04.11.2010 / Inland / Seite 8Inhalt
»Wer will schon nachts aus dem Bett gerissen werden?«
Nach Abschiebung eines Aktivisten haben Bewohner des Flüchtlingslagers Gerstungen Angst. Ein Gespräch mit Mohsen Azadbakht
Interview: Gitta Düperthal
Der Iraner Mohsen Azadbakht lebt seit sechs Jahren im thüringischen Flüchtlingswohnheim Gerstungen
http://www.jungewelt.de/2010/11-04/040.php
In der Nacht zum 26. Oktober wurde Reza Memar Bashee aus dem Iran mit seiner Frau und seinen zwei Kindern aus dem Asylbewerberheim im thüringischen Gerstungen von der Polizei abgeholt und abgeschoben. Was hat sich in der Nacht abgespielt?
Wir waren völlig überrascht und entsetzt. Ohne jede Ankündigung hat die Polizei den 42jährigen, seine Frau und seine beiden fünfjährigen Kinder aus dem Schlaf gerissen. Sie mußten schnell ihre Sachen zusammenpacken. Dann hat Reza Memar Bashee an meine Tür geklopft. Er wollte sich verabschieden und mir mitteilen, daß er abgeschoben wird.
Später bei der Abschiebung waren Mitarbeiter der Ausländerbehörde und die Heimleitung zugegen, sowie sechs oder sieben Polizisten. Ich war auch dabei, um zu übersetzen, weil Reza Memar Bashee erst seit Februar in Deutschland ist und noch nicht gut Deutsch spicht. Zuerst sollte die Familie nach Köln verfrachtet werden, dann nach Holland.
Mit welcher Begründung hat man ihn und seine Familie so plötzlich abgeschoben?
Das verstehe ich auch nicht, und das macht uns allen Angst. Sein Anwalt war nicht informiert, er hat keine Vorwarnung erhalten. Behördenmitarbeiter haben offenbar ein Visum für Holland gefunden. Seine Frau hat geweint, beide Eheleute standen unter Schock. Die Kinder haben nicht verstanden, was mit ihnen passiert.
Reza Memar Bashee war aktiv und hat die Zustände in der Flüchtlingsunterkunft öffentlich kritisiert. Wurde er unter Druck gesetzt, wollte man ihn bestrafen?
Ob es einen Zusammenhang gibt, wissen wir nicht. Er ist auf einem Video im Internet auf Youtube zu sehen. Darin weist er auf die katastrophalen Zustände in Gerstungen hin, gegen die sich hier alle Flüchtlinge gemeinsam gewehrt haben.
Ist es nun noch schwieriger geworden, im Lager offen zu reden?
Alle haben Angst, wer will schon nachts aus dem Bett gerissen werden. Aber die Zustände im Lager sind nach wie vor schlimm, auch wenn jetzt renoviert wird. Wir sind total isoliert und haben keinen Kontakt zur deutschen Bevölkerung. Ich bin insgesamt schon acht Jahre in Deutschland und kann die Sprache immer noch nicht gut. Wir können nicht wie Deutsche leben, nicht in die Ferien fahren wie sie. Wir können uns noch nicht mal 30 Kilometer vom Heim entfernen, nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen. Ohne Papiere kannst du nicht leben wie ein normaler Mensch. Wir haben kaum Geld, müssen mit Gutscheinen in Geschäften einkaufen. Alle schauen dich an wie einen Außenseiter.
Was droht Reza Memar Bashee, falls man ihn von den Niederlanden aus in den Iran abschieben sollte?
Er wurde dort als Regimekritiker verfolgt und hat mehrfach im Gefängnis gesessen. Dort herrschen schlimme Zustände, er wurde auch geschlagen. Er ist geflüchtet und hat sein Haus zurückgelassen und alles, was er besaß. Er ist gefährdet, weil er vom Islam zur christlichen Religion konvertiert ist. Man darf nicht vergessen, daß es im Iran noch die Todesstrafe gibt.
Was können Leserinnen und Leser tun, um Reza Memar Barshee und die anderen Aktivisten, die im Flüchtlingslager um ihre Rechte kämpfen, zu unterstützen?
Wir haben noch Hoffnung. Jeder hat Angst, plötzlich nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden. Du schläfst und plötzlich steht die Polizei vor dir. Sicherlich können die Leser Solidaritätsbriefe an die Flüchtlingscommunity in Gerstungen schicken: An Nassan Hussen, C/o Refugee Community Gerstungen, Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen, Am Berg 1, 99834 Gerstungen. Vielleicht hilft es auch, Protestbriefe an das Landratsamt zu schreiben: Landratsamt Wartburgkreis, Landrat Reinhard Krebs, Erzberger Allee 14, 36433 Bad Salzungen, Email.: landrat@wartburgkreis.
Abschiebung aus Gerstungen! Zum Verschwinden der Familie Memar Bashee
Reza Memar Bashee, Aktivist der Flüchtlingscommunity Gerstungen und seine Familie, wurden von Gerstungen nach Holland abgeschoben
https://thevoiceforum.org/node/1825
ARD Video zu Gerstunger Asylbewerberheim in 2.56min
https://thevoiceforum.org/node/1827