Bericht vom 20.10.2010
„Meinersen: Landkreis knallhart in seiner Asylpolitik“ titelt das NDR seine Reportage über das Leben der Flüchtlinge im Lager Meinersen Landkreis Gifhorn.
Die Forderung der Flüchtlinge nach menschenwürdigen Bedingungen, Schließung des isolierten Lagers und der Unterbringung in Wohnungen lehnt die Mehrheit des Kreistags Gifhorn ab. In der vergangenen öffentlichen Sitzung wurden die anwesenden Flüchtlinge beschuldigt, ihre Identität zu verbergen und somit als Betrüger abgestempelt. Das Ziel sei nicht Integration, wurde den Menschen gesagt, die seit sechs, zehn, zwölf Jahren in Lagern im Landkreis Gifhorn leben. Damit wurde erneut der Begriff des Isolationslagers bestätigt.
Knallhart war auch die Haltung im Gifhorner Kreistag. Allein Respekt und Anstand hätten es verlangt, dass den etwa zwanzig BesucherInnen Sitzmöglichkeiten angeboten worden wären. Dazu konnte sich die Versammlung unter Leitung des Bürgermeisters nicht durchringen oder hielt es nicht für nötig. Denn was folgte, hätte die BeobachterInnen ohnehin von den Stühlen gerissen. „Es war schon ein Gefühl von Menschenverachtung“ kommentierte später ein Besucher. Gleich zu Beginn fasste der Grünen Abgeordnete Graumann die Gründe seiner Partei für den Antrag der Schließung zusammen und kritisierte die erzwungenen Lebensbedingungen. Um der Debatte genügend Grundlage zu geben, schlug er zwei weitere Personen vor, die bestens vertraut sind mit dem Alltag im Lager. Dem Delegierten der Flüchtlinge, Nurjana Isamailova, wurde per Abstimmung versagt, die Forderung nach Schließung aus ihrer Sicht als Betroffene zu begründen – ebenso wurde mit Sigi Wahlbrecht, Vertreter des niedersächsischen Flüchtlingsrats, verfahren.
Die Kreistagsmehrheit wollte keine offene Debatte, auch nicht angesichts der offensichtlichen Nöte der Flüchtlinge. Es folgten drei Kategorien von Begründungen der Befürworter der Lagerkasernierung:
- „Das Gesetz schreibt dies vor.“ Das ist eine falsche Behauptung, weil es zahlreiche Gegenbeispiele von Kommunen gibt, die keine Lager und Gemeinschaftsunterkünfte mehr unterhalten, sondern Flüchtlingen in normalen Wohnungen unterbringen.
- „Das Innenministerium schreibt dies vor.“ Dabei wurde darauf verwiesen, dass z.B. der Landkreis Aurich der letzte Landkreis in Niedersachsen gewesen sei, der Flüchtlingen die ca. 180 Euro monatlicher Leistungen in Bargeld ausbezahlt hat. Auf Weisung des Innenministers Schünemann sei dies aber vor Kurzem eingestellt worden. Jeder Landkreis hat jedoch das Recht dem zu widersprechen.
- „Es geht bei den Asylbewerbern aus Meinersen eben nicht um Integration.“ Das bedeutet, dass das Lager und die daraus resultierenden Lebensbedingungen bewusst geschaffen werden, um die Menschen darür zu bestrafen, dass sie nach Deutschland geflohen sind.
- „Wir müssen bis Ende 2011 über 157 Asylbewerber aus Oldenburg aufnehmen, weil die Sammelunterkunft Blankenburg geschlossen wird. Daher sind alle Kapazitäten notwendig.“ Wenn der Landkreis Gifhorn gegenüber Flüchtlingen so feindlich eingestellt ist und ihnen nahezu jedes Grundrecht versagt, dann fragt man sich, warum sich der Landkreis um die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen bewirbt, obwohl das Lager bereits überbelegt ist. Will der Landkreis Gifhorn statt der Schließung des Lagers Meinersen eine Erweiterung seiner Lagerkapazitäten?
