Residenzpflicht: Verhandlung von Ahmed Sameer in Gotha
Amtsgericht Gotha, 21. Juni 2004: Protokoll der Verhandlung von Ahmed Sameer. Die Verhandlung beginnt mit den üblichen Fragen der Richterin nach Personalien, dem Status, der Lebenssituation (126 EUR in Lebensmittelgutscheinen, 40 EUR in bar). Der Staatsanwalt verliest die Anklage: drei Verstöße gegen die Residenzpflicht. Dabei liest er so schnell und nuschelt absichtlich so stark, dass niemand etwas versteht. [Bemerkenswert ist, dass er es anscheinend nicht lächerlich findet, die auf den Meter genaue Kilometerangabe vorzulesen: 258,2 km !]
Die Richterin fragt Ahmed Sameer, ob die Punkte der Anklage der Wahrheit entsprechen. Er bejaht. Ulrich von Klinggräff bittet, die Gründe seines Mandanten anzuhören.
Ahmed Sameer erklärt, dass er aus dem von Israel besetzten palästinensischen Ort Jenin geflohen ist [den die Richterin Luckert übrigens falsch ausgesprochen hat: ‚Genin']. Er führt aus, dass er schon in Israel unter „räumlichen Beschränkungen“ leiden musste. So durfte er Jenin nicht verlassen, um seine Familie in Jerusalem zu besuchen. Er sei in der Hoffnung auf ein freies Leben nach Deutschland geflohen und könne es nicht fassen, dass er jetzt in Deutschland wieder eingesperrt sei, obwohl er sich keines Verbrechens schuldig gemacht habe.
[Anmerkung: Die Übersetzerin ist schlecht, sie macht sich keine Notizen, spricht sehr stockend und muss öfter aus Verständnisgründen bei Ahmed Sameer nachfragen, der mit verständlicher Ungeduld noch einmal erklärt. Anscheinend hat die Übersetzerin sich nie mit der Materie beschäftigt: Sie muss z.B. vier Mal nachfragen, bis sie sich die Namen „European Social Forum“ oder „The Voice Refugee Forum“ merken kann - offensichtlich hat sie noch nie davon gehört und kann auch nichts damit anfangen... Wie kann sie Gerichtsübersetzerin sein? Dürfte man die Verteidigung einen „eigenen“ vereidigten Übersetzer vorschlagen?]
Der Staatsanwalt scheint gemerkt zu haben, dass sich dieser Fall sich nicht schnell abhandeln lassen wird und lehnt sich [meiner Meinung nach demonstrativ] zurück und schlägt die Beine übereinander. Durch die zähe Übersetzung ziehen sich Herrn Sameers Ausführungen in die Länge, obwohl man sieht, dass er selbst hoch konzentriert, präzise und drängend spricht. Richterin Luckert unterbricht Ahmed Sameer nach ca. 5 min. [ungeduldig]: „Das gehört doch nicht zum Sachverhalt!“
Residenzpflicht: Verhandlung von Ahmed Sameer in Gotha Daraufhin folgt ein längerer Wortwechsel zwischen der Richterin und Herrn Sameers Verteidiger Ulrich von Klinggräff (im Folgenden abgekürzt RA), der ihr entgegenhält: „Das gehört sehr wohl zum Sachverhalt. Bitte lassen Sie meinen Mandanten die Gründe ausführen, warum er gegen die Residenzpflicht verstoßen hat. Das wird etwas Zeit in Anspruch nehmen, aber es wird entscheidend zur Klärung beitragen. Ich kann Ihnen gleich sagen, dass die von Ihnen angesetzte halbe Stunde nicht ausreichen wird!“ R: „Ich kann diesen Prozess auch hier abbrechen und vertagen. Er hat den Sachverhalt doch schon zugegeben.“ RA: „Das können Sie nicht, solange ich mein Fragerecht noch habe!“ An dieser Stelle bricht es plötzlich aus der Richterin heraus: „Herr Sameer ist als Gast in Deutschland und hat sich auch...