Von der Thueringen Initiative Do_ Justice_ To_ Oury Jalloh
Offener Brief an den Dessauer Oberbürgermeister Herrn Koschig zum Interview „Zurück bleibt ein Scherbenhaufen“
Oberbürgermeister der Stadt Dessau-Roßlau Herr Klemens Koschig
Rathaus Dessau
Zerbsterstr. 4, 06844 Dessau-Roßlau
Telefon: 0340 204-2000
Telefax: 0340 204-1201
E-Mail: ob@dessau-rosslau.de
Sehr geehrter Herr Koschig,
aus Anlass Ihres Interviews, welches am 18.1. diesen Jahres in der Online-Ausgabe der Mitteldeutschen Zeitung unter dem Titel „Zurück bleibt ein Scherbenhaufen“ veröffentlicht wurde, möchten wir - bewusst mit etwas Abstand zu den sich ‚überschlagenden‘ Ereignissen in Ihrer Stadt - versuchen, Ihnen auf diesem Wege eine Rückmeldung von genau den Menschen zukommen zu lassen, die Sie als „Auswärtige“ phänomenalisiert haben.
Wir – das sind Menschen aus Jena, welche im Rahmen der Flüchtlings- und Migrant_Innen-Netzwerke „The VOICE Refugee Forum“ (Mitbegründer der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“), Plataforma Berlin, Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migrantlnnen und „BREAK ISOLATION Network“ für die Menschenrechte von Flüchtlingen kämpfen.
Anhand Ihres Interviews - explizit ohne den Anspruch auf Vollständigkeit – lässt sich Ihr persönliches Wirken und Verhalten mit Blick auf den Fall Oury Jalloh - wie folgt zusammenfassen:
Sie sind seit 2007 OB der zusammengeführten Stadt Dessau-Roßlau (vorher Bürgermeister von Roßlau) – haben den Dessauer Fall Oury Jalloh aus 2005 quasi ‚übernommen‘. Hierbei sind Sie mit dem „Phänomen, dass Auswärtige in Dessau-Roßlau demonstrieren – schon seit Jahren“ bekannt geworden.
Am 7.1.2012, dem bereits 7. Jahrestag des Todes von Oury Jalloh und im fünften Jahr Ihrer Oberbürgermeisterschaft haben Sie erstmalig - sowohl selbst, als auch gemeinsam mit dem (neuen) Polizeipräsidenten Herrn Schnieber - am Gedenken vor dem Polizeirevier teilgenommen.
Vom „Polizeieinsatz“ am 7.1.12 – insbesondere von der Eskalation unter dem (gerichtlich bereits anderweitig verifizierten) fadenscheinigen Vorwand der angeblich strafrechtlichen Relevanz des langjährigen Protestslogans „OURY JALLOH – DAS WAR MORD!“ – waren Sie vorher wohl nicht informiert und nachher „… schockiert und völlig überrascht …“, wobei Sie „… einräumen, dass …“ Ihnen eben jener Slogan als „… Transparent(e) und Ausruf(e)… sehr an die Nieren gegangen …“ sei.
Sie „…(brauchen) jetzt schnell … ein(en) Dialog aller Akteure“, obwohl „… sich die Bedingungen für Gespräche nach dem Polizeieinsatz deutlich verschlechtert“ hätten – nicht zuletzt weil „… die Gefahr (besteht), dass einige Akteure falsche Schlussfolgerungen ziehen“ könnten und Sie befürchten „dass Links- oder Rechtsextreme – beispielsweise aus Berlin – die derzeitige Situation ausnutzen und die Stadt Dessau-Roßlau verstärkt als Schauplatz wählen“ würden.
Nachdem Sie am 18.1.12 den tags zuvor bei einer Messerattacke eines senegalesischen Asylbewerbers verletzten André Schubert an seinem Krankenbett für dessen Zivilcourage lobten, wünschten Sie sich „…von dieser Seite (Anm.: „Schwarzafrikaner in der Stadt“) …auch ein starkes Zeichen… Einen Besuch des niedergestochenen Fußballers im Krankenhaus… (als) …tolles Signal, das einen Knoten durchschlagen könnte“.
Die sich seit 2008 hinziehenden Querelen um die Schaffung eines Integrationsbeirates bezeichnen Sie als „…eine (wirklich) leidvolle Geschichte“, bei der aber am 18.1.12 der „… Weg geebnet“ worden sei. (Quelle: mz-web.de 18.1.12 «Zurück bleibt ein Scherbenhaufen»)
Im Hinblick auf Ihre Aussagen möchten wir betonen, dass wir uns die Stadt Dessau nicht einfach mal so oder rein zufällig als „Demonstrations’Schauplatz‘“ gewählt haben, weil wir ansonsten nichts Wichtigeres zu tun hätten. In Dessau sind binnen fünf Jahren drei Menschen unter gewalttätigen Umständen gestorben, wobei in zwei Fällen die Opfer Schwarze waren und sich zwei der Fälle in der berüchtigten Gewahrsamszelle Nr. fünf des Dessauer Polizeireviers zugetragen haben.
