Pressemitteilung
Möhlau 28.04.2011
Kundgebung in Wittenberg am 02.05.2011 (Am Alten Bahnhof 3)
Stimme gegen die Isolation und sage ja zur Integration in Wittenberg
Die Flüchtlingsinitiative Wittenberg ruft zu einer friedlichen Kundgebung in Wittenberg am 02.05.2011 auf. Mit der Unterstützung des Flüchtlingsrates Sachsen-Anhalt, der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, NoLagerHalle, The Voice Flüchtlingsforum, der Parteien Die Linke und Die Grüne, Kultur mit Sahne e.V., der Evangelischen Akademie Wittenberg und vieler anderer soll auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht werden.
Die Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg werden gezwungen, isoliert in einem Dorf namens Möhlau zu leben, wo es für sie weder Möglichkeiten gibt, sich in die Gesellschaft zu integrieren, noch den Zugang zur öffentlichen Infrastruktur. Die Flüchtlinge müssen mitten im Wald, in einer alten Kaserne der russischen Armee leben. Die Abwesenheit von Annehmlichkeiten und die Isolation erschweren die Mobilität von Flüchtlingen erheblich, beispielsweise wenn sie Termine in Wittenberg oder Gräfenhainichen haben oder wenn sie einfach nur etwas kaufen wollen.
Das isolierte Lager trägt dazu bei, die Flüchtlinge krank zu machen: Als ihre Umwelt schließt das Lager die Flüchtlinge nicht nur vom sozialen, sondern auch vom wirtschaftlichen Leben aus. Vor allem die Gesundheit der Flüchtlinge, die schon seit Jahren in Möhlau leben müssen, verschlechtert sich zusehends. Außerdem sind die Flüchtlinge traumatisiert aufgrund des hohen Maßes an Repression und Unterdrückung, das den Weg für psychische Probleme und Krankheiten ebnet.
Die Flüchtlinge kritisieren schon seit längerer Zeit die Regierung des Landkreises Wittenberg dafür, dass die Lebensumstände der Flüchtlinge seit vielen Jahren nicht verbessert, sondern ignoriert wurden: Weder um die Integration von Menschen, die hier schon seit vielen Jahren leben, wurde sich bemüht, noch wurde die Lebensperspektive dieser Menschen in Betrachtung gezogen. Abgestellt im Lager Möhlau im Landkreis Wittenberg leiden die Flüchtlinge unter anderem an der Untersagung einer Arbeitserlaubnis und an der Residenzpflicht.
Genauso haben die Flüchtlinge die Regierung des Landkreises Wittenberg wegen der Politik des Wegschauens kritisiert: So werden besonders afrikanischen Flüchtlingen häufig ihre Rechte in Bezug auf die zuvor genannten Punkte verweigert.
Die Flüchtlinge sagen: Stoppt die Isolation in Wittenberg sofort!
Die Flüchtlinge fordern: Schließt das Flüchtlingslager Möhlau jetzt und stimmt gegen die Isolation und Diskriminierung!
Integriert die Flüchtlinge in die Gesellschaft des Landkreises jetzt!
Wir rufen alle Parteien und Gruppen auf, unseren Kampf zu unterstützen: Es geht um das Recht zu existieren, um unsere Menschenwürde, um unsere Perspektiven und um die Zukunft unserer Kinder. Also los, unterstützen Sie uns!
Schützt die Flüchtlinge jetzt!
Stimmt gegen die Isolation und sagt JA zur Integration in Wittenberg!
Das schicksal von Asylbewerbern in Möhlau Landkreiswittenberg von mdr Radio
Quelle: http://www.mdr.de/sachsen-anhalt/dessau/
Kontakt:
Salomon Wantchoucou
Tel: 01746610679
Flüchlingsinitiative Möhlau Wittenberg
The voice refugee forum
The caravan for the right of refugees and migrant
http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksA…
Kreis Wittenberg
Leben im Wald bei Möhlau - Leben im Abseits?
