Obwohl jede Verbesserung der Lebensbedingungen einzelner Flüchtlinge oder einer bestimmten Gruppe von Flüchtlingen begrüßenswert ist, bezieht die Karawane gegenüber der vorgesehenen Lockerung der Residenzpflicht im Land Brandenburg, eine kritische Position. Dies ist nicht das, was wir von der Politik erwartet haben. Darum ist es auch nicht - wie manche behaupten – ein Schritt in die richtige Richtung, sondern höchstens ein verlegener Schritt seitwärts. Die brandenburgische Regelung ist kein Grund zum feiern. Sie bekräftigt generell das Gesetz der Residenzpflicht und dient dazu, Flüchtlingen auf diesem Weg erneut ihre Unterdrückung zu bestätigen. Brandenburgs Lockerung der Residenzpflicht bezeugt lediglich die Heuchelei des reformistischen Systems. Dies ist der Gegenstand unserer Kritik an der Politik. Ein Spiel der Deutschen und des deutschen rassistischen Systems mit den Rechten der Flüchtlinge und MigrantInnen. Die Kampagne des zivilen Ungehorsams und die Kämpfe der betroffenen Flüchtlinge wurden und werden immer vom dem Standpunkt „unser Recht auf Bewegungsfreiheit ist nicht verhandelbar“ für die Abschaffung der Residenzpflicht geführt.
Background zu Residenzpflicht:
Seit 1982 verletzt die Residenzpflicht die Bewegungsfreiheit und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Die Residenzpflicht ist ein Teil des strukturellen Rassismus in Deutschland. Während eines Asylverfahrens, das selten nur wenige Wochen, öfter aber auch viele Jahre dauern kann, sind die AntragstellerInnen zumeist in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht und müssen sich im zugewiesenen Landkreis aufhalten. Das Verlassen des Landkreises ohne einen „Urlaubsschein“ - Sondergenehmigung der zuständigen Ausländerbehörde zum zeitlich und räumlich beschränkten Verlassens des Landkreises unter Nennung des Reiseziels, der Reisedauer und des Reisegrunds - führt zu einer Geldstrafe und kann auch Verhaftung und Abschiebung zur Folge haben. Diese Beschränkung des Rechtes auf freie Bewegung ermöglicht ein inoffizielles „racial Profiling“, d. h. dunkle Hautfarbe oder „ausländisches Aussehen“ veranlassen die Polizei zu Ausweiskontrollen, Personen zu filzen oder gar zu verhaften. Diese Praxis ist nicht nur unangenehm und erniedrigend, sondern beeinflusst die öffentliche Meinung und verfestigt das schon verbreitete Vorurteil, 'Ausländer' seien Kriminelle. So werden Asylsuchende bloß aufgrund der Inanspruchnahme ihrer Bewegungsfreiheit kriminalisiert und machen sich strafbar.
Auch mittels Verdachts- und ereignisunabhängiger Polizeikontrollen wird solches „racial Profiling“ möglich. Hierbei haben die Betroffenen keine Möglichkeit, zu erfahren, warum sie kontrolliert werden, da für dieses Vorgehen kein Verdacht bestehen muss. Zu schweren körperlichen Verletzungen kommt es selten, aber diskriminierende Beleidigungen und rassistische Bemerkungen sind eher die Regel als eine Ausnahme. Dieser alltägliche Kontakt mit der Polizei hat die Wirkung, dass die Betroffenen die Polizei eher als Feind wahrnehmen denn als „Freund und Helfer“.
Wir sollten hierbei nicht vergessen, dass Deutschland während der Nazi-Ära eine ähnliche Verordnung. Im Jahr 1938 wurde eine ähnliche Regelung (für Ausländer) in der Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 1938 erlassen.
