Freispruch im Fall "Cap Anamur" Ex-Cap-Anamur-Chef Bierdel und Mitangeklagte freigesprochen
Ausland 08.10.2009(neues-deutschland press artikel)
Fragwürdig
Freispruch – Grund zum Feiern?
Elias Bierdel, Lebensretter von der »Cap Anamur«, zur Festung Europa / Der Journalist, geboren 1960, hat 37 Schiffbrüchige in den italienischen Hafen von Porto Empedocle gebracht
ND: Vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400 000 Euro wollte der Staatsanwalt Ihnen und Ihrem Kapitän Stefan Schmidt »drüberziehen«, weil sie mit der »Cap Anamur« im Mittelmeer Menschenleben gerettet haben. Der Richter entschied anders: Freispruch! Was empfinden Sie?
Bierdel: Fünf Jahre hat man uns durch ein Schandverfahren gezogen. Mit Lügen und Verleumdungen. Wenn man nun von uns ablässt, dann ist das kein Grund zum Jubeln. Zudem – und das ist noch wichtiger: Das Sterben geht weiter. Europa beschreitet weiter diesen verhängnisvollen Irrweg und schickt Flüchtlingen Kriegsschiffe entgegen. Heute Nacht sind hier vor der Küste sieben Menschen ertrunken.
Mit dem Verfahren gegen Sie und Ihre Crew wollte man deutlich machen, dass Humanität strafbar sein kann ...
Und unser Urteil ist auch noch nicht rechtskräftig. Die Kammer muss es jetzt innerhalb von 90 Tagen begründen. Danach hat die Staatsanwaltschaft 45 Tage Zeit, sich zu überlegen, ob sie in Revision geht.
Die Politik ist also noch lange nicht fertig mit Ihnen?
Natürlich freuen sich jetzt so viele Unterstützer, die uns zur Seite standen, die – auch das sage ich so klar – uns bisweilen getröstet haben. Doch ich kann nicht anders, als immer wieder zu sagen: Wir haben allen Grund, uns auseinanderzusetzen mit dem, was hier draußen geschieht. Hier zeigt sich ein Europa, von wir uns hätten nicht träumen lassen, dass es so existieren kann.
Sie sind vom »Neuen Deutschland«, also wissen Sie, was ich meine. Ich bin unmittelbar an der Mauer aufgewachsen. Im Westen von Westberlin, in Staaken. Die Mauer war 50 Meter vor meinem Elternhaus. Und ich kann nicht anders, als zu sagen: Die Schandmauer ist nicht weg. Sie steht nur woanders. Wie kann es denn sein, dass unsere Gesellschaften es heute für normal halten wollen, dass da draußen im Mittelmeer Tausende verschwinden? Umkommen, einfach so. Damit werde ich mich niemals abfinden!
Menschenrechte sind nicht teilbar, hieß es im sogenannten freien Europa als die Mauer noch stand.
Richtig. Und deshalb sollten sich viele Politiker, Journalisten, Juristen und Beamte fragen, wie es um ihre Verantwortung bestellt ist. Wir mussten uns verleumden lassen und wenn ich nachlese, was vor fünf Jahren verbreitet worden ist, dann ist das auch für viele Medien eine Schande.
Also wenig Grund, sich zu freuen, nicht einmal am heutigen Tag. Ist es aber dennoch ein kleiner Sieg gegen den politischen Trend von Unmenschlichkeit?
Wir sprachen gerade über Schande. Ich würde den Staatsanwalt gerne fragen, ob er sich jetzt wenigstens schämt.
Eine Frage, die man auch an Minister und Regierungen weitergeben sollte?
Ja. Der damalige deutsche Innenminister Otto Schily hat uns in jeder Weise öffentlich verunglimpft. Er hat – während wir hier auf Sizilien im Gefängnis saßen – Interviews gegeben, in denen er sagte, er sei dagegen, dass wir aus dem Gefängnis kommen. Am 17. Juli 2004 haben er und sein italienischer Amtskollege bei einer Innenministerkonferenz in Sheffield gesagt, es gehen im Fall der »Cap Anamur« darum, einen gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern.
Das ist letztlich nicht gelungen.
Ich will es hoffen. Doch noch einmal: Hier vor der Küste Italiens sterben täglich Menschen.
Gespräch: René Heilig
Freispruch – Grund zum Feiern?
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08.10.2009
Ex-Cap-Anamur-Chef Bierdel
"Ich freue mich nicht"
Der Ex-Cap Anamur-Chef Elias Bierdel ist freigesprochen. Doch froh ist er nicht. Er wirft Otto Schily vor, seine Organisation diskreditiert zu haben – und auf See ändere sich auch nichts
Elias Bierdel, Vorsitzender der Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur. Foto: reuters
taz: Herr Bierdel, Sie freuen sich jetzt wahrscheinlich.
Elias Bierdel: Ich verstehe, dass die Menschen, die uns die ganze Zeit unterstützt haben, sich jetzt mit uns freuen. Aber ich kann mich nicht wirklich freuen.
Warum?
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Das Urteil ist ja nicht rechtskräftig. Binnen 90 Tagen wird das Gericht sein Urteil begründen, dann kann der Staatsanwalt in Berufung gehen. Das würde für uns bedeuten, dass wir die nächsten drei Jahre vor dem Gericht in Palermo - der nächsthöheren Instanz - zubringen. Jubeln können wir erst, wenn gilt: Es darf nicht in Frage stehen, dass die Rettung von Menschen in Not Vorrang hat.