VON MICHAEL HÜBNER, 03.05.11, 22:12h, aktualisiert 03.05.11, 22:59h
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MÖHLAU/MZ. Der Spielplatz ist sauber, aber nicht attraktiv. An den
wenigen Geräten hat der Zahn der Zeit genagt. Zwei Steppkes favorisieren
die Schaukel, die Fußballtore bleiben verwaist. René Hansumuknsi weiß,
was hier fehlt: "Ein Trampolin und eine große Rutsche", sagt der
Fünfjährige. "Das alles hier", so Ruben Menes, "ist nicht so gut." Der
Achtjährige - wie René mit südafrikanischen Wurzeln - ist überzeugt,
dass deshalb seine Mitschüler nicht zum Spielen in die Möhlauer
Gemeinschaftunterkunft kommen. Dort, bei dem 2 000-Einwohner-Ort im
Kreis Wittenberg, leben 200 Menschen aus 41 Nationen, darunter 43 Kinder.
Das Asyl-Heim ist seit Jahren Thema von Debatten und Demonstrationen.
Kritiker, Initiativen, etliche Kommunalpolitiker sowie viele der
Flüchtlinge von Möhlau drängen auf eine dezentrale Unterbringung -
familienweise oder in kleinen Gruppen. So soll auch die Integration der
Menschen besser gelingen, deren Asylanträge oft abgelehnt sind und die
als geduldete Flüchtlinge hier leben. Allerdings gibt es immer wieder
auch Abschiebungen, die zwangsweise Rückreise der Menschen in ihre
Heimatländer.
"Besser als in der Heimat"
In dem 1987 errichteten Wohnblock bei Möhlau gestaltet sich das
Zusammenleben auf engstem Raum tatsächlich nicht einfach. Zu groß sind
die kulturellen Unterschiede, die Gewohnheiten und Lebensweisen. Davon
berichtet auch Nermine Neudert aus Kosovo. Doch die 33-jährige hat sich
einen Rückzugsbereich geschaffen: ihre Zwei-Zimmer-Wohnung. "Alles
selbst gemalert", berichtet die Mutter zweier Töchter stolz. Die Familie
hat Wohnzimmer, Küche, Bad und Toilette nett eingerichtet. "Wir fühlen
uns wohl, uns geht es besser als in der Heimat."
Insbesondere Singles indes müssen sich arrangieren. Alex Nuhu Banja aus
Sierra Leone hat damit keine Probleme. Im Zentrum seines Raumes steht
ein großer Fernseher. "Ich bin Sportfan", sagt der 33-Jährige lächelnd.
Fürs Kochen muss er eine Gemeinschaftsküche nutzen. "Einzelpersonen
leben hier in Wohngemeinschaften - so wie Studenten", sagt Marcel
Wiesemann. Der Betreiber spricht von üblichen Standards.
"Wenn Sie die Wahrheit über das Heim erfahren möchten, müssen Sie mit
mir sprechen", fordert Salomon Wantchoucou. Der 37-Jährige redet von
"menschenunwürdigen Zuständen" in Möhlau, berichtet auch bei
Kundgebungen in der Kreisstadt Wittenberg immer wieder davon. Der Mann
aus Benin liefert zudem Belege. Er verweist auf eine Stellungnahme des
Psychosozialen Zentrums für Migranten in Halle. In dem Papier schneidet
die Möhlauer Unterkunft schlecht ab. Die Rede ist von "fehlender
Privatsphäre, Lärm und mangelhafter Hygiene". Zustände, für die die MZ
vor Ort keine Bestätigung findet.
Aber es gibt weitere Vorwürfe. "Viele unserer Klienten sind psychisch
krank geworden durch jahrelange Belastungen", sagt Angelika Heinemann.
Nach ihren Angaben werden derzeit zehn Möhlauer betreut. Die
Sozialarbeiterin nennt als Ursachen für den Stress der Flüchtlinge den
unsicheren Aufenthaltsstatus, traumatische Erfahrungen auf der Flucht,
und jetzt erleben sie "wiederholt in den Morgenstunden Razzien" - immer
wieder auch Abschiebungen. "Bei den Bewohnern löst das Angst aus, weil
sie befürchten, selbst betroffen zu werden", so Heinemann.
"Ein unheimlicher Ort"
Auch deshalb fordert Wantchoucou eine dezentrale Unterbringung in
Wittenberg. Die Isolation mache krank. Maik Diabolo bestätigt dies. "Wir
sind hier völlig abgeschottet", sagt der 40-jährige Kameruner. Es sei
"ein unheimlicher Ort", beschreibt Al Saied Najdat aus Syrien die
Unterkunft, die etwa 1 000 Meter vom Ortsrand entfernt mitten im Wald
liegt. Der Familienvater bittet im Interesse seiner drei Kinder um eine
andere Unterbringung. "Wir wollen in der Stadt leben, arbeiten und uns
in Deutschland frei bewegen", sagt Mohamad Elnoueir aus Libyen.
