch die rechtsstaatliche Koalition aus Polizei und Gericht. Zwei Wochen nach dem Brand gab der Staatsanwalt bekannt, dass „eine Entzündung der Matratze durch den im Gewahrsam befindlichen 21-jährigen Mann aus Sierra Leone aus sachverständiger Sicht wahrscheinlich“ (Pressemitteilung StA DE 20.1.2005) sei. Währenddessen war bekannt geworden, dass dieser in der Zelle an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze angekettet worden war. Ein Feuerzeug fand sich erst in einer zweiten Asservatenliste, von dem ungeklärt blieb, wie es bei der Durchsuchung übersehen worden sein sollte. Trotz dieser und anderer offener Fragen und Widersprüche, vorgebracht durch Freund_innen von Oury J., Stimmen aus politischen Organisationen und einzelne Medienberichte, blieb die Behauptung des Staatsanwaltes bis heute die offizielle Version und Grundlage der Ermittlungen, Anklagen und Gerichtsverfahren. Eine Überführung des Leichnams zur Mutter von Oury J. in Guinea wurde bald angeordnet, obwohl das Landgericht Dessau sich noch fast zwei Jahre lang weigerte, sie und die Familie von Oury J. sowie ihre Vertretung anzuerkennen. Deren Anwält_innen ließen eine zweite Obduktion durchführen, die einen Nasenbeinbruch und Mittelohrbeschädigungen zu Tage brachte und vom Staatsanwalt nicht anerkannt wurde. Ebenso lehnte er die Aufnahme einer Röntgen- oder anderer Untersuchungen ab und ignorierte die Recherchen und Fragen der Vertretung der Familie. Das Ziel seiner „Ermittlungen“ und Anklagen war deutlich: die offizielle Version der Selbstentzündung als Wahrheit zu etablieren sowie den Brand und den Tod von Oury J. in ein „Unglück“ zu verwandeln, auf das die zu dem Zeitpunkt des Alarms anwesenden Beamt_innen nur noch mehr oder weniger schnell reagieren konnten.
Das Gewaltmonopol der Polizei
Ebenso war bald bekannt geworden, dass die Polizistin, die am 7.1.2005 im selben Raum wie der Angeklagte Schubert gearbeitet hat, noch am selben Tag aussagte, dass dieser den Alarm zwei Mal ausgestellt habe, bevor er reagierte. Diese Aussage zog sie bereits drei Monate später wieder zurück. Auch während der beiden Gerichtsprozesse demonstrierten die Polizist_innen ihre Mentalität, die jede_r kennt, wer schon von der Polizei angegriffen, kontrolliert, festgenommen oder sonstwie „zurechtgewiesen“ wurde. Da Oury Jalloh sich gegen die Festnahme gewehrt habe, wäre physische Gewalt gegen ihn nötig gewesen. Da „Belästigung“ ein Straftatbestand sei, musste eine Anzeige gegen ihn erstellt werden, wie der Zeuge Scheibe im Dessauer Verfahren angab (die Anzeige schrieb März nach der Verbrennung von Oury J.). Und anschließend ließen die Beamt_innen ihren Aussagen zufolge Oury J. stundenlang angekettet schreien, statt sich um die Identitätsfeststellung zu kümmern, die der Vorwand für seine Einsperrung war. Einerlei ob im Einzelfall die Begründung genauso im Gesetz wiederzufinden ist (der Rechtsweg steht grundsätzlich allen offen..): Das Bewusstsein, im Recht zu sein, gehört zur Berufsgrundlage der Polizei. Denn dafür, die Rechtsprechung und die Anordnungen ihrer jeweiligen Auftraggeber mit Gewalt durchzusetzen, wird sie mit allerlei Kriegsgerät und Uniform ausgestattet. Gute Polizist_innen führen ihren Auftrag treu und ohne Einwand aus, sei es bei Abschiebungen, Grenzkontrollen oder gegen vermeintliche oder tatsächliche Gegner_innen der Staatsordnung. Wenn dabei auch „Kollateralschäden“ entstehen, sind diese nicht weiter störend, solange sie ihrem Auftrag nicht entgegenstehen. Und das ist selten der Fall, wenn der „Einsatz“ sich gegen diejenigen richtet, die über Herkunft und Hautfarbe aus der Menschheit und insbesondere ihrem westlichen Teil ausgeschlossen werden. So drehte sich die Sorge der Polizist_innen quer durch alle Dienstgrade auch bei ihren Befragungen in den Prozessen nicht darum, was in ihrer „Organisation“ vor sich geht, sondern darum, dass diese schadlos durch das Verfahren kommt. Aufklärung wurde nicht nur vermieden, sondern verhindert, wenn es darum ging, die Polizei und die Angeklagten zu entlasten. Die Antwort „ich kann mich nicht erinnern“ wurde bis zum Abwinken durchgezogen und vom Gericht akzeptiert. Bei