Koloniale Praktiken in wissenschaftlichen Diskursen und der deutschen Integrationspolitik
Kien Nghi Ha
Vortrag auf dem Auftaktpodium zum Schwerpunktthema "Migration – Kolonialismus": Kontinuitäten und Brüche: Innere und äußere Kolonisierung und antikolonialer Widerstand, BUKO 29, 26.5.2006, TU-Berlin
Schweigen als sekundäre Kolonialisierung
Kolonialismus ist in Deutschland – sobald er als kritische Analysekategorie und nicht wie gewohnt als ideologischer Gewaltapparat gebraucht wird – ein unnahbarer Begriff, der lange Zeit sorgsam ver- und gemieden wurde. Wie die Rassismuskritik löst die Erinnerung an kolonialen Unterdrückungen bei Weißen das Bedürfnis nach Distanzierung und Verdrängung aus. Meist schlagen sich solche Entlastungsstrategien in der Sehnsucht nach einem endgültigen Schlussstrich nieder. Die Weigerung der deutschen Dominanzgesellschaft sich mit den kolonialen Grundlagen ihrer eigenen Kulturgeschichte und politischen Identität auseinander zu setzen, hat weitreichende Folgen.
Sie reflektiert einen Prozess, in dem weder die Unterwerfung des Anderen noch die Frage nach der kolonialen Konstitution der deutschen Nation zur Sprache kommt. Entsprechend steht auch das Fortwirken dieses Machtfeldes auf die gegenwärtige Verfassung der deutschen Gesellschaft nicht im Fokus der Debatte. Diese Frage wird um so mehr für unzulässig erklärt, je stärker der Blick auf das gebrochene, aber uneindeutige Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf den Zusammenhang von äußeren und inneren Zwängen, kurz auf die ungeklärte Aktualität deutscher Kolonialkultur gelenkt wird. Bisher hat das gesellschaftliche Schweigen, das Verschweigen, das Totschweigen das Feld des notwendig Sagbaren weitgehend verdrängt. Das Schweigen ist eine bewusste Amnesie, und die Amnesie ist eine politische Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses. Daher ist das konsensuale Schweigen eine dominante Machtartikulation, die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung imperialer Praktiken und Bilder durch Entinnerung aktiv widersetzt und nur durch Gegen-Erzählungen aufgebrochen werden kann. In ihren totalisierenden Dimensionen kann sich die Macht des Entinnerten zu einer sekundären Kolonialisierung verdichten. Damit bezeichne ich die Kolonialisierung des historischen Wissens und der Erinnerung, die den primären kolonialen Praktiken der Landnahme, Vertreibung, Ausbeutung und Beherrschung folgt. Die sekundäre Kolonialisierung bezeichnet keine Leerstelle, sondern eine gesellschaftliche Dynamik der Wissensproduktion, die immer wieder durch einen Set von Machtpraktiken hergestellt wird. In ihr werden nicht nur die Kontinuitäten, Übergänge und Brüche, sondern auch die realgeschichtliche Kolonialisierung selbst immer wieder neu mit einem weißen Schleier des Schweigens und Vergessens überzogen. Auf der anderen Seite werden Schwarze Subjekte, die oftmals auch als Opfer widerständig gehandelt haben, durch die Täterverehrung in den hegemonialen Diskursen erneut viktimisiert. Indem die diskursiven Mittel zur Bezeichnung kolonial eingefärbter Realitäten tabuisiert werden, bleibt die gesellschaftliche Macht- und Infrastruktur jener kolonialen Präsenzen verborgen. Durch diese erinnerungspolitische und geschichtsmächtige Weißwaschung der Geschichte wurde eine komfortable Scheinwelt für privilegierte MetropolenbewohnerInnen aufgebaut und stabilisiert.