“ Empörtes Aufraunen im Saal, sie bricht ab. RA: „Also, wenn ich das jetzt höre, dann bin ich fast soweit, einen Befangenheits-Antrag zu stellen. Ich wollte eigentlich nicht gleich diese Konfrontation in den Prozess hineinbringen, aber wenn ich so etwas höre...“ Richterin Luckert lässt Herrn Sameer weitersprechen, bemerkt [in meinen Augen säuerlich] zu Ulrich von Klinggräff: „Aber Sie hätten vorher anrufen können, um Bescheid zu sagen, dass es länger dauern wird. Das wäre kollegial gewesen.“ Ulrich von Klinggräff erwidert sinngemäß: „Das hätte ich nicht tun müssen. Sie hätten nicht nur eine halbe Stunde ansetzen dürfen! Es gäbe natürlich einen Weg, mit dem wir alle hier ganz schnell wieder draußen wären. Sie erkennen die Gründe meines Mandanten an und stellen das Verfahren wegen geringfügiger Schuld ein.“ Die Richterin antwortet sinngemäß: „Das kann ich natürlich nicht.“
Anschließend kann Herr Sameer fortfahren. Er schildert sein Entsetzen darüber, dass ein Land, das sich als ein demokratisches sieht, ein Gesetz hat, das sie Freiheit der Menschen derartig einschränkt. Die „Residenzpflicht“ gibt es in der ganzen europäischen Union nur in Deutschland. Er legt in den folgenden Ausführungen den Schwerpunkt auf seine politische Tätigkeit für Palästina. Er sagt, er würde alles tun, um seinem Land die Freiheit wieder zu geben, um dann auch zurückzugehen. Er betont, dass es ihm im Rahmen seiner politischen Tätigkeiten unmöglich ist, in Gotha zu bleiben. Er habe Freunde und Kontakte vom Norden bis zum Süden Deutschlands. Oft werden die Treffen spontan ausgemacht und schon deshalb sei eine Beantragung unmöglich. Herr Sameer schildert, wie unerträglich es für Asylbewerber ist, während der oft jahrelangen Dauer des Asylverfahrens an einen Landkreis gefesselt zu sein: „Sie dürfen nur dasitzen. Sie dürfen sich nicht bewegen, sie dürfen nicht arbeiten, sie dürfen nur dasitzen!“. Besonders die Ungewissheit über die Dauer und den Ausgang des Asylverfahrens sei unzumutbar. Auf Nachfrage der Richterin gibt Herr Sameer an, seit zwei Jahren in Deutschland zu sein und noch nicht einmal einen ersten Bescheid vom BAFL (. Bundesamt für (politische) Flüchtlinge.......................) erhalten zu haben.
Herr Sameer fügt darüber hinaus an, dass die Sondergesetze wie die ‚Residenzpflicht' geradezu Gesetzesüberschreitungen provozieren und die AsylbewerberInnen gegen ihren Willen zu Kriminellen machen. Das wiederum schüre den Rassismus in der Bevölkerung gegenüber den AsylbewerberInnen, weil man so ja seine Vorurteile anscheinend bestätigt findet. Als Beweis zeigt er einen Zeitungsartikel, der von der Kontrolle berichtet, die Herr Sameer und Freunde von ihm mitten auf der Autobahn erdulden mussten. Die Überschrift des Artikels lautet: „Ein Bus voll ausgebüchster Asylanten“ Herr Sameer findet [zu Recht], dass die Asylsuchenden hier wie Tiere behandelt werden. Abschließend kommt er auf den Widerspruch zu sprechen, dass ein demokratisches Land Gesetze hat, die gegen elementare Grundrechte, wie z.B. die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, verstoßen. Er endet mit den Worten: Natürlich sind wir Gäste in diesem Land, und wir respektieren das Gesetz, aber das Gesetz respektiert uns nicht!“ Er bittet das Gericht objektiv und gerecht zu entscheiden.
