Eine kritische Sicht auf linke/libertäre Solidaritätsstrukturen und Erfahrungen mit Flüchtlingsprotesten in Thüringen
The VOICE Refugee Forum – Autonomie oder Isolation?
Brot und Butter vs. Befreiungsvision
„Break Isolation!“ ist der Slogan der aktuellen Kampagne eines gleichnamigen Netzwerks, das durch eine Unterstützung der Arbeit des The VOICE Refugee Forums die physische und politische Isolation der Flüchtlinge in der Gesellschaft durchbrechen will. Dabei stellt sich in der Netzwerkarbeit mitunter die Frage, ob sich nicht The VOICE selbst vergleichsweise isoliert fühlen müsste. Kirchliche Gruppen, Integrationsbeiräte oder andere bürgerliche Initiativen lehnen das Flüchtlingsnetzwerk oft als „zu radikal“ ab, zu keinerlei Kompromissen bereit. Zentraler Konfliktpunkt sind dabei v.a. die karitativen, paternalistischen Ansätze solcher Initiativen, die vornehmlich die sukzessive Verbesserung der konkreten Lebenssituation der Flüchtlinge im Sinn haben. Dass sie dabei in aller Regel eine systemstabilisierende Rolle ausfüllen, durch geförderte Sozialprogramme direkt vom System profitieren und fundamentale Kritik als kontraproduktiv sehen, führt dann unweigerlich zum Bruch mit The VOICE.
Lobbyarbeit vs. Selbstorganisation
In anders ausgerichteten Zusammenhängen konnte jedoch ebenso selten eine dauerhafte enge Zusammenarbeit mit Nicht-Flüchtlings-Gruppen etabliert werden. So kam es innerhalb bundesweiter Netzwerke bereits zu offenen Konflikten zwischen Flüchtlingsräten (bzw. ihnen nahestehenden Initiativen) und Lokalgruppen bzw. einzelnen Aktivist_innen von The VOICE. Den Flüchtlingen wird dabei immer wieder vorgeworfen, eine gesonderte Stellung zu beanspruchen, Sprecher_innenfunktionen zu vereinnahmen und damit eine horizontal organisierte Arbeit zu durchkreuzen. Speziell Flüchtlingsräte haben dabei den strukturellen Nachteil, dass ihre staatliche Förderung im Wesentlichen auf der öffentlichen Funktion beruht, eine Lobbyhaltung einzunehmen und die beratende Expertise in legislativen Prozessen oder öffentlichen Debatten bereitzustellen. Organisierte Flüchtlinge fühlen sich dadurch bevormundet oder haben den Eindruck, dass in ihrem Namen Kompromisse ausgehandelt werden, die sie nie befürworten würden.
Konflikte mit Gewohnheiten einer in Deutschland sozialisierten Linken
Aber auch mit – dem Selbstverständnis nach – linken, antirassistischen oder antifaschistischen Gruppen gibt es spezifische Konfliktfelder, die vielerorts immer wieder hervortreten. Als ein erstes erweist sich bereits der Arbeitsstil und die Strukturierung von gemeinsamen Treffen. Das Arbeiten in oft zwei, drei oder mehr Sprachen erschwert das Entstehen einer gemeinsamen Basis und kostet viel Geduld. So bilden sich unter Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen oft – entgegen aller propagierter Überzeugung – feste, sich nach Sozialisation oder Hauptkommunikationssprache auftrennende Grüppchen heraus. Informationsveranstaltungen, die durchgehend in mehrere Sprachen übersetzt werden müssen, oder in denen rhetorisch unerfahrene Flüchtlinge zu Wort kommen, werden teilweise offen gemieden. Die Erwartungshaltung an flüssige, in einer bestimmten Szenesprache gehaltene Vorträge ist bei so mancher interessierten Person stärker als erwartet.
Noch größeres Konfliktpotenzial birgt die Frage, welche Aktionsformen für solche Bündnisse angemessen bzw. machbar sind. Hier treffen eine autonome Aktions- und Lebensphilosophie – und mithin die Vermeidung von auf Einzelpersonen reduzierten politischen Gruppen – mit der Lebensrealität der Flüchtlinge zusammen: Auf der einen Seite sollen staatlichen Repressionsstrukturen möglichst wenig Informationen über systemkritische Aktivist_innen geliefert sowie hierarchieanfällige Sprecher_innenrollen vermieden werden. Auf der anderen Seite müssen die individuell sehr unterschiedlichen Zusammenhänge von Fluchtursachen und spezifischer Entrechtungserfahrung in Deutschland dargestellt und Kampagnen für Einzelpersonen organisiert werden, die ohnehin einer völligen Entindividualisierung und staatlichen Kontrolle ausgesetzt sind. Die hierbei unterschiedlichen Hintergründe treten u.a. in Fragen von Offenheit der Bündnisgruppen oder Umgang mit Medien, viel mehr noch bei Auseinandersetzungen mit staatlichen Strukturen oder bei Demonstrationsgewohnheiten zu Tage.