anklagerelevanten Details wurden die rechtzeitig auftauchenden „Erinnerungen“ im Laufe des Verfahrens aufeinander abgestimmt. Mehr oder weniger sicherer Leitfaden waren ihnen dabei diverse „Hausmitteilungen“ direkt nach dem 7.1.05 und interne Versammlungen, die bald wiederum ein Hauptbestandteil der Befragungen vor Gericht und gleichermaßen angedeutet und beschwiegen wurden. Schon während des Dessauer Verfahrens, das überwiegend aus Befragungen der Polizist_innen bestand, wurde ihr Bild zur Wahrheit, gestützt durch Anklage, Beweismittelvernichtung und vom Gericht abgelehnte Ermittlungen. Einig sind sich alle Seiten darin, dass am Betrieb auch dieser Polizei nichts zu rütteln ist und ihre Funktion nicht gestört werden soll.
Das beredte Schweigen von Staatsanwalt und Gericht
Entgegen allen Indizien und ohne einen einzigen Beweis hält der Staatsanwalt Preissner bis heute an der Behauptung fest, Oury J. habe sich selbst angezündet, und auch beide Gerichte verhandelten ernsthaft durchgehend darüber, als ginge es um eine wahre Geschichte. Wie zuvor lehnte Preissner während dem Dessauer Verfahren alle Ermittlungen in andere Richtungen ab und hielt sich ansonsten mit Fragen weitgehend zurück. Er leitete sieben Ermittlungsverfahren gegen aussagende Polizist_innen ein, die für diese keine negativen Konsequenzen haben. Auch das gegen die besagte Zeugin Höpfner lief bis zum Magdeburger Prozess, bei dem sie dadurch Gebrauch vom Aussageverweigerungsrecht machte (danach wurde das Verfahren gegen sie eingestellt). Als relativ kurz nach Beginn des Revisionsverfahren der Zeuge Bock aussagte, dass er März und Scheibe gegen 11:30 in der Zelle gesehen habe - also zu dem Zeitpunkt, als ein von Höpfner bezeugter, im Gewahrsamsbuch nicht dokumentierter Zellengang stattfand - , wurde er von Preissner dahin gedrängt, dass es doch eine frühere Uhrzeit gewesen sein müsste. Anschließend beantragte der Staatsanwalt deren erneute Vorladung, um explizit die Bestätigung einer früheren Uhrzeit zu erhalten. Bis zum Ende des Verfahrens bleibt das Fahrtenbuch beim Staatsanwalt „unauffindbar“, in dem der Streifendienst notiert sein müsste, der von beiden für diese Uhrzeit angegeben wird. Mehrmals betont er in beiden Verfahren, dass er angesichts der Kontrollen eine Brandlegung durch Andere als Oury Jalloh für „wenig wahrscheinlich“ bis „ausgeschlossen“ hält. Wie sein Amtstitel schon besagt, tritt er als Anwalt der Staatsgewalt auf – gegen das Opfer und dessen Familie. Der Gewaltapparat deutscher Politik steht über dem Leben der Betroffenen – insbesondere wenn es sich bei ihnen um „Ausländer“, zumal aus den kolonisierten Ländern handelt. Dafür stehen nicht nur der Staatsanwalt, sondern auch deutsche Gerichte ein. Nachdem der Dessauer Richter Steinhoff das Verfahren – nach dessen Verschleppung die Jahre zuvor – in einigen Tagen beendet haben wollte, störte er sich erst an der Vertuschung durch die Polizeibeamt_innen bei den Befragungen, als er sich durch deren Lügen in seiner Autorität als Richter angegriffen sah. Schließlich bot er dem Angeklagten schon vor dem Urteil einen Freispruch an, wenn dieser zu einer kohärenten Erzählung gelangen würde. Statt sich für die Brandursache oder andere Ermittlungen als die der Anklage interessierte er sich vorrangig für die Einhaltung der Brandschutz- und Gewahrsamsordnung. Und alle neuen Erkenntnisse, die durch die Befragungen seitens der Nebenklage zutage kamen, waren für ihn wie für den Staatsanwalt irrelevant: Seien es die Verbindung zu Mario Bichtemann, der im November 2002 unter Verantwortung von Schubert an einem Schädelbasisbruch in Zelle 5 verstarb (die Ermittlungen wurden eingestellt), oder die fehlende Rechtsgrundlage der Festnahme von Oury J. Auch das Gericht in Magdeburg erklärte die von der Nebenklage angeführten Widersprüche für prozessirrelevant und lehnte mit dieser Begründung deren Anträge überwiegend ab. Nach dem anfänglichen „Elan“ – in dem der Unterschied zu Dessau bestand – wurde zunehmend entnervt das Pflichtprogramm erfüllt: das Rettungsverhalten des Angeklagten zu verhandeln und der offiziellen Version vom „Unglück“ (Preissner) Recht zu geben.