Wissenschaftliche Beiträge zur Reproduktion kolonialer Bilder und Hierarchien
Da wir uns in einer Bildungsinstitution mit einer durchaus wechselhaften Geschichte befinden, möchte ich zunächst auf das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Diskursen und der Produktion kolonialer Geschichtsbilder eingehen. Wie weitreichend die deutsche Unfähigkeit bei der Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte ist, lässt sich symptomatisch am Bedarf an wissenschaftlicher Entwicklungshilfe ablesen. An den deutschen Universitäten spielte die Auseinandersetzung mit dem einheimischen Kolonialismus meist nur eine unbedeutende Rolle. Obwohl die westdeutsche Geschichtswissenschaft erst im Zuge der Ausbreitung antikolonialer Befreiungsbewegungen Ende der 1960er-Jahre anfing sich mit dieser Epoche auseinander zu setzen, erlahmte bereits Mitte der 1970er-Jahre wieder das Forschungsinteresse. Bis Ende der 1990er-Jahre wurde – wenn überhaupt - nur vereinzelt in diesem Bereich geforscht. In den seltenen Fällen, in denen deutsche Wissenschaftler sich zum Kolonialismus äußerten, waren sie wiederum nicht selten in der Produktion kolonialer Geschichtsbilder verstrickt. Es geht dabei um die Definitionsmacht über Geschichtsbilder. Je nach dem, wer welche Geschichtserzählungen perspektivisch durchsetzen kann, werden gegensätzliche Konsequenzen daraus abgeleitet. Bspw. ist die Beurteilung der Auswirkungen der deutschen Kolonialgeschichte und der Legitimität kolonialer Praktiken in der BRD ein durchaus umstrittenes Feld. Rudolf von Albertini, der zu den renommierten deutschen Fachhistorikern zählt, schrieb noch 1982: "Trotz des Risikos, als Apologet des Imperialismus zu erscheinen, halte ich daran fest, daß die Kolonialzeit für die Kolonialisierten eine Phase der Modernisierung bedeutet hat. Die Befriedung, d.h. die Verhinderung intertribaler Kriege […] die Bildung größerer territorialer Einheiten, moderne Verwaltung, Kommunikationssystem und wirtschaftliche Mise en valeur [Erschließung] gehören ebenso dazu wie Schulwesen und Sanitätsdienste".
Welche Form die etablierte Kolonialkultur in der BRD annahm, möchte ich an einem weiteren Beispiel aus der Wissenschaft verdeutlichen. Heinz-Dietrich Ortlieb war bis zu seiner Emeritierung als Professor der Volkswirtschaft an der Universität Hamburg und bis 1978 auch als Direktor des renommierten Hamburger Instituts für Wirtschaftsforschung tätig. Im gesicherten Ruhestand konnte er seine Überzeugungen in einer einschlägigen Publikation nunmehr ohne Rücksicht auf offizielle Ämter offenbaren. Bereits der Titel der Festschrift »Hundert Jahre Afrika und die Deutschen« suggeriert, dass Afrika erst mit der heroischen Tat der Kolonialisierung in die Weltgeschichte eintreten sei und erschien 1984 anlässlich der 100-Jahrfeier der >Deutschen Afrika Stiftung<. Ortlieb schreibt darin: "Ausbeutung, Unterdrückung und sonstige Untaten, bei denen heutige Kritiker gern besonders nachhaltig und genüsslich verweilen, sind selbst in den extremsten Fällen nicht schlimmer gewesen als das, was schwarze Stämme sich selbst immer wieder angetan haben. Das eigentliche Problem der europäischen Kolonialherrschaft liegt viel eher gerade in ihren positiven, aber unvollkommenen Leistungen […] Das eigentliche Versagen der Kolonisatoren [besteht darin] Völker fremder Kulturen aus dem ökologischen Gleichgewicht ihrer eigenen Lebensformen herauszureißen, um sie sich dann selbst zu überlassen".
In seinen Beitrag, der unbeirrt die zivilisatorischen Errungenschaften der Kolonisation verteidigt, sind die sozialdarwinistischen Argumentationsmuster und Bilder aus dem 19. Jahrhundert lebendig geblieben. Wir finden eine bizarre Mischung aus völkischen Biologismus und blanken Kolonialrassismus, der mit Images minderwertiger, primitiver wie grausamer Naturvölker in Afrika operiert, die nicht über den Entwicklungsstand unselbständige Kinder hinaus gekommen seien. Angesichts des Genozids an den Herero und Nama sowie der brutalen Niederschlagung des Maji-Maji Aufstands in >Deutsch-Ostafrika<, die von 1905 bis 1907 bis zu 300.000 AfrikanerInnen das Leben kostete, wirkt die Beschwörung der unvollkommen Leistungen westlicher Kolonialherrschaft schlicht menschenverachtend. Ortliebs Konzept für die Gestaltung der internationalen Beziehungen lautet: »Um eine realistische Welt- und Entwicklungspolitik treiben zu können, wozu auch immer Machtpolitik gehören muß«, sollten sich der Westen von der »egalitären Weltideologie« verabschieden und in Afrika einen »Mentalitätwandel« herbeiführen, um Arbeitsdisziplin zu ermöglichen.