An verschiedener Stelle gab es bereits Diskussionen um Aktionsformen, die für notwendig, aber aufgrund der ungleich höheren Repressionsgefahr für Flüchtlinge (primär: beschleunigte Abschiebung) nur für Nicht-Flüchtlinge als geeignet erachtet wurden. Das gleiche gilt für mögliche Konfrontationsszenarien während öffentlich angemeldeter Aktionen. So gibt es antifaschistische Gruppen, die sich in manchen Aktionen als „Schutz“ von Flüchtlingen vor Naziübergriffen verstanden wissen wollen. Diese Tendenz zum Paternalismus zeigt sich auch in Aktionen, während derer von vermummten Aktivist_innen bspw. Lagerzäune niedergerissen werden – ein Bild, dem zweifelsohne eine romantische Befreiungssymbolik innewohnt. Tatsächlich weiß jedoch ein beträchtlicher Teil der Lagerbewohner_innen oft erstmal gar nichts mit so einer „Geste“ anzufangen, muss aufgrund des laufenden Asylverfahrens ohnehin auch nach der Aktion unter Kontrolle der Behörden wohnen bleiben, muss aber vor allem die daraufhin verschärften Sicherheitsvorkehrungen und Repressalien hinnehmen. Statt „Feuer und Flamme den Abschiebebehörden!“ würde so manches Mal ein „Die Selbstbefreiung der Flüchtlinge unterstützen!“ die größere Hilfe bedeuten.
Neben den bisher genannten Konfliktpunkten dürfen zwei weitere, die für viele Nicht-Flüchtlinge bzw. -Gruppen fundamentale Bedeutung haben, nicht fehlen. Der erste betrifft die sexismuskritische bzw. antisexistische Grundhaltung. The VOICE Refugee Forum wird zwar organisatorisch von seit langem in Deutschland lebenden Flüchtlingen getragen, begreift aber jeden Flüchtling, der/die gegen die Verhältnisse aufbegehren will, als Teil von The VOICE. Das ergibt immer wieder eine sehr heterogene Struktur von The VOICE selbst, und umso mehr in der Bündnisarbeit. Flüchtlinge mit festem Bezug zu Religion, Menschen mit jahrzehntelanger Prägung von Gesellschaften mit sehr viel ungleicheren Geschlechterverhältnissen als denen in Mitteleuropa oder Familien, in denen durch Kriegs- und Fluchterfahrung bei Ankunft in Deutschland bestimmte Rollen noch tief verwurzelt sind, all jene werden im gemeinsamen Kampf um ein Leben in Würde und Freiheit vereint. Hier stehen in Deutschland sozialisierte Aktivist_innen mit emanzipatorischem und feministischem Anspruch immer wieder vor dem Konflikt, dass sie eben jenen strukturell stark von Unterdrückungsmechanismen Betroffenen ohne Vorbehalte entgegentreten und dennoch ihre eigenen Grenzen, was sexistisches Auftreten betrifft, nicht überschritten sehen wollen. Wer aber von einer Durchsetzung seiner antisexistischen Haltung, wie sie in sog. „Feiräumen“, sprich Hausprojekten, Infoläden etc., in Form von zügigen Rausschmissen und Hausverboten praktiziert wird, nicht abweichen will, findet meist keinen Weg, sich langfristig mit Flüchtlingsgruppen zu organisieren.
