Gesetz und Realität klaffen auseinander
VON MARKUS WAGNER, 13.10.10, 20:35h, aktualisiert 13.10.10, 22:08h
WITTENBERG/MZ. "Was passiert mit uns." Für Michael Marquardt, Geschäftsführer der Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt, war das der wichtigste Satz des Dienstagabend. Was passiert ihnen, wollten die Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft Möhlau wissen. Und was hat das mit den Menschenrechten zu tun, fragte sich Studienleiterin Katharina Kühnle in der Reihe "Talk am Turm". Gekommen waren vor allem Bewohner aus Möhlau selbst, einige Unterstützer der Flüchtlingsinitiative Möhlau und wenige unbeteiligte Interessierte.
Am schwersten hatte es an diesem Abend Anke Tiemann. Sie ist als Geschäftsbereichsleiterin in der Kreisverwaltung für die Ausschreibung verantwortlich, mit der die Unterkunft der Ausländer neu geregelt werden soll, die der Landkreis auf Zuteilung zu versorgen hat. Die Verwaltung stellt sich eine Mischung aus kleiner Gemeinschaftsunterkunft mit 100 Plätzen und Wohnungen für weitere 100 Bewohner vor.
"80 Prozent der Kriterien bei der Vergabe gehen über den Preis", kritisiert Mario Bialek von der Initiative "Runder Tisch Flüchtlingsheim Möhlau". "Da sieht man, was entscheidend ist." Diese Ausschreibung könne also nur ein Zwischenschritt sein. Und er ist offensichtlich der Kompromiss, der zu erreichen war. "Mehr war politisch nicht möglich", sagt Kreistagsmitglied Jörg Schindler (Linke). "Machen wir uns nichts vor", mahnte Marquardt, "ich bin nicht überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen draußen dafür wäre, Möhlau zu schließen." Vorbehalte, Vorurteile bis hin zu offenem Rassismus seien sehr stark verbreitet.
Vielleicht hilft ja ein Blick ins Grundgesetz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Studienleiterin Kühnle leitet daraus ab, dass auch die Unterkunft die Menschenwürde nicht verletzen dürfe. Gerade bei den Gesetzen allerdings sieht Anke Tiemann "den Hasen im Pfeffer". Die Vorstellungen des Gesetzgebers klafften mit Gegebenheiten auseinander. Beispiel Asyl. Laut Gesetz habe ein abgelehnter Bewerber das Land sofort zu verlassen, "Realität ist aber, dass sich die Ausreise verzögert". Zum Beispiel weil Heimatstaaten bremsen. So wird aus einem kurzfristigen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft eben mal ein Jahrzehnt. "Die Verwaltung kann aber nicht besser sein als der Gesetzgeber", sagt Frau Tiemann.
Aber hätte sie früher handeln können? "Warum kommt die Ausschreibung erst jetzt", fragt eine Bewohnerin des Heims. "Weil wir an einen Kreistagsbeschluss aus dem Jahr 1998 gebunden waren", entgegnet Frau Tiemann. Der allerdings steht gegen die Forderung von Innenminister Holger Hövelmann. Der, so erzählt es Marquardt, mahne die Kreise "nicht erst seit gestern", dass "Familien und Frauen mit Kindern in einer Gemeinschaftsunterkunft nichts zu suchen" hätten. Der Sprecher der Möhlauer Flüchtlingsinitiative, Salomon Wantchoucou, geht sogar noch weiter. Auch Alleinreisende wollen in Wittenberg untergebracht werden, um sich integrieren zu können. "Wir wollen unsere Freiheit", ruft er.
Ein Ruf, der zur Stimmungslage der Bewohner passt, wie sie Marquardt beschreibt. "Sie haben nicht wirklich ein selbstbestimmtes Leben." Deshalb fühlten sie sich von fast allem gegängelt und schikaniert. Auf der Gegenseite entstehe daraus das Gefühl, die Flüchtlinge seien undankbar. "Das ist Realität in den Lagern", sagt Marquardt. Dass sie nicht wissen, was aus ihnen wird, ist es auch.
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