Ändert sich etwas durch das Urteil?
An dem schrecklichen Geschehen auf der See ändert sich momentan gar nichts, wenn europäische Einheiten unter deutscher Beteiligung Flüchtlingsboote aufbringen und abdrängen. Erst in der letzten Nacht sind 40 Menschen hier bei Agrigent an Land gegangen, und sie haben berichtet, dass bei der Landung sieben weitere Personen ertrunken sind; eine Leiche wurde schon gefunden. Das Sterben geht weiter.
Also kein Grund zur Zuversicht?
Es ist nicht abzusehen, dass die europäische Politik von diesem wahnsinnigen Weg, die Immigrationsfrage in die Hand von Militärs zu legen, abkommen wird. Und im Zweifelsfall landen die Retter vor Gericht. Ich wurde hier zusammen mit Stefan Schmidt länger als fünf Jahre durch einen solchen Schandprozess gezogen, mit einer völlig entfesselten Justiz und Politik.
Wie haben Sie sich aus Deutschland unterstützt gefühlt?
Von den meisten Medien sind wir damals aufs Übelste verleumdet worden. Und bei der Urteilsverkündung war zwar der stellvertretende deutsche Generalkonsul von Neapel anwesend, aber während des ganzen Prozesses hat sich sonst niemand blicken lassen. Und ich vergesse nicht, dass es der deutsche Innenminister Otto Schily war, der uns mit höchst fragwürdigen Methoden in diesen Prozess hineinmanövriert hat.
Was werfen Sie ihm vor?
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* Freisprüche im Cap-Anamur-Prozess:
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* Kommentar Cap-Anamur-Urteil:
Justiziable Flüchtlingspolitik>
Er hat in der Öffentlichkeit jede Gelegenheit genutzt, Zweifel an der Lauterkeit unserer Motive zu wecken. Zugleich haben staatliche Stellen aus Deutschland und Italien Falschmeldungen in die Welt gesetzt, die uns diskreditierten. INTERVIEW: MICHAEL BRAUN
http://www.taz.de/1/politik/europa/artikel/1/ich-freue-mich-nicht/
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07.10.2009
Schiffbrüchige zu retten, ist eine Pflicht.
Justiziable Flüchtlingspolitik
KOMMENTAR VON MICHAEL BRAUN
ROM taz |Freispruch für Elias Bierdel und Stefan Schmidt: So endet ein Prozess, der niemals hätte beginnen dürfen. Völlig abstrus war die Konstruktion der Anklage, die aus humanitären Helfern gewerbsmäßige Schlepper machte, um sie überhaupt verfolgen zu können, und peinlich dünn war die "Beweislage". Die meisten der Zeugen aus den italienischen Behörden mochten sich vor Gericht nicht erinnern - und wenn sie sich doch einmal erinnerten, bestätigten sie fast immer die Version Bierdels und Schmidts.
Nur aus einem Grund fand der Prozess trotzdem statt: Er war ein politischer Prozess. Er sollte zur Demonstration dienen, dass die ganze Wucht staatlicher Repression all diejenigen trifft, die es wagen, gegen Italiens - und Europas - Flüchtlingsabwehrpolitik nicht bloß zu protestieren, sondern sie womöglich gar mit praktischen Aktionen zu konterkarieren.
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Dieses politisch gewollte Spektakel fand jetzt ein Ende vor dem Gericht in Agrigent, das den Vorfall wieder auf die Gleise des Rechts zurückführte. Schmidt und Bierdel haben Menschen aus Lebensgefahr gerettet, nicht mehr und nicht weniger. Das hat endlich auch Italiens Justiz eingesehen.
Michael Braun ist Italien-Korrespondent der taz und berichtet aus Rom
Oder war sie bloß der Auffassung, dass eine Verurteilung gar nicht mehr nötig sei? Bierdel und Schmidt sind allein durch die Dauer des Verfahrens schon nach Kräften bestraft, ihr Ruf wurde in einer auch in Deutschland heftig geführten öffentlichen Debatte über die angebliche Inszenierung der Rettungsaktion nach Kräften ruiniert, die Organisation Cap Anamur wurde mit der Beschlagnahmung des Schiffs und der Zahlung einer Millionenkaution schwer geschädigt, die Flüchtlinge, die damals an Land kamen, wurden unter Umgehung rechtsstaatlicher Prinzipien umgehend nach Afrika zurückverfrachtet, ohne je einen Rechtsanwalt gesehen zu haben.
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Die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Ein Erfolg für die Flüchtlinge, ein Erfolg auch für die Hilfsorganisationen wäre der Richterspruch bloß, wenn er sich nicht bei der Würdigung des Einzelfalls aufhielte, sondern wenn er an elementare Normen des internationalen See- und des Menschenrechts erinnerte: an die absolute Pflicht, Schiffbrüchige zu retten, oder an das bindende Gebot für die Staaten, Flüchtlingen Aufnahme zu gewähren. Der Umgang der italienischen Regierung mit den Rechten der Flüchtlinge - er wäre in der Tat ein Fall für die Justiz.
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