Möhlaus Bürgermeister Günter Lönnig (Wählergemeinschaft) kann die Kritik
nur bedingt nachvollziehen. Wer will, könne sich integrieren. Elf Kinder
besuchen die Grundschule, vier die Kita. In Gräfenhainichen lernen acht
Sekundarschüler und ein Gymnasiast. "In unseren Vereinen ist jeder
herzlich willkommen", betont Lönnig.
Das war allerdings nicht immer so. Lönnig erinnert sich noch gut: Als im
Februar 1992 bekannt wurde, dass die ehemalige russische Militärkaserne
ein Asylbewerberheim werden sollte, gingen die Einwohner erfolglos auf
die Barrikaden. Sie befürchteten wachsende Kriminalität - Ängste, die
sich später nicht bestätigten.
Unterkünfte wie im Wald bei Möhlau seien die Regel, sagt Günter
Krause-Ablaß, kleinere Wohneinheiten die Ausnahme. Der Hamburger Anwalt
streitet bundesweit für die Rechte der Flüchtlinge. Zu seinen Mandanten
gehören auch Afrikaner aus Möhlau. Ob für sie das Objekt bei Möhlau noch
saniert wird, ist unklar. Auf Drängen von Landrat Jürgen Dannenberg
(Linke) hat der Kreistag seinen Renovierungsbeschluss vom April am
Montag wieder aufgehoben. Über die Zukunft der Einrichtung soll nun im
Juli entschieden werden.
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Proteste
Seit 17 Jahren suchen Politiker nach Alternativen
erstellt 03.05.11, 22:12h, aktualisiert 03.05.11, 22:37h
Halle (Saale)/MZ. Möhlauer Asylbewerber protestierten gegen ihre
Unterbringung vor der Sitzung des Wittenberger Kreistages am Montag. Die
Volksvertreter zogen sich den Unmut der Flüchtlinge zu, weil sie im
April die Sanierung der Einrichtung beschlossen und damit den Wunsch der
Möhlauer nach Wohnungen in der Lutherstadt ignoriert hatten. Der
Kreistag hat nun im nichtöffentlichen Teil der Sitzung die Verwaltung
beauftragt, mögliche Alternativen für die Unterbringung zu prüfen.
Der Streit um die Unterkünfte ist ein politischer Dauerbrenner. Bereits
1994 forderten die Mitglieder der Initiative Runder Tisch gegen
Ausländerfeindlichkeit des Landes die Schließung des Möhlauer Heimes.
Der Kreisoberpfarrer der evangelischen Kirche in Dessau führte dafür
humanitäre Gründe an. Der Innenminister des Landes sprach sich
allerdings für den Erhalt der Einrichtung aus. Zwei Jahre später setzte
sich der damalige Wittenberger Landrat Wulf Littke (CDU) durch. Er sah
bei einer dezentralen Unterbringung Sicherheitsprobleme.
Die Anzahl der Menschen, die in den vergangenen Jahren in Sachsen-Anhalt
um Asyl baten, hat stark geschwankt. Im Jahr 2000 wurden noch 3 473
gezählt, sechs Jahre später waren es 718. Im vergangenen Jahr kamen 1
267 ins Land.
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Ein Asylheim in Sachsen-Anhalt
Woanders kanns nur besser sein
Von Sara Mously
In Deutschland werden viele Asylsuchende in verdreckten Wohnheimen untergebracht, weit ab von der Zivilisation. Seit einiger Zeit protestieren die BewohnerInnen eines der Heime – und haben nun einen kleinen Erfolg erzielt.
Sein rechter grosser Zeh schaut aus einem Loch im Strumpf. Salomon Wantchoucou sitzt vor seinem alten Computermonitor und tippt, wie so oft. Auf Tisch und Fensterbank stapeln sich Bücher: die Bibel, der Koran, «Der Hausanwalt» und ein Schülerduden mit dem Titel «Politik und Gesellschaft». Die Internetverbindung ist mal wieder schlecht. «Das liegt am Wind», sagt der 38-Jährige, «und an den hohen Bäumen überall.»