Richterin Luckert wendet sich an Herrn Sameer nach einigen Minuten peinlicher Stille, weil sie Angst hat noch mal vom RA so angefahren zu werden: „Das war's jetzt?“
Anschließend befragt Ulrich von Klinggräff (RA) seinen Mandanten zu den Anlässen, aus denen er die Residenzpflicht übertreten hat.
Herr Sameer gibt an, am 19. April 2003 in Hof zu dem 10jährigen Jubiläum von „The Voice Refugee Forum“ gefahren zu sein. Da es sich kurzfristig ergeben habe, blieb keine Zeit, einen ‚Urlaubsschein' zu beantragen. [Während er redet, zieht der Staatsanwalt irgendein Bildchen oder Kärtchen aus seinem Portemonnaie und betrachtet es]
Am 14. September hat er gegen das Ausreisezentrum in Fürth protestiert. Und wurde auf der Hin- und Rückreise kontrolliert.
Der RA fragt nach, ob er also in Verbindung mit seinen politischen Aktivitäten gegen die „Residenzpflicht“ verstoßen hat. Herr Sameer bejaht. Bis auf einmal, als er Verwandte besucht hat, seien seine Beweggründe, um Gotha zu verlassen, immer politische Aktivitäten gewesen. Er führt anschließend aus, dass er die Kontrollen durch die deutsche Polizei oft für rassistisch hält. Es würde Gesichtskontrollen geben. Seine Tante, die seit 18 Jahren in Schweden lebt, sei dort kein einziges Mal kontrolliert worden, aber während der einen Woche, die sie ihn in Deutschland besucht hat, gleich zwei Mal. Dann kommt er auf den Unterschied zwischen deutschen und französischen Behörden zu sprechen. Im November 2003 ist er zum Europäischen Sozialforum nach Paris gefahren. Er kam in eine französische Kontrolle, wurde über Nacht festgehalten. Als sich aber herausstellte, dass er im Rahmen einer politischen Tätigkeit zum ESF reise, sei der Chef der Polizeistation am Morgen zu ihm gekommen, um sich zu entschuldigen. Er habe ihm dann eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Tage ausgestellt. Herr Sameer fragt, warum in Frankreich und Deutschland eine politische Tätigkeit so anders bewertet wird. Er fügt hinzu: „Wenn sie mir nicht die elementaren Rechte zugestehen, dann händigen sie mir wenigstens meine Papiere aus, damit ich in einem anderen Land um Asyl bitten kann!“ [Wir werden später sehen, dass die Richterin, anstatt bestürzt zu sein, dass ein verzweifelter Mensch in Deutschland keine Hilfe bekommt, anscheinend Gefallen an dieser ‚Idee' der Ausreise findet, und Frau Seidel von der Ausländerbehörde danach fragt]
Im Zusammenhang seiner nächsten Frage benutzt der RA die Formulierung „rassistische Sondergesetze“ was sofort einen Zwischenruf des STA zur Folge hat: „Wortwahl, bitte!“. Der RA bringt ruhig seine Frage zu Ende, ob Herr Sameer seinen politischen Tätigkeiten auch in Gotha nachgehen könnte. Ahmed Sameer antwortet, dass die nächste Gruppe von „The Voice“ in Jena ist. In Gotha gäbe es für ihn überhaupt keine Möglichkeit, sich politisch zu betätigen. Man müsse beachten, dass die Arbeit von „The Voice“ und auch die palästinensische politische Aktivität bundesweit sei. Er habe bei der Ausländerbehörde beantragt, nach Hamburg verlegt zu werden, weil dort ein ausreichendes Netz von Freunden und politischen Aktivitäten vorhanden sei. Die Ausländerbehörde lehnte ab mit dem Hinweis, er könne gegen diese Entscheidung gerichtlich vorgehen. Ahmed Sameer berichtet, dass er durch die isolierte Situation in Gotha oft von Verzweiflung überwältigt wird. Von allen Seiten fühle er sich beobachtet und kontrolliert. Der RA reicht der Richterin ein ärztliches Attest ein, das sie verliest: Es bestätigt Herrn Sameers Aussagen. Die Ärztin spricht von einem „depressiven Syndrom“, Herr Sameer sei oft „von Todesangst getrieben“, was u.a. schwere Schlafstörungen zur Folge habe. Die Ärztin unterstützt die von Herrn Sameer beantragte Verlegung nach Hamburg, weil sie vermutet, dass ein Umfeld aus Freunden Herrn Sameers Zustand stabilisieren könnte.