Die Unterbringung von Flüchtlingen in abgelegenen Orten führt zu ihrer Isolation und Entfremdung. Menschen die oftmals durch ihre Erfahrungen in ihrer Heimat und auf dem Weg nach Europa schwere Traumata erlebt haben, werden in Deutschland erneut traumatisiert bzw. retraumatisiert. Die Lagerunterbringung, das Gutscheinsystem und die Residenzpflicht sind alles Lebensbedingungen für Flüchtlinge, die mit der bewussten und rassistischen Absicht geschaffen wurden, das Leben von Flüchtlingen schwerer zu machen und ihre Abschiebung zurück in die Lebensgefahr zu ermöglichen. Die Umstände, denen sie unterworfen werden - dazu gehört auch die Residenzpflicht, haben keine vernünftigen Gründe. Sie sind eine Bestrafung aus niedrigen Beweggründen. Sie sind eine mit offenen Ende fortdauernde Missachtung und Misshandlung der menschlichen Seele – eine psychische Folter mit schwerwiegenden gesundheitlichen und mentalen Folgen.
Background der Kampagne gegen Residenzpflicht:
Nachdem im Frühjahr 2000 der große Flüchtlingskongress der Karawane und the VOICE Forum in Jena durch das sog. Residenzpflicht-Gesetz behindert wurde, wurde es ein Schwerpunktthema des Kongresses. Der Aufruf zur Kampagne des zivilen Ungehorsams zur Abschaffung der Residenzpflicht von the VOICE Forum war eines der direkten Ergebenisse der Zusammenkunft und der Angriffe des Staates. FlüchtlingsaktivistInnen begannen in Folge sich offensiv der Residenzpflicht zu widersetzen. Ziviler Ungehorsam fand statt, wenn zu Aktionen mobilisiert wurde und Flüchtlinge nicht die Behörden um Erlaubnisse zur Bewegung fragten, um sich frei zu bewegen und sich in das gesellschaftliche, kulturelle, soziale und politische Leben in Deutschland einzubringen. Der Kern all dieser Ereignisse war der Mut der Flüchtlinge, die staatlich verordnete Isolation und das Schweigen zu brechen. Dies geschah durch unsere politischen Aktionen. Das Ziel bestand damals wie auch heute in der Abschaffung der ungerechten gesetzlichen Regelungen - der Residenzpflicht. Weil die Residenzpflicht ein ungerechtes Gesetz ist, ist es eine menschliche Pflicht, mit allen Mitteln, bis hin zum zivilen Ungehorsam, dagegen vorzugehen. Dies geschieht in Form von Aktionen auf der Straße, Protesten in Gerichtssälen, Basiskonferenzen, öffentliche Diskussionen und viel mehr. Dies ist nicht nur deshalb wichtig gewesen, weil der Aufruf an die Behörden ging, sondern, weil es vor allem den Flüchtlingen Kraft gegeben hat, und sich von der üblichen Position der Hilfebedürftigen in eine Machtposition zu begeben.
„Einige Aktivisten von uns sind im Gefängnis gelandet und für andere besteht bereits ein Haftbefehl. Felix Otto wurde 6 Monate inhaftiert und danach nach Kamerun abgeschoben, wo er jetzt leidet. Deshalb macht es uns wütend, dass andere jetzt Kompromisse machen und über die „Lockerung“ in einem Bundesland jubeln. Das ist eine Schande für Deutschland“, sagt The VOICE Sprecher Yufanyi Mbolo. „Die Abschaffung der Residenzpflicht in Deutschland ist der einzige Weg die Rechte der Flüchtlinge anzuerkennen und wir werden nicht aufhören bis dieses Apartheid-Gesetz, das in ganz Europa nur in Deutschland existiert, abgeschafft wird“.