Nichtigkeiten in Verfahren zum Schutz der Polizei
Wie der Staatsanwalt hielten beide Gerichte die alltägliche Praxis der Polizei gegenüber Migrant_innen für unerheblich, ebenso deren dazu konformer Glauben an die koloniale Aufteilung in Rassen und Kulturen und die dazugehörige Stereotypisierung, Abwertung und Gewaltlegitimation. Zu dem Telefonat zwischen dem Angeklagten Schubert und dem Arzt Blodau – „da piekste mal ´nen Schwarzafrikaner“ - bemerkte Preissner, dass dieser es bedauert habe, wenn er „eine Wortwahl gewählt hatte, die Anstoß erregen könnte“, und damit war das Thema namens Rassismus (wie er es nicht nennen wollte) für ihn und die Gerichte erledigt. Auch ist ihm wie den Gerichten die rassistische Verachtung und Grundeinstellung derart selbstverständlich, dass sie diese in keiner der Schilderungen der Polizist_innen ihres Verhaltens gegenüber Oury J. erkennen wollten – die sich auch während der Verfahren anständig bemühten, die etablierte Redeweise vom „ausländischen Mitbürger“ zu verwenden. Es ist den hier tätigen rechtsstaatlichen Abteilungen aus ihrer Praxis bekannt, dass eine „staatsfeindliche Einstellung“ schon ausreichen kann, sich strafbar zu machen. Die „Einstellung“ namens Rassismus gehört offenbar nicht dazu und ist deshalb auch nicht der Rede wert. Zudem handelt es sich hier bei der Organisation, die tätig ist, um die Polizei – deren Zielsetzung darin besteht, die staatliche Ordnung durchzusetzen und Menschen aufgrund ihrer Herkunft bis in den Tod zu verfolgen: Das kann bei ihr per se nicht rassistisch sein. Staatsdoktrin ist, dass nur Nazis rassistisch sein können und auch die sind in der Polizei gut aufgehoben (und falls sie mal beim Kukluxklan gesichtet wurden, ist diese Sache mit einer Ermahnung erledigt). Solange ihre Gesinnung mit dem staatlichen Auftrag konform geht, ist das böse Wort vom Rassismus unangebracht und verträgt sich bestens mit ihrer täglichen Praxis – auch diesen Persilschein konnten sich alle Polizist_innen in Dessau wie in Magdeburg abholen (und haben ihn in ihrer Sprechweise gut verstanden). Ebenso ist ein sog. Richtervorbehalt (die Abfrage einer richterlichen Genehmigung) für die „Ingewahrsamnahme“ laut Urteil kein Hindernis, wenn dieser noch nie in Dessau angewendet worden sei – zudem steht in dem Vorbehalt nur drin, dass ein Richter diese aus welchen Gründen auch immer für Rechtens befinden soll. Wenn der Rassismus im Recht ist, dann muss der Angeklagte Schubert den Vorbehalt auch nicht kennen und kann sich über diese Vorschrift im „Irrtum“ befinden – im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus. Mehr wollte die Magdeburger Richterin Methling damit in ihrer Urteilsbegründung auch nicht gesagt haben: Da beide Gerichte an dem Gewahrsam nichts auszusetzen hatten, könnte jeder Richter auch so entscheiden, wenn der Vorbehalt eingehalten worden wäre (was rechtlich durchaus möglich ist). Wenn Oury J. zur Wache mitgenommen wurde, dann wird wohl „irgendwas dran sein“ (eine übrigens weiterhin populäre Auffassung dazu in Dessau und anderswo). Und wenn er eingesperrt und gefesselt worden ist, dann wird er wohl auch irgendwie „aggressiv“ gewesen sein: Auch diese Darstellung der Polizist_innen ist für beide Gerichte wie üblich selbstverständlich. Der Rechtsstaat erklärt eine politisch grundsätzlich intendierte Praxis für rechtens und damit ganz unparteilich – im Namen des Rechts – für bestätigt.