Ein zweiter zentraler Punkt ist das Bekenntnis einiger politischer Gruppen zu uneingeschränkter Solidarität mit Israel. Flüchtlingsgruppen wie The VOICE thematisieren neben der Entrechtung in der BRD immer wieder auch die verschiedenen Fluchtursachen und die Zusammenhänge mit der Wirtschafts- und Außenpolitik Deutschlands und seiner Bündnispartner. Hier gilt auch wieder, dass allen Flüchtlingen aufgrund der strukturell bedingten gemeinsamen Erfahrung und Vision, ganz dem Namen Refugee Forum entsprechend, Raum geboten wird. Somit finden sich kurdische Aktivist_innen hier ebenso wieder wie aus Palästina stammende. Wo Erstere „nur“ hin und wieder den antinationalen Diskurs befeuern, stellen Letztere für z.B. einige Antifagruppen das größere Problem dar, insofern etwa Isarels Politik als Todesursache von Familienmitgliedern oder als Fluchtursache öffentlich kritisiert wird. Die Nicht-Anerkennung Palästinas hat dazu noch die bürokratische, aber verheerende Folge, dass Flüchtlinge aus palästinensischen Gebieten trotz Originaldokumenten in Deutschland überwiegend als „staatenlos“ verstanden werden, damit weder ein Asylverfahren abschließen können, noch einfach abzuschieben sind und deshalb jahrzehntelang in der prekären Situation der „Geduldeten“ verharren müssen.
Flüchtlingsproteste in Thüringen – Erfolge und Enttäuschungen
Sömmerda
Im Sommer 2011 wurde in Thüringen, Landkreis Sömmerda, das Isolationslager Gangloffsömmern geschlossen. Dem vorausgegangen waren kontinuierliche Besuche von The VOICE-Aktivist_innen, Berichte im Internet und mehrere kritische Presseberichte. Die Schließung des Lagers kann zweifelsohne als ein Erfolg gefeiert werden. Allerdings eher als ein Erfolg kontinuierlicher Öffentlichkeitsarbeit von The VOICE, nicht als Erfolg der Selbstorganisation der Flüchtlingsgemeinschaft vor Ort. Wenn ein Lager geschlossen wird, bedeutet das noch lange nicht, dass die Flüchtlinge danach ein vollkommen selbstbestimmtes Leben führen können. Im besten Fall können sie in eine Wohnung in der Stadt ziehen, womit eine von den Dutzenden Maßnahmen der Entrechtung behoben wäre. Im weniger guten Fall werden sie einfach in ein anderes Lager umverteilt, das ebenso schlecht ist wie das vorige. Im schlimmsten Fall wird ihnen das isolierteste Lager zugewiesen und/oder sie geraten an eine Ausländerbehörde mit noch rassistischeren Angestellten als zuvor. Im Falle Gangloffsömmerns hätte all das passieren können, weil die dort lebenden Flüchtlinge zu keinem Zeitpunkt eine Einheit bildeten, geschweige denn auf eigene Faust Aktionen gestartet hätten.
Es wurden schon viele Lager auf solche Art und Weise geschlossen. Teilweise gab es monatelange Kampagnen von Flüchtlingsräten und/oder antirassistischen Gruppen. Wenn jedoch die Schließung primär durch Druck von außen erreicht wurde, hat sie für die Lebenswirklichkeit der Flüchtlinge eine nur sehr beschränkte Wirkung.
Gerstungen
In Gerstungen, Wartburgkreis, gab es im Herbst 2010 mehrere Versammlungen von dort lebenden Flüchtlingen und The VOICE-Aktivist_innen. Es wurden Berichte zur Isolation und Schikane im Lager veröffentlicht, erste kritische Presseartikel erschienen. Bei einer Aktion in Bad Salzungen unterbrachen 30 Flüchtlinge aus Gerstungen die Rede des Thüringer Innenministers während einer Veranstaltung anlässlich vermeintlicher „Integrationserfolge“ im Landkreis, wiesen auf ihre Lebenssituation hin und forderten die Schließung des Lagers. Als daraufhin weitere Presseberichte folgten, schien der Landkreis unter Druck und die Flüchtlinge zunehmend selbstbewusster. Der Wendepunkt kam mit der Abschiebung eines iranischen Flüchtlings, der bei der Aktion in Bad Salzungen in der ersten Reihe stand, auch sichtbar auf einem Zeitungsfoto. Die Ausländerbehörde hat viele daran Beteiligte später spüren lassen, dass sie bei Fortsetzung der Proteste jegliche Restgnade bei der Entscheidung über tägliche Bedürfnisse (z.B. Krankenschein, Urlaubsschein, Arbeitserlaubnis) verspielen oder gänzlich ihren Aufenthalt gefährden würden. Als eines Nachts die Polizei im Lager anrückte und die vierköpfige Familie des Aktivisten abführte, wurde die Angst unüberwindlich. Es kamen Vorwürfe auf, der Widerstand sei verantwortungslos von The VOICE initiiert worden und würde alles nur noch schlimmer machen. Infolgedessen hatten Pressevertreter_innen zunehmend Probleme, kritische Stimmen von Flüchtlingen zu bekommen. Als eben jener Innenminister, dem zuvor das Wort entzogen worden war, Wochen später im Lager auftauchte, trauten sich die vorigen Aktivist_innen der ersten Reihe angesichts der vollständig anwesenden Ausländerbehörde, Lagerleitung und Bodyguards kaum mehr, ein kritisches Wort zu verlieren. Zwar solidarisierten sich immer mehr Gruppen öffentlich mit der Forderung nach der Lagerschließung, doch war im Lager der Widerstand mittlerweile gebrochen.