Eine Politik der kleinen Schritte:
Im Juli 2010 hat das Landesparlament von Brandenburg seine Absicht erklärt die Residenzpflicht zu lockern. In den Pressemitteilungen vieler linker Politiker wie auch in einigen Zeitungsartikeln wurde dies als ein Erfolg der Menschenrechte und als “ein wichtiger Schritt“ in die richtige Richtung gefeiert und bejubelt. Dies ist keine Überraschung, denn die deutsche Linke ist seit Jahren auf der Suche nach sporadischen Erfolgen, anstatt sich mit der allgemeine Problematik des rassistischen Systems wirklich auseinanderzusetzen. Leider geht es weder darum Gutscheine gegen Geld zu tauschen, noch die Residenzpflicht zu lockern sondern darum, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Reihe rassistischer Gesetze hat, die nur für „Ausländer“ gedacht sind. Darunter ein breites Spektrum von Sondergesetzen, die im Allgemeinen für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit verabschiedet wurden. In der Praxis aber werden sie vor allem im Umgang mit Menschen angewendet, die nicht aus europäischen/westlichen Ländern stammen bzw. Menschen die nicht dem typischen deutschen Aussehen entsprechen. Diese Gesetze müssen als Gesamt bekämpft werden.
Wir alle sind von dem Kolonialismus im System ständig betroffen. Wir alle bekommen seine Werte mit unserer Muttermilch und sind in unseren Gedanken kolonialisiert.
Ein Rückblick in die koloniale Vergangenheit zeigt uns, dass paternalistische Hilfe keine neue Erfindung ist. Dieselben Europäer, die die Sklaverei abgeschafft haben, haben den Kolonialismus ermöglicht. Es waren nie „Eingeborene“, die ihre Unabhängigkeit erkämpft haben, sondern die mächtigen und „gnädigen“ Imperien, die sie von Sklaverei „befreit“ und ihnen „Freiheit“ gegeben haben. Hier handelt es sich um das gleiche Szenario: Für die Abschaffung der Residenzpflicht - ein deutsches Apartheidsgesetz - kämpfen Flüchtlinge in einer organisierten Kampagne seit mehr als zehn Jahren – nicht nur gegen den Staat oft auch gegen vermeintlich gutmeinende Unterstützer. Es gibt keine Solidarität von Seite der deutschen Linken, mit dem kompromisslosen Widerstand der Flüchtlinge gegen dieses rassistische Gesetz. Doch es gibt Kreise, die aus unseren Kämpfen politisches Kapital schlagen wollen. In den meisten aktuellen Veröffentlichungen wird weder der Widerstand der Flüchtlinge, noch die Schärfe der Thematik „Residenzpflicht ist Menschenrechtsverletzung“ genannt. Es gab Stimmen, die sagten die Kampagne von The VOICE sei vorbei, eine neue Kampagne solle gestartet werden. So gab es eine dem Staat genehme und angepasste Kampagne deren SprecherInnen von den Kämpfen und von den Aktionen des zivilen Ungehorsams ablenkten. Staatsmacht und NGOs finden Kompromisse, und die Opfer bleiben außen vor. Diese Kampagne führte den Kampf der Flüchtlinge nicht weiter, sie ignorierte sie und begann wieder mit einem kompromittierten Ziel. Ihren Erfolg wird das Leben einer kleinen Gruppe von Menschen ein wenig komfortabler machen. nicht mehr. Sie schwächt aber den Widerstand der Flüchtlinge mit ihren Spaltungen zwischen den Betroffenen. Die Flüchtlinge fordern Menschenrechte für alle. Das wurde nicht einmal anerkannt, geschweige denn eine grundlegende Änderung im Gesetz.
Bei der jetzigen Residenzpflichtdebatte fällt sofort die Parallele zur Bleiberechtsdebatte auf. Der Bleiberechts-Kompromiss erwies sich als faules Spiel der Politik und wirkte eher wie eine Kampagne für billige Arbeitskräfte.
Gleichwohl herrscht in Deutschland ein Missverständnis wenn es zu den Rechten von Ausländern kommt. Die Konzeption, Deutschland gibt ihnen Rechte, ist einfach falsch. Die Menschenrechte haben sie schon von Geburt her, und Deutschland hat nicht einmal das Recht sie vorzuenthalten. Dieses Missverständnis herrscht wohl auch bei der deutschen Linken. Man könnte es damit vergleichen, als wäre ein Hausarrest als ein „wichtiger Schritt in den richtige Richtung“, wenn jemand wegen §129a verhaftet wurde?