Es wurde ohne Zögern und ohne Grübeln behauptet, die Flüchtlinge seien Betrüger „sie verstecken ihre Identität“. „Über 90%“ behauptet der Leiter der Ausländerbehörde. „Das Grundstück ist sauber und ordentlich gepflegt“ und „der Hausmeister tut viel“, „die Asylbewerber könnten auch mal was tun“ und „mit den Aussiedlern, die auch in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht waren, habe ich ganz andere Erfahrungen.“ Solche Äußerungen von Kreistagsmitgliedern lösten wütende, verbale Proteste unter den ZuhörerInnen aus. Wurde zuvor den Flüchtlingen das Wort verweigert, nutzte dies die Abgeordnete Evers, um die Beschwerden dieser zu diskreditieren und als falsch darzustellen. Als falsch bezeichnete sie, dass in einem der offenen Briefe steht, es gibt nur eine Toilette für alle Männer des Lagers. Was will die Abgeordnete Evers damit erklären? Dass die Flüchtlinge Lügner sind? Oder dass es ausreichend sanitäre Anlagen gibt? Es gibt eine Männertoilette und eine Frauentoilette im Erdgeschoss für das gesamte zweigeschossige Gebäude mit fast 80 Personen. Die Männertoilette ist ein sehr kleiner Vorraum mit Waschbecken und dahinter ein kleiner Raum mit drei Kabinen und zwei Pissoirs. Alle Männer und Jungen müssen tagtäglich im dem gleichen Raum ihr Bedürfnis verrichten. Die Abgeordnete verwehrte sich auch scharf und knapp dagegen, dass in einem Brief der Flüchtlinge steht: „Wir können nicht in einem "Konzentrationslager" weiter leben.“ und bezeichnete diese Aussage als unzulässig. Warum schenkt die Abgeordnete nicht mehr Aufmerksamkeit dem direkt anschließenden Satz in dem Brief: „Unsere Nerven halten es nicht mehr aus.“ Warum verharmlost und beschönigt die Abgeordnete die Situation im Lager, indem sie die Betroffenen eines unzulässigen Vergleichs bezichtigt?
Fakt ist, dass die Unterbringung und die Lebensbedingungen, die die Flüchtlinge seit vielen Jahren im Landkreis Gifhorn ertragen, nicht einem aufgeklärten Menschenbild entsprechen. Fakt ist, dass die Unterbringung und die Lebensbedingungen die Menschen seelisch und mental krank machen. Fakt ist auch, dass bei den Verantwortlichen im Landkreis Gifhorn wenig gesellschaftliche Verantwortung zu erkennen ist.
Der Kampf der Flüchtlinge, endlich ihr Leben nach der Flucht aus der Heimat neu aufbauen zu können, verlangt unsere Unterstützung.
Die Flüchtlinge im Lager Meinersen haben ihre Stimme erhoben, weil sie das Leid nicht mehr ertragen können, weil sie nicht mehr zusehen können, wie die Kinder und Jugendlichen ihrer Zukunft beraubt werden, wie noch weitere gesunde Menschen psychisch sukzessive oft physisch erkranken, weil sie nicht mehr ertragen können, als Betrüger und Lügner abgestempelt zu werden.