Der RA fragt Herrn Sameer, ob er von Erfahrungen mit der Erteilung von „Urlaubsscheinen“ in der Ausländerbehörde Gotha berichten kann. Ahmed Sameer gibt an, dass es Praxis in Gotha ist, dass nur einmal im Monat ein Urlaubsschein ausgestellt wird. Dabei muss man eine Person und Adresse angeben, die man besuchen will. Wenn man einfach nach Jena fahren will, ohne eine Person zu besuchen, sei man also gezwungen zu lügen. Darüber hinaus werden im Normalfall höchstens drei Tage „Urlaub“ gewährt, das höchste, von dem er gehört hat, sei eine Woche. Das sei nicht viel, um beispielsweise seine Familie zu besuchen. Er bringt das Beispiel eines Mannes, dessen gesamte Familie (außer ihm) Asyl bekommen hat und in Bonn lebt, an. Wenn er die Familie sehen möchte, muss er einen „Urlaubsschein“ beantragen, kriegt aber meist nur einen über drei Tage, was bedeutet, dass er durch die lange Fahrt effektiv einen Tag Zeit mit seiner Familie hat.
Der RA fragt nach, ob politische Gründe für einen „Urlaubsschein“ anerkannt werden. Ahmed Sameer sagt, noch nie persönlich wegen politischen Gründen einen „Urlaubsschein“ beantragt zu haben. [der Beisitzer der STA grinst] Aber aus Berichten anderer weiß Herr Sameer, dass die Angabe von politischen Gründen die Erteilung eines Urlaubsscheins erschwere - wenn nicht gar unmöglich mache. Sogar, wenn man eine konkrete Einladung vorweisen kann.
Nun stellt der STA Fragen: „Haben sie in den drei Fällen, die hier zur Verhandlung stehen, einen Urlaubsschein beantragt?“ Ahmed Sameer: „Nein. Ich bin ein freier Mensch und lebe in einem freien Land!“ STA: „Haben sie überhaupt schon einmal einen Urlaubsschein beantragt?“ Ahmed Sameer: „Nein. Bis auf zwei Mal. Da war ich dazu gezwungen, einen Urlaubsschein zu beantragen, weil ich zum BAFL musste. Und dort wird niemand empfangen, der keinen Urlaubsschein hat.“ STA: „Keine weiteren Fragen.“
Nach der Pause wird Frau Seidel von der Ausländerbehörde Gotha vom STA befragt: „Wie oft hat Herr Ahmed Sameer einen Urlaubsschein bei Ihnen beantragt?“ Seidel (hat seine Akte auf den Knien und Ahmed nie persönlich gesehen): „Zwei mal“. STA: „Hat er die Urlaubsscheine in diesen Fällen bekommen?“ Seidel: „Ja, ohne Probleme.“ STA: „Schildern sie uns bitte, wie das Prozedere für einen Urlaubsschein abläuft.“ Seidel: „Der Asylbewerber kommt zum Schalter in der Ausländerbehörde und trägt seinen Wunsch vor. Dann bekommt er seinen Urlaubsschein.“ Es gibt angeblich weder Fristen noch Beschränkungen. STA: „Kann man auch kurzfristig einen Urlaubsschein beantragen?“ Seidel: „Natürlich. Man bekommt ihn ja sofort. Also, wenn sie heute noch irgendwo hin wollten, könnten sie jetzt den Urlaubsschein beantragen.“
Richterin Luckert: „Könnte Herr Sameer in einem anderen Land um Asyl bitten?“ [s.o.] Seidel: „Nein, die würden ihn sofort nach Deutschland zurückschicken, weil er ja hier schon Asyl beantragt hat.“
Ulrich von Klinggräff (RA): nachdem er ihr geschickt das Gefühl gegeben hat auf ihrer Seite zu sein (soll heißen: aus freien Stücken hätte sie diese Antwort so wahrscheinlich nicht gegeben) „Könnte es sein, dass es in der Ausländerbehörde Gotha ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dass nur einmal im Monat ein Urlaubsschein gewährt wird?“ Seidel: „Das kann sein...“ [!]