Die Geburtsrechte von Menschen, die als Flüchtlinge hierhergekommen sind, können nicht verhandelt werden. Der Trend, die Residenzpflicht zu „lockern“, besteht nicht nur in Berlin oder Brandenburg sondern auch in Bremen und Bayern. Wir betrachten solche Ansätze, die die Existenz der Residenzpflicht nicht grundsätzlich in Frage stellen, als eine Art von latentem Rassismus und versteckter Unterstützung der Apartheid.
Diese Lockerung lässt die Anerkennung der Bewegungsfreiheit jedes Menschen als sein unantastbares Recht weiterhin ausstehen. Nicht nur weil die Freiheit der Asylsuchenden, auch nach der Aufhebung, immer noch stark eingeschränkt ist, sondern auch, weil die Regelung zunächst nur die 1100 Flüchtlinge in Brandenburg betrifft, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Geduldete haben nach wie vor kein Recht auf Freizügigkeit und sind weiter den Schikanen der Ausländerbehörden ungeschützt ausgesetzt. Sie werden weiterhin unter der Residenzpflicht leiden müssen. Diese Aufteilung zwischen Menschen, die ihre Rechte bekommen, und welchen die keine bekommen, gehört zu einem rassistischen Denkmuster und muss bekämpft werden. Stattdessen wurde eine Politik der kleinen Schritte vorgeschlagen. Brandenburg hat die Residenzpflicht nicht abgeschafft. Es reduziert sie auf ein praktischer und wirtschaftlicher handhabbares Maß für sich selbst. Hätte Brandenburg das Recht aller Menschen anerkannt, sich frei zu bewegen, dann wäre dies ein sehr guter Anfang gewesen. Aber es war nicht gewollt. Brandenburg wird weiterhin Flüchtlinge verfolgen, die Brandenburg ohne ein "Urlaubschein" verlassen.
Wir verstärken unsere Bemühungen, veranstalteten ein Festival, das darauf fokussiert war, die Isolation der Flüchtlinge in den Heimen, zum Thema zu machen. Ein „Karawane International Tribunal für die Rechte der MigrantInnen und Flüchtlinge“ als längerfristig angelegtes Projekt wird u.a. sich mit der Residenzpflicht befassen.
Wir werden weiter alle Formen und Mittel des Protests einschließlich des zivilen Ungehorsams nutzen - gegen die menschenfeindlichen Gesetze und die Unterdrückung.
Wir werden die Missachtung und Misshandlung der Flüchtlinge und ihren Widerstand dokumentieren, künstlerisch mit Ausstellungen und Medienprojekte stärker präsent sein und das Problem weiter in das Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen. Die Politik wird unweigerlich in den Zugzwang geraten, die richtigen Schritte einzuleiten.
Wir sind offen für Zusammenarbeit und Austausch mit denjenigen, die sich vorgenommen haben, für die Rechte von Flüchtlingen einzutreten. Aber wir erwarten von unseren MitstreiterInnen eine klare Position einzunehmen und nicht die Forderungen und Kämpfe der Flüchtlinge zu unterlaufen.
· THE VOICE und Karawane fordern keine halben Rechte! Keine Kompromisse, wenn es um Menschenrechte geht! Recht auf Bewegungsfreiheit in ganz Deutschland und ganz Europa für alle!
· Es gibt nur eine Forderung und ein Ziel die vollständige und ersatzlose Abschaffung der Residenzpflicht!
Residenzpflicht
https://thevoiceforum.org/taxonomy/term/18
Broschüre von The VOICE zum Kampf gegen die Residenzpflicht: http://thecaravan.org/files/caravan/residenzpflicht-reader.pdf
News zur Residenzpflicht von der Karawane: http://thecaravan.org/taxonomy/term/16