Die Familie Ismailov lebt seit fast zehn Jahren im Landkreis Gifhorn. Die beiden Kinder Nurjana und Nuradil sind im Lager erwachsen geworden. Vor den zunehmenden Unruhen und Auseinandersetzungen in der Kaukasusregion floh die Familie aus Dagestan. Über die wirtschaftlichen Machtkämpfe und die politisch motivierte Gewalt wird in Deutschland wenig berichtet, so fällt es leicht, den Flüchtlingsstatus zu negieren. Trotz der verlorenen Heimat und den langen Jahren im Lager ohne Rechte, ohne Mittel und ohne Sicherheit haben es die Eltern geschafft, ihre beiden Kinder vor der ständigen Bedrohung zu schützen. Unter diesen knallharten Bedingungen – wie der NDR es nennt – der Fremde, der Enge, keine Privatsphäre, Lagerkoller, nächtliche Polizeieinsätze, Abschiebungen hat Nuradil allen Hindernissen trotzend sich zu einem Junioren-Boxchampion entwickelt. Er hätte jetzt um die deutsche Meisterschaft boxen sollen, hätte er einen gesicherten Aufenthalt gehabt. Seine Schwester Nurjana, die trotz der extremen Bedingungen ohne Privatsphäre, ohne Raum für Schul- und Lernarbeiten einen sehr guten Realschulabschluss geschafft hat und jetzt im Abiturjahr stände, durfte das Gymnasium nicht besuchen. Seit zwei Jahren wird ihr Wunsch weiterzulernen, blockiert. Nurjana engagiert sich im Netzwerk „Jugend ohne Grenzen“. Die Isolation zu überwinden, stößt immer wieder auf willkürliche Grenzen durch die Behörden. Gerade hatte sie eine Einladung zu einer Konferenz gegen Rassismus in Hannover bekommen, wo sie über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung durch Sondergesetze berichten sollte. Sie beantragte – trotz der tief empfundenen Ungerechtigkeit durch dieses Gesetz - eine Genehmigung zum Verlassen des Landkreises mit Angabe von Ort, Dauer und Zweck der Reise. Nurjana hat geschrieben, wie die Behörde reagiert hat. Am Tag, an dem sie hätte abreisen müssen, rief nachmittags die Ausländerbehörde, Herr Ring, den Leiter des Lagers, Herrn Thiemann an, und trug diesem auf, Frau Ismailova mitzuteilen, dass die Begründung ihres Antrags nicht ausreichend für ihn sei und er deshalb die Genehmigung nicht erteile.
Knallhart – wie der NDR formulierte. Es geht nicht nur um die Schließung des Lagers, es geht auch um die Beendigung der unnötigen Leiden und Grausamkeiten. Es geht um die Anerkennung des Flüchtlingsstatus, und es geht um ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Scham und Zornesröte treibt es einem ins Gesicht, wenn Nidal Al-Nagar, Flüchtling aus Gaza, die Frage in den Raum stellt, warum Deutschland überall in der Welt verbreite, es habe die höchsten demokratischen Standards und sei glühender Verfechter der Menschenrechte, wenn man dann als Flüchtling ohne Rechte wie ein Gefangener in Deutschland festgehalten wird. Deutschland wollte ihm keine Zukunft geben, also ging er nach Großbritannien. Die Ausländerbehörde Gifhorn bestätigte den britischen Behörden, das vorherige Asylgesuch in Deutschland und bat um seine Rücküberstellung. Wenn ihr mich hier nicht haben wollt, warum holt ihr mich dann hierhin zurück? Diese Frage stellte Herr Al-Nagar dem Leiter der Ausländerbehörde. Eine Antwort erhielt er bis heute nicht.
Der Kampf der Flüchtlinge, endlich ihr Leben nach der Flucht aus der Heimat neu aufbauen zu können, verlangt unsere Unterstützung – für das gesicherte Aufenthaltsrecht und die Schließung des Lagers
An dieser Stelle müssen wir erneut auf den dringenden Spendenaufruf hinweisen:
spendeninfo hier
Lasst uns unsere Würde verteidigen, schließen wir ab mit dem Lagersystem in Deutschland!
Der folgende Bericht von Nurjana Ismailova verdeutlicht den alltäglichen Stress und Druck:
"Ich wollte über den heutigen Tag (18.10.2010) berichten weil einiges vorgefallen ist. Ich hatte leider kein Geld auf dem Handy und deswegen schreibe ich eine e-mail.