Doch der Mann aus Benin hat Geduld. Schliesslich geht es nicht nur um seine Freiheit, sondern um die seiner rund 200 MitbewohnerInnen. Denn so viele Asylsuchende leben in den vier Stockwerken des grauen Plattenbaus, in dem Wantchoucou an seinem Computer sitzt. Es ist eine «Gemeinschaftsunterkunft», zwei Kilometer hinter dem Dorf Möhlau im Bundesland Sachsen-Anhalt, mitten in der Einöde. Die übrigen Gebäude auf dem Gelände stehen leer, ihre Türen sind mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschlagen. Ein hoher Zaun umgibt das Grundstück, drum herum nichts als Felder, Wald und Brachland.
Im Hof hat jemand ein altes Wandrelief freigekratzt: Es zeigt Sowjetsoldaten, ihr Blick stahlhart und grimmig. Vor der Wende war das Lager eine Kaserne der russischen Armee gewesen. Damals gab es hier Bars, Geschäfte, ein Kino. Heute pfeift der Wind durch die undichten Fenster. Ins Dorf ist es eine halbe Stunde zu Fuss, von da aus fährt nicht einmal alle Stunde ein Bus zur nächsten Stadt Gräfenhainichen.
Wantchoucou hat vor zehn Jahren in Deutschland Asyl beantragt. Seitdem hat er keine Arbeitserlaubnis, keine eigene Wohnung. Er konnte weder sein Studium beenden noch eine Familie gründen. Er ist bis heute nur geduldet, lebt in der ständigen Angst, doch noch abgeschoben zu werden. In Benin, sagt der Politikaktivist, fürchte er um sein Leben. Viermal hat er bisher Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Mal dauerte es ein Jahr, manchmal zwei Jahre, bis eine Antwort kam – und immer lehnten die Behörden ab. Er könne ja auch ein Wirtschaftsflüchtling sein, unterstellte man ihm, oder aus einem anderen Land stammen. Einen Pass konnte er nicht vorlegen: Er sei mit den Papieren eines Freundes geflohen, sagt er, weil er befürchtet habe, dass ihn die Beniner Grenzbeamten festnehmen würden. Wieder und wieder schickten ihn die deutschen Beamten zu Sprachtests. «Wenn Sie Englisch können, können Sie ja kein Beniner sein, dort spricht man doch Französisch», hiess es. Schliesslich gelang es ihm, eine Kopie seiner Geburtsurkunde aus seiner Heimatstadt zu beschaffen und sie der Ausländerbehörde vorzulegen. Das ist jetzt ein Jahr her. Eine Antwort hat er noch nicht erhalten.
Wenn er einsam ist, schaltet Wantchoucou den Fernseher an und schaut französische Filme auf Arte. Hat er Heimweh, frittiert er Teigkugeln mit Zucker, Salz und Sardinen in viel Öl. So hat seine Freundin sie immer gemacht, damals. In der Ecke, in der er seine Lebensmittel aufbewahrt, stehen viele Pakete mit Mehl und viele Flaschen Sonnenblumenöl.
In der Möhlauer Unterkunft wohnen vor allem Menschen, die wie Wantchoucou darauf warten, dass die Ausländerbehörde über ihr Bleiberecht entscheidet. Bis dahin dürfen sie in keine eigene Wohnung ziehen. Viele bekommen kein Geld, sondern Gutscheine, mit denen sie nur in bestimmten Geschäften einkaufen dürfen. Niemand hat ein Bankkonto, nur wenige einen in Deutschland gültigen Führerschein.
Wenn morgens um vier die Hunde kläffen
Die syrische Kurdin Susan Ali war fünf Jahre alt, als ihre Mutter und ihr Vater mit ihr und dem drei Jahre jüngeren Bruder Mohammad durch ein Loch im Zaun an der türkischen Grenze krochen. Auf der anderen Seite wartete der Lastwagen. Mehr als eine Woche dauerte die Fahrt im dunklen Gepäckraum, bis die Schlepper sie aussetzten, auf einer Strasse irgendwo in München. Heute ist Susan fünfzehn.