Eine andere Strategie sich der >Bürde des weißen Mannes< zu entledigen, besteht darin die Bedeutungslosigkeit der deutschen Kolonialepoche zu suggerieren und den Kolonialterror zur Tugend umzudichten. So bezeichnet der Potsdamer Geschichtsprofessor Manfred Görtemaker »den Umfang und die Bedeutung des deutschen Kolonialbesitzes als bescheiden«. Sein Fazit lautet: "Bei Licht gesehen, war alles hübsch bescheiden. Nirgendwo ein Indien, ein Indochina oder ein Kongo. Und keine Reichtümer, keine Schätze. Nur ein bißchen Kupfer und ein paar Diamanten in Südwestafrika. Nichts, was der deutschen Wirtschaft zu Hause neue Impulse hätte geben können, wenn sie es gebraucht hätte. Was blieb, waren große Worte".
Noch unseriöser wird diese beschönigende Darstellung, wenn Görtemaker in seinem wohlwollenden Kurzportrait Carl Peters durchgängig als »Afrikaforscher« aufwertet und Paul von Lettow-Vorbeck als kolonialen Weltkriegsheld inszeniert. Die Kolonisierten sind hingegen weder als handelnde Subjekte noch als Opfer der Erwähnung wert. Selbst der Genozid an den Herero und Nama wird verschwiegen. Nichtsdestotrotz wurde dieses Buch von der >Bundeszentrale für politische Bildung< durch Sonderauflagen großzügig gefördert und erreichte 1995 die fünfte Auflage. Solche Geschichtsbilder rufen anscheinend keinen Widerspruch hervor, sondern wurden von der offiziellen Kultur umarmt. Letztlich geht es darum zu suggerieren, dass deutsche Kolonialpraktiken einer abgeschlossenen Periode angehören, auch schon damals kaum gesellschaftliche Relevanz entwickelten und >richtig< angewendet durchaus sinnvoll sind. Als geistige Produkte des bundesrepublikanischen Kultur- und Wissenschaftslebens sagen solche Perspektiven viel über die ideologischen Hinterlassenschaften und den Zustand dieser Gesellschaft aus. Sie sagen uns, dass die Frage nach der Kontinuität kolonialer Blicke aktuell ist.
Angesichts der nicht existierenden bzw. desaströsen wissenschaftlichen Ansätze kamen kritische Anstöße für eine ernsthafte Aufarbeitung des deutschen Imperialismus zunächst weniger aus den hiesigen Universitäten, sondern vor allem von den transatlantischen Black Diaspora Studies, den anglo-amerikanischen German Studies und der transnational ausgerichteten postkolonialen Kritik. In der BRD hat die Zahl der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten zu diesem Themenbereich in den letzten Jahren zugenommen. Allerdings erfolgt diese diskursive Konjunktur als nachholende Bewegung vor einem Hintergrund, der die langanhaltende akademische Marginalisierung und gesellschaftliche Unerwünschtheit dieses Themas dokumentiert. Aufgrund dieser Situation hat sich ein erheblicher Bedarf an Defizitdeckung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft angestaut sowie eine enorme zeitliche Verspätung der Grundlagenforschung ergeben.