Das Instrument Rechtsstaat...
So wenig es eine „neutrale“ Polizei gibt, so wenig gibt es einen „neutralen“ Rechtsstaat. Recht ist es, Menschen nach ihrer Herkunft, insbesondere aus den kolonisierten Ländern für illegal zu erklären und nach ihrem Äußerem oder Pass entsprechend zu behandeln. Genauso sie – wenn sie, als einzige Möglichkeit, „geduldet“ zu werden, Asyl beantragen – in Lager einzuweisen, in denen sie psychisch und physisch terrorisiert und von der Abschiebung laufend bedroht werden. Wie auch sie apartheidmäßig in beschränkte Bewegungszonen zu verbannen, anhand der Residenzpflicht laufend zu kontrollieren und zu paralysieren (deren strafrechtliche Anwendung von den Richter_innen damit begründet wird, dass sie die Gesetze nicht machen würden). Auch wenn es zu „Todesfällen“ im Inland bei dem Einsatz der Polizei kommt, hängt der Einsatz des rechtsstaatlichen Apparats davon ab, welche Fragen gestellt werden und welche schon zuvor beantwortet sind. Noch vor den ersten Ermittlungen kommt es darauf an, wer die Täter sind (und als solche in Betracht gezogen werden); wer das Opfer ist und als Betroffene_r gesehen wird; wer spricht und wer nicht (und wessen Stimme gehört wird); wovon gesprochen wird und wovon nicht; und mit welchen Prämissen, Zuordnungen und Bezeichnungen („Notwehr“, „Zwischenfall“, „ungünstige Umstände“ etc.). So wie die Gewalt der Polizei nicht als solche gesehen wird, sondern erst dann, wenn sie „übermäßig“ sei, ist eine Verhandlung der Taten aller Beteiligten auf gleicher Augenhöhe ausgeschlossen. Die Polizei ist so gut wie im Recht und das Opfer wird damit konfrontiert, dass dessen Würde und Existenz ausgelöscht wird so wie selbst die Angehörigen darum laufend kämpfen müssen – gegen Polizei, Staatsanwalt und Gericht. Letztere halten den Kampf dann von vorne herein für erledigt und abgewiesen, wenn dem Opfer ob tot oder lebendig schon durch Herkunft und Status die Täter-Opfer-Position - u.a. durch sie selbst - zugewiesen wird. Die Paragraphen, Anklagen und Ermittlungen, die angewendet werden, unterstellen die Definition der (i)legitimen Tat sowie der Täter-Position und sind in Anklage und Verfahren vorgegeben. Sie verwandeln die „Tat“ in ein scheinbar neutrales, isoliertes Ereignis und erlauben die Dethematisierung der Motivation und des Rahmens, in dem die Beteiligten der Tat wie der rechtlichen Behandlung agieren. In der justiziellen Bearbeitung wird eine bestimmte Interpretation des Geschehens „objektiv“ und damit zur Wahrheit – entsprechend war auch in der breiten deutschen Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit für Oury J. weitgehend von einem laufenden Verfahren bestimmt. Diese Leistung des Rechtsstaats konnten auch die Familien der neun „Ausländer“ erleben, die zwischen 2000 und 2006 - ganz offiziell als Opfer der „Döner-Morde“ - erschossen wurden und gegen deren Angehörige und andere Migrant_innen - ob mit oder ohne Deutschpass - „ermittelt“ wurde – bis am 4.11.11 der NSU „aufgeflogen“ ist. Seitdem sind die involvierten Institutionen - mitunter anhand von „Ermittlungen“ - vorrangig damit beschäftigt, die Frage nach ihrer Beteiligung und ihrem rassistischen Weltbild in eine der optimalen Kooperation untereinander zu verwandeln. Und warten ansonsten den Prozess gegen die Hauptangeklagte ab, mit dem dann auch diese „Affäre“ erledigt sein könnte.