Es folgen die Plädoyers.
Der STA führt sinngemäß aus: „Herr Sameer, Ihre politische Tätigkeit in allen Ehren, aber Sie müssen die Gesetze einhalten, die hier gelten. Natürlich könnte man den alten 68er-Spruch in Betracht ziehen: ‚Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht'. Aber Sie stürzen demokratische Gesetze nicht, indem Sie dagegen verstoßen. Wenn Sie nur die Urlaubsscheine beantragt hätten, und sie wären Ihnen verweigert worden, dann hätten wir jetzt eine ganz andere Grundlage für diese Gerichtsverhandlung! Engagieren Sie sich auf dem demokratischen, politischen Weg für die Abschaffung dieses Gesetzes, die durchaus bedenkenswert ist. Machen Sie ihr Anliegen öffentlich.“ Er plädiert für 50 Tagessätzen à 3 Euro.
Ulrich von Klinggräff legt sinngemäß Folgendes dar: „Sie werden eingestehen, dass Ahmed ein besonderer Angeklagter ist. Er hat nicht versucht, sich herauszureden. Sie haben von ihm kein Rumgedruckse gehört. Er lehnt es grundsätzlich ab, ‚Urlaubsscheine' zu beantragen, weil er dieses Sondergesetz für AsylbewerberInnen nicht akzeptiert. Mein Mandant hat verschiedenste Gründe dafür angeführt, u.a. die unerträgliche Länge des Asylverfahrens. Ahmed Sameer hat deutlich gemacht, dass er die Sondergesetze mit den Apartheits-Gesetzen in Südafrika vergleicht, wo die Schwarzen nicht in die Viertel der Weißen durften. Es ist unmöglich, jahrelang an einen Ort festgebunden zu sein. Insofern greift auch die Argumentation der Staatsanwaltschaft nicht: Um etwas zu erreichen, muss man bestimmte Normen verletzen, das hat nicht zuletzt die Erfahrung von ´68 gezeigt. Dass heute hier so viele Menschen im Publikum sitzen, zeigt an, dass diese Gesetze ins Interesse der Öffentlichkeit geraten sind. Er führt eine Großdemo mit 3000 Teilnehmern in Berlin an. Das Gericht ist sich sicherlich bewusst darüber, dass diese Zuschauer als Multiplikatoren in die Gesellschaft hinein funktionieren werden. Der Widerstand wird nun auch in die Gerichte hinein getragen. Das zeigt an, dass es von nun an, weniger nullachtfünfzehn-Verfahren von einer halben Stunde geben wird. Ich denke, alle in diesem Raum wissen, dass ein Asylbewerber natürlich nicht nach Belieben Urlaubsscheine beantragen und erhalten würde. Und ist doch allen klar, dass Ahmed Sameer nicht alle zwei Tage eine Erlaubnis bekommen würde. Die Aussage von Frau Seidel hat das hier noch einmal bestätigt. Richtet sich an den SA und sagt, dass diese ungeschriebenen Gesetze über „Urlaubsscheine einmal im Monat wohl stimmen, denn (wendet sich zur Richterin) er ist ja schließlich nur Gast hier. Der Ausdruck „rassistische Sondergesetze“ war kein verbaler Ausrutscher sondern bewusst gewählt. Und ich weiß mich da in bester Gesellschaft. In Deutschland existiert ein ganzes Gesetzespaket, das die Rechte von AsylbewerberInnen beschneidet.