Susan und ihr Bruder seien «gut integriert», sagt eine ihrer Lehrerinnen der Ferropolis-Grundschule in Gräfenhainichen. Sie sagt das, weil die beiden fliessend Deutsch sprechen, gute Noten erzielen, und weil Susan schon einen Berufswunsch hat: Pharmazeutisch-technische Assistentin, dafür hat sie sogar schon Praktika in zwei Apotheken gemacht. Doch von tatsächlicher Integration sind die beiden meilenweit entfernt. Susan darf keine deutschen FreundInnen besuchen, weil ihre Mutter nicht will, dass sie abends allein durch die Einöde nach Hause läuft. Sie muss den Schulbus nehmen, der die Kinder den unbeleuchteten Weg entlang bis zur Gemeinschaftsunterkunft bringt. Die Nachmittage verbringt sie im Lager, dorthin verirrt sich selten ein Deutscher. Auch eine Ausbildung wird sie nicht machen dürfen, sie hat keine Arbeitserlaubnis.
In Möhlau hat Susan noch zwei weitere Geschwister bekommen, den heute siebenjährigen Bruder Mustafa und die kleine Silvana, die erst wenige Monate alt ist. Genau wie Wantchoucou ist die sechsköpfige Familie nur geduldet. Regelmässig müssen die Eltern bei der Ausländerbehörde vorsprechen, um ihre Duldung verlängern zu lassen. «Jedes Mal habe ich Angst, dass die Polizei da steht, um uns mitzunehmen», sagt Shukrya Ali, Susans Mutter. Oft kämen die BeamtInnen auch ins Heim, um BewohnerInnen abzuholen, die abgeschoben werden. «Meist frühmorgens um vier, vom Kläffen der Hunde wird das ganze Heim wach», erzählt die 36-Jährige. «Dann führen sie die Leute in Handschellen ab, wie Verbrecher.»
Die Isolation und die ständige Unsicherheit bleiben nicht ohne Folgen. Ein Mann verlässt sein Zimmer nicht mehr. Zwei andere haben sich das Leben genommen. Die übrigen ertragen das Warten, irgendwie. Manche fünf, andere zehn oder fünfzehn Jahre lang.
Susans elfjähriger Bruder Mohammad ist blass und dünn, dunkle Schatten liegen unter seinen Augen. An diesem Mittag isst er mal wieder nichts. «Ich hab’ keinen Hunger», sagte der Junge, grinst und läuft nach draussen. Dort trifft er sich meistens mit den «Kollegen», wie er seine Freunde aus dem Heim nennt. Sie stromern zwischen den Geisterhäusern umher, auf der Suche nach einer intakten Glasscheibe, die sie noch einschmeissen können. Sie klettern in eines der Häuser, in dessen Tür ein grosses Loch klafft, und marschieren die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort haben sie sich ihren «Klub» eingerichtet: Ein Zimmer, dessen Fussboden mit Scherben bedeckt ist. An den Wänden kleben «Bravo»-Poster, in eine Ecke haben sie ein altes Sofa gestellt. Jemand hat ein Handy dabei, aus dem Hip-Hop-Musik plärrt. Ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, ist ihnen hinterher gestolpert. Sie bückt sich, hebt eine Scherbe auf, ein Tropfen Blut quillt aus ihrer Fingerkuppe. Tapfer läuft sie weiter, um die verwaisten Räume des Hauses zu erkunden. «Ach», sagt Mohammad, «irgendwie ist das doch alles langweilig.»
Susan hat sich darangemacht, das Geschirr vom Mittag zu spülen. Sie taucht den Schwamm ins Seifenwasser und reibt damit sehr sorgfältig Teller für Teller ab. «Was anderes gibts doch eh nicht zu tun», sagt sie. «Schule, Hausaufgaben, ein bisschen aufräumen, schlafen.» Manchmal denkt sie daran, wie es wäre, nach Berlin zu fahren. Sie hat gehört, dass es ganz oben im Fernsehturm ein Restaurant gibt, von dem aus man über die Stadt gucken kann. «Aber noch lieber würde ich gerne raus aus Deutschland. Alles, was ich hier gesehen habe, ist Scheisse.»
Es wird Abend. Aus dem Fernseher plärrt eine arabische Musiksendung. Das Baby fängt an zu schreien. «Mann!», schreit Mohammad, und flieht ins Schlafzimmer der Eltern, um seine Hausaufgaben zu machen. Zweieinhalb Zimmer, kein Platz für Privatsphäre, seine Ruhe hat man hier eigentlich nie. Einmal waren Susans und Mohammads Verwandte zu Besuch. Sie leben in Köln, in einer richtigen Wohnung in einem normalen Haus. «Was habt ihr denn verbrochen», fragte sie einer der Cousins, «dass sie euch ins Gefängnis gesteckt haben?»