… und dessen Leistung
Nach der kollektiven willkürlichen Praxis der Polizei, die sich in den Prozessen in Dessau und Magdeburg zeigte, der polizeilichen Verfolgung der Opfer eines Nazi-Überfalls in Halberstadt statt der Täter 2007, der „Polizeiaffäre“ um drei Staatsschützer in Dessau, die 2007 aus ihrer Abteilung geworfen wurden, da sie zu viel nach rechts schauen würden, usw. treibt das Innenministerium andere Sorgen um, als die Kompetenzen einer solchen Polizei einzuschränken. Mit dem neuen Polizeigesetz, das dort am 20.02.2013 verabschiedet wurde, sollen – mal mit mal ohne Richtervorbehalt – werden der Polizei erweiterte Befugnisse gegeben, Überwachungstrojaner zu installieren, je nach Gefahr der „Sicherheit“ den Mobilfunk abzuschalten, DNA-Analysen oder AIDS-Tests anzuordnen, IMSI-Catcher zur Ortung einzusetzen oder Videoaufzeichnungen "bei Anhalte- und Kontrollsituationen". So wie im Allgemeinen wird auch im Besonderen die Macht der Polizei gewährleistet. Dem Brandgutachten, das im Dessauer Verfahren verwendet wurde, lagen mehrere Brandversuche zugrunde, bei denen gemäß den Vorgaben eine Matratze geöffnet, diese anschließend in Brand gesetzt und der Temperaturverlauf gemessen wurde. Trotz des Einwandes des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe, dass damit unklar blieb, ob es möglich gewesen ist, mit einem Feuerzeug und ohne Verletzungen der Hand die Matratze zu öffnen, wurde dieses Gutachten auch in Magdeburg als Grundlage genommen. Ein Antrag der Nebenklage auf ein entsprechend erweitertes Gutachten wurde abgelehnt und schließlich gegen Ende des Verfahrens als ´letzte Konzession´ zugelassen. Auch in den folgenden Versuchen, in denen – unter Anleitung des Sachverständigen – eine Matratze mit einem Feuerzeug geöffnet und entzündet wurde, konnte nicht ausreichend geklärt werden, ob ein Brand, der mit der Todesposition von Oury J., dem Zustand der Matratze in der Zelle und den gemäß Zeugenaussagen rekonstruierten Zeitabläufen vereinbar wäre, ohne Brandbeschleuniger und Entzündung durch Andere (als Oury J. selbst) möglich wäre. Zudem erfolgten die Versuche und die Messungen des Brandverlaufs unabhängig davon, dass Oury J. auf der Matratze gelegen hat, und auch die Frage, wie er ohne Schmerzensschreie - die nachweislich im Haus zu hören gewesen wären – und ohne sofort erfolgender Ausschüttung von Katecholaminen (Stresshormone) die Matratze geöffnet und entzündet haben soll, bleibt unbeantwortet. Das Gericht in Magdeburg überging die entsprechenden Ausführungen damit, dass eine Selbstentzündung „möglich“ und eine andere Ursache nicht bewiesen sei, und beschränkte die Urteilsbegründung auf die mangelnde Aufsicht durch den Angeklagten. Die Fragen und Ermittlungen nach der Brandursache, den Zuständen in der Polizei – das Aussageverhalten von Höpfner war trotz Hinweis des BGH kein Thema – oder der Motivation des Angeklagten und weiterer Beteiligte wurden wie im Dessauer Urteil kategorisch ausgeschlossen. Damit wurden wiederholt die Verfahren und alle – zumindest noch – auf den Tisch gekommenen Erkenntnisse für überflüssig und nichtig erklärt. Offensichtlich war das Ziel des Verfahrens mit seiner Eröffnung erfüllt: Der Mord an Oury J. ist nun rechtsstaatlich genehmigt.