Wenn Sie die Reaktionen der Bürger Ihrer Stadt in den online-Kommentarleisten von MDR und MZ anlässlich der Berichterstattung zu den jüngsten Ereignissen reflektieren, „imponieren“ hier vor allen anderen Stimmen besonders jene des Unverständnisses bezüglich der Aufregung um den Polizeieinsatz bis hin zu denen mit offener Feindseligkeit gegenüber Asylbewerbern / Ausländern im Allgemeinen und gegenüber den erinnernden Protesten im Falle Oury Jallohs im Besonderen. Hier reihen Sie sich mit Ihrer Qualifikation der Gedenkenden als „Auswärtige“, in Dessau nur einen „Schauplatz“ suchen würden, nahtlos ein.
Dem Mord an Alberto Adriano durch Wolfener (auswärtige!) Neonazis am 14.6.2000 gingen genau jene Diskussionen in der lokalen Presse voraus, die jetzt wieder als Begründung der Bürgermeinung dafür herhalten müssen, dass der Tod Oury Jallohs im Grunde ganz und gar zu rechtfertigen sei: „schwarzafrikanische Drogendealer!“.
Im Todesfall Mario Bichtermann (Bürger der Stadt Dessau!) 2002, der in derselben Gewahrsamszelle Nr. 5 nach Schädelbruch und stark alkoholisiert verstarb, resultierte lediglich eine interne Untersuchung ohne nachvollziehbare Konsequenzen oder öffentliche Anklage.
Die Parallelen zum Fall Oury Jalloh liegen in eklatanter Weise auf der Hand: dieselbe Zelle, dieselben Polizisten und erneut der Versuch mit konstruierten Thesen eine Anklageerhebung zu verhindern. Hinzu kommen hier offensichtliche Vertuschung und Manipulation von Beweismitteln sowie synchronisierte Erinnerungsverluste und nachgewiesene Falschaussagen von gerichtlich befragten Polizeibeamten!
Die bürgerliche Empörung in Ihrer Stadt genau darüber hält sich jedoch in Grenzen. Und vor dem Hintergrund der Befürchtung betrachtet, dass dieses - sich wiederholende - „Unglück“ trotz gerichtlicher Verhandlung erneut folgenlos bleibt, zeichnet es Ihre Stadt gerade nicht aus, dass die Mehrheit der trauernden und empörten Menschen eben nicht aus Dessau kommen und diese dann auch noch aus der Stadt heraus dafür geschmäht werden, angeblich den „Seelenfrieden“ der Dessau-Roßlauer zu „stören“ – wahrhaft ‚phänomenal‘!
So wurde auch Mouctar Bah – Freund des verbrannten Oury Jalloh, Mittler und Vertreter dessen Familie und Mitbegründer der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh – durch Behörden Ihrer Stadt und erneut mit der Begründung vom „schwarzafrikanischen Drogendealer“ über lange Jahre seiner geschäftlichen Lebensgrundlage beraubt, ohne dass die vorgeschobenen Anschuldigungen jemals auch nur einen Funken strafrechtlicher Wahrheitsrelevanz gehabt hätten.
Eben dieser Mouctar Bah ist andererseits von der Internationalen Liga für Menschenrechte für sein unbeugsames, in Ihrer Stadt aber auch immer für Vermittlung stehendes Engagement mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet worden. Er steht trotz vorhandener Meinungsunterschiede und trotz der erfahrenen Schikane in Kontakt mit den (wenigen!) Menschen ihrer Stadt, denen eine Aufklärung ebenfalls am Herzen liegt, sodass der von Ihnen erwähnte „Knoten“, den es zu „durchschlagen“ gilt, weder von ihm geknüpft noch anderweitig festgezogen wurde oder wird.
Auch das nennt man wohl Zivilcourage! Hier fehlt nach unserer Meinung eher Ihrerseits „ein tolles Signal“ (aus dem beklagten „Scherbenhaufen“ heraus), um den ohnehin begrenzten Dialog irgendwie am ‚Leben‘ zu halten!
Dass sich Dessau-Roßlau bei „Auswärtigen“ einen bestimmten Ruf erworben hat – vergleiche hierzu z.B. auch den Fall des „Jenaer Nazi-Trios“ – liegt eben nicht an böswilliger Phantasie, „übler Nachrede“ oder tendenziell einseitiger Berichterstattung durch die Medien.
Auch dass unser gemeinsame, ziviler Widerstand gegen staatliche Willkür und Gewalt mit den Brandschlägen unter mutmaßlicher Verwendung des Slogans „OURY JALLOH – DAS WAR MORD!“ in Verbindung gebracht wird, verärgert uns und folgt dem gleichen Muster der Kriminalisierung mit dem Ziel der Disqualifizierung derjenigen, die unbequem sind, weil sie nicht aufhören, auf unangenehme Wahrheiten hinzuweisen.
Wir fordern Sie daher auf, darauf hinzuwirken, dass die Verantwortung für Missstände in Ihrer Stadt, nicht bei denjenigen gesucht wird, die – sei es aus der Stadt heraus oder von außen kommend – unermüdlich darauf hinweisen.
Setzen Sie sich für echte Aufklärung im Fall Oury Jalloh ein, zu der auch gehört, dass die Möglichkeit, dass Oury Jalloh umgebracht wurde, nicht von vorneherein außer Betracht gelassen wird!
Sorgen Sie für ein Klima in der Stadt, in dem Rassismus keinen Nährboden hat – weder in der Bevölkerung noch bei den Behörden!
Gerechtigkeit für Oury Jalloh!
The VOICE Refugee Forum zu Oury Jalloh
https://thevoiceforum.org/node/2404
Thomas Ndindah, Jena, Tel.: +49176-99621504
Thueringen Initiative Do_Justice_To_Oury_Jalloh!
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