„Mörderische Abschottungspolitik“ der EU?
Schäuble entgegnet Vorwürfen auf dem Kirchentag / Diskussion über in
Seenot geratene Flüchtlinge aus Afrika
frs. BREMEN, 24. Mai. Auf die Bilder von verhüllten Leichen am
Mittelmeer spielten die schwarzen Müllsäcke an, mit denen
Demonstranten die Teilnehmer empfingen, die zur Podiumsdiskussion „SOS
– Menschen in (See-)Not“ gekommen waren. Sie stießen sich vor allem
daran, dass auch ein Vertreter der „Europäischen Agentur für operative
Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ gekommen war, besser bekannt als
Grenzschutzagentur Frontex. Diese sei Handlanger einer „mörderischen
Abschottungspolitik“ der EU. In der Diskussion wurde rasch deutlich,
dass es so einfach nicht ist.
Bislang haben vor allem Italien, Malta, Spanien und Griechenland die
Lasten der Migration über das Mittelmeer zu tragen. Innenminister
Wolfgang Schäuble (CDU), der auf dem Podium gastierte, gab sich indes
davon überzeugt, dass „am Ende eines Weges“ Migranten, die aus Seenot
gerettet wurden, nach einem bestimmten Schlüssel auf die EU-
Mitgliedstaaten zu verteilen seien. Dieser „Weg“ ist seit langem
bekannt als migrationspolitische Diskussion über eine „physische
Lastenteilung“; konkrete Vorstöße für einen Verteilungsschlüssel
blieben bisher ergebnislos, auch aufgrund der Furcht, dass großzügige
Regeln noch mehr Migranten anlocken. Auch Schäuble sagte, die
Bevölkerung sei „noch“ nicht so weit, das zeige etwa der Widerstand
gegen die Aufnahme der 2500 Flüchtlinge aus dem Irak. „Man muss die
Menschen davon überzeugen, dass Migration nicht ungesteuert erfolgt“,
sagte Schäuble. „Wenn die Toleranz der offenen Gesellschaft
überfordert wird, schlägt diese ins Gegenteil um.“
Der Minister nahm die Grenzschutzagentur wie deren anwesenden
Vertreter gegen Vorwürfe der Demonstranten in Schutz, bei den
Einsätzen der Agentur würden marode Boote auf hoher See zur Umkehr
gezwungen, der Tod der Migranten billigend in Kauf genommen. Der
Auftrag von Frontex sei klar: „Wenn jemand in Seenot ist, wird er
gerettet.“ Ob das auch in jedem Einzelfall geschehe, „muss man sehen“.
Der Frontex-Vertreter beteuerte: „Wir retten Menschen.“ Der Grund
dafür, dass im Verlauf der Debatte die Plakate allmählich weniger
wurden und schließlich ganz verschwanden, lag gewiss auch an den
Ausführungen des ehemaligen Innenministers von Togo, François Boko. Er
erklärte den Zuhörern, dass hausgemachte afrikanische Probleme –
Unterentwicklung und Verschwendung von Rohstoffen, Korruption und
Vetternwirtschaft, Kriege und Diktaturen – die Menschen auf ihre
gefährlichen Reisen trieben.
Auch Schäuble sprach nicht nur, wie stets in solchen Debatten, von den
Schlepperbanden, denen man das Handwerk legen müsse. Er hob hervor,
dass Migranten, die bei einem Frontex-Einsatz von einem Hubschrauber
der deutschen Bundespolizei aus Seenot gerettet würden, nach
Deutschland kommen dürften. „Ich werde mich wieder und wieder dafür
einsetzen, dass den Menschen geholfen wird“, sagte Schäuble.
Ein Vertreter der Nichtregierungsorganisation Pro Asyl kritisierte
besonders, dass es bislang „keine klare Ansage der EU-Kommission“ und
aus den europäischen Hauptstädten zur jüngsten italienischen
Initiative gebe, Flüchtlinge wieder nach Libyen zurückzubringen. Den
italienischen Vorstoß kommentierte Schäuble mit Rücksicht auf den
europäischen Partner und seine eigene Zuständigkeit nicht direkt,
genauso wenig wie das Strafverfahren gegen den ebenfalls bei der
Diskussion anwesenden deutschen Kapitän Stefan Schmidt. Dieser ist in
Italien angeklagt worden, nachdem er mit der „Cap Anamur“ 37
Flüchtlinge aus Seenot rettete. Schäuble machte jedoch aus seiner
Abneigung gegen das Vorgehen der Staatsanwälte keinen Hehl: Italien
sei ja ein Rechtsstaat, sagte Schäuble, und noch sei Schmidt ja nicht
verurteilt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.05.2009 Seite 7