Ihre Mutter, Shukrya Ali, hat Tränen in den Augen, als sie sich daran erinnert, wie sie mit ihrer Familie nach Möhlau kam. «Ich bin fürchterlich erschrocken. Ich dachte: Hier ist ja gar nichts.» – «Was solls», wirft ihr Mann ein, der auf seinem Sessel in einer Ecke sitzt und für gewöhnlich sehr wenig redet. «Wir haben ein Dach über dem Kopf, und niemand trachtet uns nach dem Leben.» Zu Hause haben sie den heute 42-Jährigen immer wieder verhaftet und gefoltert, weil er sich für die Rechte der KurdInnen einsetzte. Haben ihm Stromstösse durch den Körper gejagt und ihn ausgepeitscht. Er schaut ins Leere. Nachts wird er oft wach, weil die Erinnerungen ihn einholen. Er sieht dann die Bilder von früher und kann nicht wieder einschlafen. Vor eineinhalb Jahren hat ihm das Sozialamt endlich die dringend benötigte Therapie in Halle bewilligt, eine Stunde mit der Bahn entfernt. «Wenn ich dort bin, ist es, als würde ich endlich wieder Luft bekommen», sagt er.
Ein Schuss und zwei Wochen auf dem Frachter
Als Salomon Wantchoucou vor drei Jahren aus einem anderen Heim nach Möhlau gebracht wurde, habe er sofort das Leid der BewohnerInnen gesehen, sagt er, «ihre Blicke sprachen Bände». Wantchoucou kann einfach nicht akzeptieren, dass Menschen in Deutschland so hausen müssen: «Wenn die Leute nicht sowieso schon traumatisiert sind, dann werden sie es spätestens hier. Jemanden jahrelang in ein Lager zu sperren, ist unmenschlich. Irgendwann geht hier jeder kaputt.»
Wantchoucou hat eine kräftige Stimme. Er gestikuliert ausschweifend mit seinen grossen Händen, bewegt sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, während er spricht. Wenn ihm ein Wort auf Englisch nicht gleich einfällt, sagt er es auf Deutsch oder Französisch. Hauptsache, die Botschaft erreicht sein Gegenüber. Er streckt den Arm nach oben, wenn er von Politikern und Beamtinnen spricht. Und streckt die flache Hand in Richtung Boden, wenn die Rede von den Asylsuchenden ist.
Als Wantchoucou im September 2001 nach Deutschland kam, steckte in seiner linken Schulter noch die Kugel, die ihn beinahe getötet hatte. Seit seinem 18. Lebensjahr war Wantchoucou in seinem Heimatland Benin politisch aktiv und prangerte die Korruption des damaligen Diktators Mathieu Kérékou an. Er trat der Oppositionspartei Renaissance du Benin bei, veröffentlichte Artikel im Internet. «Für Prestigeprojekte gibt die Regierung ein Vermögen aus, aber auf dem Land verhungern die Menschen», schrieb Wantchoucou. «Sie haben kein Essen und kein Geld für Medizin.»
Der Schuss fiel im Frühjahr während einer Demonstration. Er weiss nicht, wer auf ihn gezielt hat, ist sich aber sicher, dass der Geheimdienst hinter dem Anschlag steckt. Sie würden wieder versuchen, ihn zu töten, davon ist er überzeugt. Kaum hatte er das nötige Geld zusammen, floh er. In Marokko versteckte er sich auf einem Frachter, harrte zwei Wochen lang neben dem Maschinenraum aus.
«Sie sind hier gar nicht vorgesehen»
In Deutschland kämpft Wantchoucou weiter – diesmal gegen die Unterbringung in Möhlau. Er steckt seine MitbewohnerInnen mit seinem Gerechtigkeitssinn an, will ihnen zeigen, wie man sich wehrt. Einige Wochen, nachdem er im Lager angekommen ist, klopft er an die Türen der NachbarInnen. «Wollt ihr das wirklich länger hinnehmen?», fragt er sie. «Wollt ihr nicht gegen diese Zustände protestieren?»