Innerhalb dieser neueren kolonialhistoriographischen Wissensproduktion haben sich bisher zwei Beschränkungen als strukturbildend und trendsetzend herausgestellt. So beschäftigt sich die kolonialhistorische Forschung meist nur mit der Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete, wodurch der wechselseitige und dialektische Prozess von äußerer Fremd- und innerer Selbst-Kolonialisierung aufgespalten wird und die Produktion entgrenzter Räume im Prozess der Kolonialisierung unterbelichtet bleibt. Die wenigen Arbeiten, die die Auswirkungen der imperialistischen Expansion auf die deutsche Gesellschaft untersuchen, verbleiben innerhalb eines historischen Untersuchungs- und Deutungsrahmens, der meist von 1884 bis 1918 und in selteneren Fällen bis 1945 reicht. Studien, die die Kontinuität und Transformation kolonialer Denkweisen, Bilder und Strukturen bis in die gegenwärtige Bundesrepublik hinein analysieren, sind sehr selten und finden sich am ehesten im Bereich der Medien- und Filmanalyse. Solange die Überlagerung ineinanderlaufender Zeit- und Gesellschaftsentwicklungen kein Thema ist und die wissenschaftliche Aufarbeitung rein historisch verbleibt, solange können die Einflüsse kolonialer Effekte auf die rassistischen Konditionen der deutschen Gegenwartsgesellschaft nicht in den Blick genommen werden. Geschichte nicht als offenes und dynamisches Feld zu begreifen, bedeutet die Aktualität kolonialer Präsenzen als Fragestellung nicht zuzulassen. Bisher werden auch in der kritisch intendierten deutschen Rassismusforschung die kolonialen Ursprünge und Elemente rassistischer Herrschafts- und Gewaltformen nur unzureichend beachtet und in den Analyserahmen einbezogen. Die historische Materialität und Verschränktheit kolonialrassistischer Macht- und Ausbeutungspraktiken zu übersehen, trägt dazu bei die Chancen für ein vertieftes Verständnis heutiger Konfliktlagen nicht zu nutzen. Gerade aus der Verschränkung unterschiedlicher Zeitlichkeiten und der Überlappung räumlicher Interaktionsprozesse ergeben sich jedoch neue Einsichten und politische Ansatzpunkte der Intervention.
Integrationspolitik als koloniale Praxis
Am Beispiel der deutschen Integrationspolitik möchte ich nun den Zusammenhang zwischen Migration und kolonialer Praxis erörtern. Am 1. Dezember 2004 hat das rot-grüne Bundeskabinett die vom Innenminister Otto Schily vorgelegte ”Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler” verabschiedet. Im Kern schreibt die Integrationskursverordnung (IntV), die gemeinsam mit dem neuen Zuwanderungsgesetz zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, weniger das Recht als die nach § 44 des neuen Aufenthaltsgesetzes auferlegte Pflicht zur Teilnahme an einem penibel überprüften Sprach- und Orientierungskurs vor. Bereits 2005 sollen jährlich 138.000 Neuzugewanderte in insgesamt 630 Lernstunden diese zweite Sozialisationsinstanz durchlaufen, um nach erfolgreicher Prüfung das vom Goethe-Institut entwickelte Sprachdiplom Zertifikat Deutsch zu erwerben und ihre politische Gesinnung zu kontrollieren. Im Bundeshaushalt 2005 waren öffentliche Investitionen in Höhe von 208 Mio. für den Ausbau der Integrationsindustrie geplant. In den nächsten fünf bis sechs Jahren sollen 280.000 bis 336.000 bereits in Deutschland lebende MigrantInnen – sog. "Bestandsausländer" - an diesen Pflichtkurse als nachholende Integration teilnehmen. Für diese Aufgabe werden nochmals 380 Mio. bis 456 Mio. Euro veranschlagt.
Anstelle von Angeboten auf freiwilliger Basis wird mit dieser staatlichen Anordnung erstmals im Aufenthaltsrecht (ehemals Ausländergesetz) der Grundsatz des Integrationszwangs als nationalpädagogisches Machtinstrument für die kulturelle (Re-)Sozialisierung und politische Umerziehung migrantischer Subjekte institutionalisiert. Entscheidend ist dabei, dass die Integrationskurse ausschließlich für Migrierte aus Nicht-EU-Ländern zwingend sind. Während UnionsbürgerInnen in Deutschland allein aufgrund von passiven Zugehörigkeitsmerkmalen alle Privilegien zur sozialen, ökonomischen und politischen Partizipation wahrnehmen, müssen sich alle anderen Eingewanderten bereits den Anspruch auf Aufenthalt durch einen aktiven Nachweis ihrer sog. Integrationsfähigkeit erarbeiten. EU-Angehörige brauchen keine negative Sanktionen zu fürchten. Von den repressiven Auswirkungen sind ausschließlich migrantische Gruppen aus den postkolonialen Staaten des Trikonts und insbesondere muslimische Communities betroffen. Da die Umerziehungsmaßnahmen in spezifischer Weise postkoloniale MigrantInnen betreffen, sind koloniale Kontexte, Analogien und Konfigurationen im Konzept der Integrationsverordnung bei der Analyse zu berücksichtigen. Integration als Akt der politischen Kontrolle, kulturellen Überprüfung und juristischen Zertifizierung wirft besonders in seiner hoheitsamtlichen Form und massenwirksamen Funktion weitreichende Fragen auf. Sie betreffen sowohl die identitätspolitischen Selbstvergewisserungsstrategien der deutschen Dominanzgesellschaft als auch jenes post-/koloniale Machtverhältnis, das sich in der selektiven Migrations- und Integrationspolitik artikuliert.