Ich habe eine Einladung zu einer Konferenz gegen Rassismus in Hannover bekommen und würde/wollte gerne daran teilnehmen und dort einen Vortrag über zum Thema "Diskriminierung durch Sondergesetze in der BRD" halten. Letzte Woche habe ich einen Antrag auf Reisegenehmigung in die Region Hannover für die Tage 20.10.2010 und 21.10.2010 per Fax an die Ausländerbehörde geschickt. Letzte Woche Donnerstag war dann mein Bruder Nuradil (weil ich keine Busfahrkarte habe) bei der Ausländerbehörde, um die Reisegenehmigung abzuholen. Aber er hat sie nicht bekommen. Stattdessen wurde ihm gesagt, dass mich Herr Renders, der Leiter der Ausländerbehörde, sprechen möchte. Heute bin ich mit Zeugen dort hingefahren, um mir anzuhören, was er zu sagen hat. Ich, bzw. wir, sollten warten, bis ich aufgerufen wurde. Solange wir dort saßen, kam mehrmals Herr Renders rein und raus, rein und raus, in das Zimmer, wo wir warteten. Anschließen ist er noch mal rein gekommen und hat uns mit seinen "Augen" gezählt und ist sofort verschwunden. Dann wurde ich aufgerufen und wollte dass ein Zeuge mit reinkommt, zum Gespräch mit Herrn Ring. Herr Ring hat gesagt, ich solle ALLEIN reinkommen (also ohne Zeugen). Meine Zeugen haben Herrn Ring einen Paragraphen vorgelesen, dass ich ein Recht darauf habe, zu jeder Behörde einen Zeugen mitzunehmen. Doch Herr Ring hat mehrfach gesagt: "Ich möchte mit Frau Ismailova alleine sprechen", "entweder alleine oder gar kein Gespräch". Anschließend bin ich alleine in das Zimmer gegangen, wo das Gespräch stattfand. (Bemerkung: Im Gesprächszimmer war ein "Zeuge“, ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde, aber ich durfte keinen Zeugen mitnehmen!) Die Reisegenehmigung habe ich nicht bekommen, weil das jetzt neuerdings Herr Funke (Herr Funke: Fachbereichsleiter der Ausländerbehörde/war beim Ausschuss am Montag dabei und hat uns als Betrüger gestempelt) entscheidet. Nach dem Gespräch sind wir (ich und meine Zeugen) zum Sozialamt gegangen, weil ich noch ein paar Sachen erledigen musste. Dort haben wir auch Nidal Al-Nagar getroffen. Nach dem Sozialamt wollten wir zurück zum Wohnheim, als wir zwei Polizeiautos gesehen haben. Wir waren natürlich interessiert daran was die Polizei vorhatte. Es könnte ja sein dass sie den Herrn Al-Nagar vielleicht abschieben wollten, und wir wollten den Polizisten folgen. Als wir dann bei der Ausländerbehörde vor dem Eingang standen, kamen die 7-8 Polizisten raus zu uns und haben nach "Frau Ismailova" gefragt. Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich Angst hatte, dass sie mich vielleicht abschieben wollen oder so. Dann wollten aber die Polizisten Ausweise von uns allen. Wir haben gefragt, worum es denn geht, aber wir bekamen keine Antwort. Als die Polizisten unsere Personalien aufgenommen haben habe ich und meine Zeugen aus dem Funkgerät zufällig mitbekommen, wie der andere Polizist: "RTL" gesagt hat.(Meiner Meinung nach weiß die Ausländerbehörde/Herr Renders nicht mehr wie er mir Druck/Angst einjagen soll, weil die Methoden die er früher angewendet hat, bei mir ja nicht funktioniert haben, und er will mich jetzt mit der Polizei einschüchtern.) Das ist heute bei der Ausländerbehörde vorgefallen.
Als wir dann im Wohnheim angekommen sind, hat mich eine Frau von NDR angerufen und mich kurz interviewt. Sie wollte auch heute beim Landkreis nach einer Drehgenehmigung nachfragen.
Um ca. 12:40 kam dann RTL in das Lager. Wir haben viel erzählt aber leider hat RTL keine Drehgenehmigung bekommen, und sie durften nicht drehen. Die haben aber trotzdem ein paar Fotos geschossen Und werden auch an einem anderen Tag kommen, um uns außerhalb des Geländes des Lagers vor der Kamera zu interviewen und zu drehen.
Als RTL weg war, hat mich die Frau von NDR angerufen und mir gesagt, dass sie die Drehgenehmigung bekommen hat und morgen 19.10.2010 um 10:30 ins Wohnheim kommt, um für die Sendung zu drehen. Ich hab mich gewundert warum NDR eine Drehgenehmigung bekommen hat aber RTL nicht.
Das war ein sehr komischer und psychisch harter Tag für mich, vor allem wegen der Sache mit der Polizei. Ich hatte deswegen ja nie in meinem Leben mit der Polizei zu tun gehabt.
Das war, was ich erzählen wollte. Ich konnte leider nicht anrufen weil ich kein Guthaben auf dem Handy habe.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Unterstützung!
Mit freundlichen Grüßen
Nurjana "