Im Herbst 2008 besucht er ein Treffen der «Karawane», einem Hilfsnetz, das sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Niemand dort weiss, wie es in Möhlau aussieht. Er schafft es aber, dass erstmals unabhängige BeobachterInnen ins Heim kommen, um sich ein Bild zu machen. Mit anderen BewohnerInnen gründet er die «Flüchtlingsinitiative Möhlau», die Nachrichten und Protestbriefe im Internet veröffentlicht. Doch ausser Wantchoucou und Susans Familie traut sich bis heute kaum jemand zuzugeben, dass man dazugehört. Zu gross ist die Angst, auf das Polizeirevier vorgeladen zu werden, zu oft machen Gerüchte die Runde, Anträge würden absichtlich verschleppt oder abgelehnt.
Im November 2009 organisiert Wantchoucou eine Demonstration. 200 Leute, Susan ist da, ihre Brüder und Eltern und viele andere BewohnerInnen des Heims. Sie versammeln sich vor dem Landratsamt in Wittenberg. Endlich finden die Zustände im Lager ihren Weg in die Öffentlichkeit. Nicht nur nach aussen ist die Demonstration ein Signal, sondern auch für die BewohnerInnen selbst. «Es war schön zu sehen, wie die Bewohner, die so lange unterdrückt waren, auf einmal für ihre Rechte einstanden», sagt Wantchoucou heute.
Die Asylsuchenden fordern, das Heim zu schliessen und sie in Wittenberg unterzubringen. «Wir brauchen ein vernünftiges Umfeld für unsere Kinder», sagt eine Mutter, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, «hier ist es einsam und dunkel, und wir fürchten uns vor den Wildschweinen.» – «Wir fordern unsere Freiheit, damit wir uns integrieren können», sagt Susan.
«Eigentlich ist es doch gar nicht vorgesehen, dass diese Menschen hier sind», sagt Anke Tiemann, zuständig für den Fachdienst Ordnung des Landkreises Wittenberg, «sie haben keinen geregelten Aufenthaltsstatus. Weder haben sie ein Bleiberecht, noch dürfen sie in ihre Heimat zurückgebracht werden.» Bernd Mesovic vom Förderverein Pro Asyl hält das für bürokratische Vorwände. «Der Fehler liegt im System», sagt er. «In erster Linie zählt nicht, dass die Leute vernünftig untergebracht sind, sondern dass das Ganze sich finanziell lohnt.» Denn das AsylbewerberInnenheim gehört weder dem Bundesland Sachsen-Anhalt noch dem zuständigen Landkreis Wittenberg, sondern einer privaten Betreibergesellschaft, der Zeitzer KVW Beherbergungsbetriebe GmbH, die noch zwei weitere Heime betreibt. 7,18 Euro erhält die Firma vom Landkreis pro BewohnerIn und Tag. Das ist im Bundesvergleich wenig. Es kann sich nur lohnen, wenn die Firma die Ausgaben gering hält, etwa indem sie statt zentral gelegener Wohnungen eine Baracke im Nirgendwo zur Verfügung stellt.
Wochenlang kein Schulbus
Asylbeherbergungsbetriebe sind verpflichtet, SozialarbeiterInnen zu bezahlen, die rund um die Uhr erreichbar sind, und selbstverständlich sollten sie für ein gefahrenfreies Umfeld sorgen. «Jeden Tag versuchen wir Mängel, so gut es geht, abzubauen», sagt Marcel Wiesemann, Geschäftsführer der KVW, «wie man das auch in einem ganz normalen Mietshaus tut.» Doch ein normales Haus sieht anders aus: In Möhlau macht sich Schimmel in Fluren und Badezimmern breit, Kakerlaken krabbeln über den Boden. Wiesemann hat dafür seine eigene Erklärung: «Den Bewohnern scheint es schwerzufallen, es sich hier schön zu machen.»
Doch selbst wenn dort alles sauber und aufgeräumt aussähe, das Heim ist und bleibt eine Stätte der Isolation. Weder können die BewohnerInnen Integrationskurse besuchen, noch gibt es in der Nähe eine Beratungsstelle für Opfer von Krieg und Verfolgung. Von einem Markt, einem Café oder einem Jugendzentrum ganz zu schweigen. Im Winter ist der Schulbus wochenlang ausgefallen, weil sich niemand darum gekümmert hat, die Strasse zu räumen, die zum Wohnheim führt.