Der koloniale Prozess
Als die Europäer_innen begannen die Welt zu kolonialisieren und die Menschen einzuteilen, haben sie wie heute darauf Wert gelegt, ihre Ansprüche und Weltsicht in der Rechtsform allgemeingültiger und anonymer Verordnungen und Gesetze zu formulieren. Dem dafür nötigen Gewaltapparat, ob als „Schutztruppen“, Militär oder Polizei, wurde und wird das Zielobjekt der Kontrolle und Verfolgung ausländerrechtlich definiert, deren Todesopfer einkalkuliert sind. Kommt es zu denen, sorgen der ansonsten geachtete „Korpsgeist“ und der Schutz durch die anderen Gewalten dafür, dass der Betrieb von Abschiebung und Entrechtung weiterläuft. Die zivilen Damen und Herren im Gericht waren sich jahrelang nicht zu dumm, autorisiert durch ihr Amt die Behauptung und die Lügen über den Tod von Oury Jalloh zu übernehmen, zu verbreiten und zu untermauern. Nach seiner Ermordung wurde und wird Oury J. kontinuierlich weiter verhöhnt: Sein Leben und sein Tod werden übergangen, ignoriert und relativiert. Für die Protagonist_innen der kolonialen Macht existiert er als Projektion ihrer Rechtfertigung und wird darüber hinaus totgeschwiegen, so wie alle menschlichen Abgründe, die hinter den Mauern der Polizei zu deren Normalität gehören und zu Oury´s Tötung führten. In den Gerichten, in denen davon eine Ahnung zu erhalten war, wurde das Urteil in lapidare Worte gefasst, das schon am 7.1.2005 in und über der Zelle Nr. 5 über Oury J. gefällt und exekutiert worden ist. Diese Menschen aus der zivilisierten Welt sind in ihren diversen Uniformen auf die Erniedrigung der anderen, von ihnen definierten „Kultur“ angewiesen, um sich im Recht zu fühlen. In den Gerichtssälen haben die aussagenden Polizist_innen nicht nur ihre „Wahrnehmung“ der Menschen aus den kolonisierten Ländern und Praxis ihnen gegenüber vorgeführt, sondern auch darin Recht bekommen. Die Gerichte bemühten sich schließlich, aus dem Vorwurf der Fahrlässigkeit jede Absicht und Einstellung des Angeklagten herauszunehmen: „Wenn jemand aus welchen Gründen auch immer der Freiheit beraubt wird, ist auf ihn aufzupassen“ (Methling). Da das koloniale Bewusstsein und Recht Grundlage der deutsch-europäischen Gesellschaft ist, wird in Zeiten, in den statt von „Rassen“ von „Kulturen“ und „Herkunft“ gesprochen wird, der Rassismus der Polizei per Gericht für ausgeschlossen erklärt. Die weiße europäische Klassifizierung nach Herkunft und Hautfarbe führt seit 500 Jahren beharrlich dazu, dass sie sich bei der rechtlichen Abhandlung auch der Morde durch Polizist_innen von Laye Condé, Mareame Sarr, Slieman Hamade, Amir Ageeb, Dominique Koumadio, Maxwell Itoya, Halim Dener, Joseph Chiakwa, Semira Adamu, Osamuyia Aikpitanhi, Samson Chukwu, Christy Schwundeck, Achidi John, Mohammad Sillah, Joy Gardner, Marcus Omofuma, Seibane Wague u.a.m. in der Legitimierung der Täter_innen bestätigt. So wie die rassistische Kriminalisierung, Verachtung und institutionelle Gewalt durch das koloniale Recht kodifiziert sind, werden auch durch die Gerichte dem Migranten Oury Jalloh aus Sierra Leone Leben und Respekt verweigert. Das Urteil ist gesprochen. Doch die Erinnerung an Oury J. wird immer wiederkehren so wie der Kampf um ein Leben in Würde, eine eigene Stimme und gegen die Isolierung, Entrechtung und Deportation. Die Erinnerung an ihn bleibt in unseren Seelen.
Marc
In Kooperation mit Flüchtlingsbewegung Sachsen-Anhalt, linker Medienspiegel (Radio Corax