So ist zu fragen, inwieweit die auf Zwang basierende Integration eine Form der Aneignung ist, die die produktiven und kulturellen Ressourcen des postkolonialen Anderen einverleibt. Wie die Zuwanderungsdiskurse der letzten Jahre zeigen, legt die deutsche Mehrheit vor allem Wert auf die effiziente und reibungslose Verwertung nützlicher ArbeitsmigrantInnen. Um als Nation im globalen Standortwettkampf bestehen zu können, wird die Modernisierung Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft als notwendig erachtet. So empfiehlt die Unabhängige Kommission Zuwanderung (2001) junge, hochqualifizierte und leistungsfähige VIP-MigrantInnen durch ein Punktesystem auszuwählen. Eine solche Politik revitalisiert koloniale Ordnungen, Arbeitsteilungen und Denkmuster, in denen die Existenz des Anderen nicht zuletzt der metropolitanen Interessens- und Bedürfnisbefriedigung dient. Dadurch werden Analogien zu den Anfängen der nationalstaatlich organisierten Arbeitsmigrationspolitik im Wilhelminischen Kaiserreich wachgerufen, die kolonialen Mustern folgen. In ihrer Ein- und Unterordnungsfunktion ergänzen die Integrationskurse die arbeitsmarktpolitischen und nationalökonomischen Zielsetzungen des neuen Zuwanderungsgesetzes, das die ‘guten’, d.h. gehorsamen und lernwilligen von den ‘schlechten’, d.h. vermeintlich integrationsunwilligen bzw. integrationsunfähigen MigrantInnen zu trennen sucht. In den Integrationskursen wird die kulturelle Adaptionsfähigkeit und politische Zuverlässigkeit der MigrantInnen ermittelt und als mitentscheidendes Kriterium bei der Vergabe von Aufenthalts- oder Abschiebungstiteln herangezogen. Die Integrationsmaschinerie stellt sich als eine staatliche Sanktionspraxis dar, die auf die Regulierung migrantischer Inklusions- wie Exklusionsprozesse zielt.
Im offiziellen Integrationsdiskurs sind soziale Realitäten wie struktureller Rassismus, institutionelle Diskriminierungen und sozio-kulturelle Ausgrenzungen durch die deutsche Gesellschaft kein Thema. Indem die rassistischen Einschreibungen dieser Gesellschaft unsichtbar gemacht werden, entfallen wichtige Ausgangspunkte für ein machtkritisches Verständnis von Migration, Rassismus und Integration. Stattdessen werden die migrantischen Anderen in hegemonialen Diskursen analog zum kolonialen Anderen per Definition als defizitär vorgeführt. Die positiven Konnotationen staatlicher Integrationspraxis stehen in einem krassen Gegensatz zu ihren repressiven und kolonialen Zügen. Die gewaltsame Integration in die Nation negiert in eklatanter Weise das kulturelle und politische Selbstbestimmungsrecht der migrantischen Subjekte. Statt dessen herrscht ein Blick vor, der sie als gefügige Verwaltungs- und Zugriffsobjekte nationalstaatlicher Agenturen unterwirft. Das neu geschaffene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist jetzt ermächtigt eigenwillige MigrantInnen, die sich nicht ergeben an den deutschen Integrationskurs anpassen, durch weitreichende Maßnahmen zu bestrafen. Neben der Weigerung an den Integrationskursen teilzunehmen, können auch unzureichende Prüfungsergebnisse zu negativen Sanktionen führen. Die Formen der Bestrafung können von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft über die Kürzung der sozialen Grundsicherung (§ 44a Abs. 3 AufenthG) bis zu aufenthaltsrechtlichen Benachteiligungen (§ 8 Abs. 3 AufenthG) wie etwa der Ausweisung reichen. Auf diese Weise wird Integrationsunfähigkeit zu einer juristischen Kategorie des Strafrechts. Der verdächtige Migrant, dem kulturelle Rückständigkeit und soziale Korrekturbedürftigkeit diagnostiziert wird, befindet sich durch den Integrationskurs in einem langwierigen Zustand systematischer Untersuchungen und Befragungen. Da der Verdacht und nicht die gesellschaftliche Bereitschaft zur kulturellen Anerkennung und rechtlich-politischen Gleichstellung den Ausgangspunkt der Integration bildet, können sich die unfreiwilligen Integrationskurse zu Orten einer temporären 630stündigen Untersuchungshaft verwandeln.