Doch der Protest hat etwas bewegt im Landkreis: Das Heim wurde zum Politikum. Die Kreistags-Grünen solidarisierten sich mit den Asylsuchenden, und etliche Organisationen setzen Möhlau inzwischen regelmässig auf ihre Tagesordnung. Zweimal pro Woche soll nun eine Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt ins Lager kommen, um Deutsch zu unterrichten. Einigen Familien wurde in den vergangenen Monaten das Aufenthaltsrecht gewährt, sie durften in richtige Wohnungen ziehen. Einige bekommen keine Gutscheine mehr, sondern Bargeld, um für ihren täglichen Bedarf zu sorgen. Es kursieren sogar Gerüchte, dass die Gutscheine abgeschafft werden sollen.
Ein weiterer Lichtblick kündigte sich Ende vergangenen Jahres an: Der Landkreis beschloss, eine Alternative für das Lager zu suchen, und schrieb den Unterbringungsvertrag neu aus. Daraufhin bot der bisherige Betreiber eine neue Lösung an: Hundert BewohnerInnen, vor allem Familien, will er demnach in Wohnungen unterbringen, die übrigen hundert in einer kleineren Gemeinschaftsunterkunft. Darüber, wo die Wohnungen liegen, ist öffentlich noch nichts bekannt. Bei der neuen Sammelunterkunft handelt es sich um einen Plattenbau in einem Gewerbegebiet am Rande Wittenbergs.
Für Sascha Blum von der Flüchtlingsinitiative No Lager Halle handelt es sich um eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera: «Das neue Heim liegt zwar zentraler als das alte, dafür treiben sich dort abends und am Wochenende Neonazis herum.»
Wantchoucou dagegen wertet den Umzug als Schritt in die richtige Richtung, «schlimmer als in Möhlau kann es gar nicht werden». Er wird so lange keine Ruhe geben, bis der Landkreis eine akzeptable Behausung für die BewohnerInnen gefunden hat. Auch nicht, wenn er bis dann endlich seine Aufenthaltsgenehmigung bekommen sollte. «Ich mache das schliesslich nicht nur für mich, sondern für das Land, in dem ich lebe.»
Asylsuchende in Deutschland
Fast drei Fünftel abgelehnt
122 000 Menschen leben in Deutschland in Unsicherheit über ihren Verbleib. Die meisten von ihnen – rund drei Viertel – leben als sogenannte «Geduldete» in ständiger Angst vor Abschiebung. Die übrigen warten noch auf den Ausgang ihres Asylverfahrens.
Seit 2007 steigt die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland. Im vergangenen Jahr wurden 41 000 Erstanträge gestellt, das sind fast fünfzig Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten der Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, dem Irak, Serbien, Iran, Mazedonien und Somalia.
Nach Artikel 16a des Grundgesetzes bekommen politisch Verfolgte in Deutschland Asyl. Einen Schutzstatus erhielten 2010 jedoch nur 21,6 Prozent der AntragstellerInnen – darunter vor allem Flüchtlinge aus dem Irak und aus dem Iran. 56,6 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. Alle übrigen Anträge wurden zurückgezogen, noch nicht fertig bearbeitet oder zurückgewiesen, weil die deutschen Behörden sich nicht für den Fall zuständig sahen. Denn nicht alle Asylverfahren, die in Deutschland beantragt werden, werden dort auch bearbeitet. Aufgrund der Dublin-II-Verordnung, die neben den EU-Staaten auch die Schweiz, Norwegen und Island unterzeichnet haben, werden Asylsuchende in der Regel in das europäische Land zurückgeschickt, das sie zuerst betreten haben.
Asylsuchende, die in Deutschland aufgenommen werden, weist das Bundesamt für Migration den einzelnen Bundesländern zu, die sie dann auf ihre Städte und Landkreise verteilen. Die Bundesregierung schreibt den sechzehn Bundesländern jedoch nicht genau vor, wie sie die Flüchtlinge unterbringen sollen, daher variieren die Landesaufnahmegesetze und ihre Auslegungen stark. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl kritisiert speziell die Aufnahmepraxis in Bayern, Baden-Württemberg, im Saarland und in den ostdeutschen Bundesländern, wo besonders viele Flüchtlinge in Massenlagern untergebracht werden. Als Positivbeispiel gilt Berlin: Es ist das einzige Bundesland, das Flüchtlingen erlaubt, nach drei Monaten in Wohnungen umzuziehen.