“ Er zitiert aus einer Stellungnahme des UNHCR, des internationalen Flüchtlingshilfswerks, das sich besorgt über die „Zwangsinternierung von Flüchtlingen“ äußert, die einmalig in Europa ist um zu zeigen, dass man ihn nicht in die linksradikale Ecke drängen kann. Anschließend nennt er einen weiteren Grund: sinngemäß: wie mein Mandant schon richtig gesagt hat, existiert dieses Gesetz bereits seit mehreren Jahren, es gab jedoch einen Vorläufer, den ich Ihnen vorstellen möchte Er zitiert die Polizeiverordnung von 1938, deren Wortlaut im Bezug auf „räumliche Beschränkung“ dem Wortlaut des Asylverfahrensgesetz sehr ähnlich ist. Bis ins Strafmaß hinein gleichen sich die Nazi-Verordnung von 1938 und die der Residenzpflicht-Paragraph. Er geht noch mal auf den oben genannten Artikel ein, um die allgemeine Stimmung in Dtl. gegenüber „ausgebüxten Asylanten“ aufzuzeigen. Danach erinnert er die Richterin daran, dass es durchaus möglich sei, seinen Mandanten „verfassungsimmanent“ mit Blick auf die Paragraphen 5 und 8 des Grundgesetzes freizusprechen. Man könne einen „übergesetzlichen Notstand“ konstatieren. Er führt einen Gerichtsurteil an, bei dem ein Asylbewerber, der gegen die Residenzpflicht verstoßen hatte, mit Blick auf das Recht zur freien Religionsausübung freigesprochen wurde. Er schließt mit den Worten: „Aber nachdem, was ich hier gehört habe, mache ich mir keine Illusionen über den Ausgang des Verfahrens.“ Dazu bin ich Realist genug.
Ahmed Sameer wird von der Richterin gefragt, ob er auch noch etwas sagen möchte. Er sagt, dass er verwundert ist über den Staatsanwalt, der einen unschuldigen Menschen zu einer Strafe verurteilen will: „Wie können Sie nachts ruhig schlafen? Wenn ich hier verurteilt werde, dann weiß ich, dass die Gerichte zusammen mit den Behörden daran arbeiten, Flüchtlinge zu isolieren.“ Er fordert, dass Asylbewerbern ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird und als logische Konsequenz daraus die Abschaffung des Residenzpflichtgesetzes.
Die Richterin verkündet das Urteil. Ahmed Sameer wird der Missachtung der räumlichen Beschränkung für schuldig befunden. Sie insistiert auf dem Punkt, dass er Urlaubsscheine hätte beantragen können: „In den Fällen, in denen Sie Urlaubsscheine beantragt haben, haben Sie sie bekommen. Da war es Ihnen auch wichtig, denn Sie fuhren zum BAFL, es ging schließlich um Ihr Asylverfahren.“ Später wendet sie sich an Ulrich von Klinggräff: „In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht, Herr Sameer ist ein besonderer Mensch: Er hat nicht aus privaten Gründen die Residenzpflicht verletzt, sondern zu politischen Zwecken. Die Menschen, die hier sonst aus ähnlichen Gründen angeklagt sind, wollen ihre Familie besuchen.“ Sie spricht über die Gewaltentrennung in Deutschland zu Ahmed sagt sie, wie zu einem kleinen Kind: “Wir hier in Deutschland...“, ein Gericht könne nur nach den gültigen Gesetzen entscheiden, dürfe diese aber nicht anzweifeln oder ändern. Sie „rät“ ihm doch weiter Kundgebungen zu machen, um das Gesetz zu ändern, aber das Gericht sei die falsche Anlaufstelle. Die rhetorische Frage an Ahmed Sameer „Wie sie bestrafen?“ beantwortet sie sich selbst: „50 Tagessätze à 3 Euro.“
Akten-Zeichen: 940J112153-03 92D11 Tel. Gericht: 03621/215-228 Fax Gericht: 03621/215-100 Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff (RA) Richterin Frau Luckert (R) Staatsanwalt ... (STA) Beisitzer ... Übersetzerin Frau Schäfer
[Anmerkung: Persönliche Kommentare von Lea Hartung in eckigen Klammern]