Die Integrationsverordnung zeigt in ihren grundsätzlichen Annahmen, dass migrantische und Schwarze Subjekte vom deutschen Gesetzgeber - analog zur tradierten Praxis der deutschen Ausländerpolitik wie der kolonialen Kategorisierung des Anderen - als defizitäre und deviante Objekte definiert werden. Sowohl das aktuelle Integrationskonzept als auch die historischen Strategien der Zivilisierung und Missionierung beruhen auf eine manichäische Differenzkonstruktion. Diese findet in der Herstellung des Dualismus zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt, rational und irrational, gut und böse ihre grundlegendste Voraussetzung. Dazu werden die Anderen in einem ersten Schritt ungeachtet ihrer inneren Komplexität und Heterogenität entindividualisiert, vereinheitlicht und negativ konnotiert. Anschließend werden diese zugeschriebenen Kollektivmerkmale in einem Gegensatzverhältnis zu den in der BRD gültigen Normen und Werten des Westens fixiert. Dadurch wird ein kolonialer Blick reproduziert. In diesem erscheinen die Anderen nicht als Träger unveräußerlicher Individualrechte oder als politische Subjekte mit einem Recht auf Selbstdetermination. Statt dessen setzt die Erziehung des kolonialisierten Anderen seine Infantilisierung und Entmündigung voraus. In dem Maße wie die dominante Macht ihn pädagogisch, politisch und kulturell sozialisiert, wird auch seine gesellschaftliche Existenz und Subjektwerdung autorisiert.
Die Integrationsverordnung geht davon aus, dass Migrierte im Gegensatz zu den anscheinend aufgeklärten und zivilgesellschaftlich vollentwickelten Deutschen die Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit nicht oder nur unzureichend verinnerlicht hätten. Indem die Integrationspolitik des deutschen Staates mit solchen kollektiven Negativeigenschaften operiert, verdächtigt sie immigrierte Individuen allgemein autoritärer, sexistischer wie fundamentalistischer Grundhaltungen und Verhaltensweisen. Offensichtlich arbeitet die deutsche Integrationspolitik mit Fremd- und Feindbildern von MigrantInnen, wodurch tradierte rassistische und orientalistisch-islamophobe Stereotype staatliche Anerkennung finden. Auf diese Weise werden Eingewanderte doppelt entwertet: Zum einen werden ihre kulturelle Kompetenzen negativ konnotiert, zum anderen werden der grassierende politische Extremismusvorwurf und der religiöse Fundamentalismusverdacht als Grundlage staatlichen Handelns legitimiert und generalisiert. Statt die Priorität auf den Abbau von strukturellen Diskriminierungsdynamiken und die nachhaltige Herstellung von gleichen Rechten zu legen, fördert die politische Rahmensetzung der rigiden Integration rassistische Praktiken. Das Stigma der Integrationsbedürftigkeit behandelt Migrierte wie Kinder oder Kranke, die auch als unmündig und unselbständig konzeptionalisiert werden. Da sie ihre wohlverstandenen Eigeninteressen nicht zu erkennen bzw. umzusetzen vermögen, sieht sich der deutsche Staat nicht nur berechtigt, sondern auch in der Pflicht ihre gesellschaftliche Aufgabe festzulegen. Wir befinden uns erneut in einer Situation, in dem es die Bürde des weißen Mannes ist den Anderen sein Glück in der Integration aufzuzwingen. Integration wird so zu einer gesellschaftlichen Unterwerfungs- und kulturellen Unterordnungstechnik.
Kien Nghi Ha ist Politikwissenschaftler mit den Arbeitsschwerpunkten postkoloniale Kritik, Migration, Rassismus und Cultural Studies. Neben zahlreichen Aufsätzen über kulturelle Entgrenzung, Identitätspolitik und koloniale Präsenzen hat er auch Bücher veröffentlicht: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs (1999/2004), Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus (2005), Vietnam Revisited (2005). Homepage: www.ethnicity.de.vu