Ein Jahr später, im September 2011 starb in Gerstungen ein 37jähriger Flüchtling in seinem Zimmer. Gefunden wurde er erst Tage später aufgrund des zunehmenden Verwesungsgeruch. Als die Leiche abgeholt wurde, mussten andere Flüchtlinge den Toten hinaustragen. Einige Menschen dort sind schwer traumatisiert, bekommen aber keine Antworten auf ihre Fragen, geschweige denn die Möglichkeit angemessener psychologischer Betreuung. Mit der Presse wollte danach trotz allem kein_e einzige_r Bewohner_in mehr sprechen.
Katzhütte
Im Frühjahr 2009 wurde in Thüringen, Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, das Isolationslager Katzhütte geschlossen. Dem vorausgegangen waren viele Versammlungen der dort lebenden Flüchtlinge mit The VOICE-Aktivist_innen. Unter den Bewohner_innen wurden Sprecher_innen gefunden, die trotz Einschüchterungen durch Ausländerbehörde, Sicherheitsdienst und Polizei eine Pressekonferenz im Lager abhielten. Es gab Kundgebungen und Demonstrationen, an denen viele dort Lebende teilnahmen. Nach der Schließung kamen einige von ihnen in Wohnungen, einige in bessere Lager, einige aber auch in fast ebenso schlimme. Der Unterschied ist, dass die in Katzhütte Aktiven auch nach der Schließung das Flüchtlingsnetzwerk zusammenhielten, in ihren jeweiligen Lebensorten auf eigene Initiative Proteste begannen und bisher eingeschüchterte Flüchtlinge zu Widerstand mobilisierten.
Diese Beispiele zeigen, wie viel davon abhängt, dass Flüchtlinge sich solidarisieren und selbstbewusst zu ihrer Kritik der bestehenden Verhältnisse stehen. The VOICE Refugee Forum beansprucht tatsächlich in der Bündnisarbeit, Flüchtlingen die Priorität in der öffentlichen Wahrnehmung, d.h. bei Stellungnahmen und Auftritten, einzuräumen. Dabei kommt es auch zu Situationen, in denen Flüchtlinge mit Unterstützung langjähriger Aktivist_innen antikapitalistischer oder anarchistischer Gruppierungen öffentlich eben das einfordern, was ihre Unterstützer_innen bekämpfen: Elemente eines bürgerlichen Lebens, wie das Recht zu arbeiten oder Steuern zu zahlen. Ist es inkonsequent, an anderer Stelle die Bekämpfung voranzutreiben, in der Unterstützung von Flüchtlingsselbstorganisation aber Zurückhaltung zu pflegen? Ist es gar eine Form von Rassismus, aufgrund der unterschiedlichen Hintergründe so ungleiche Maßstäbe anzusetzen?
Angesichts der oben beschriebenen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit The VOICE als Flüchtlingsnetzwerk haben einige Aktivist_innen entschieden, genau so zu verfahren: Eigene Inhalte mit denen von The VOICE zu verknüpfen, die bereits vorhandene Infrastruktur einer gewissen politischen Szene dem Flüchtlingsnetzwerk zur Verfügung zu stellen und trotz viel investierter Kraft und Zeit in die gemeinsame Arbeit bei Fragen von öffentlicher Präsenz und Positionierung bestimmte festgefahrene Haltungen abzulegen, um sich nicht nur den Hintergründen der Flüchtlinge nähern zu können, sondern auch, um Verknüpfungen der gemeinsamen Kämpfe und neue, gemeinsam geprägte Gewohnheiten zu finden, die als einzig konsequenter Weg einer gelebten Vision von Solidarität und Emanzipation auf allen Ebenen funktioniert.
Dieser Artikel stammt
von zwei Akt ivist_innen aus dem Unterstützer_innen kreis des
The VOICE Refugee Forums
Selbstorganisation und Kooperation
Eine kritische Sicht auf linke/libertäre Solidaritätsstrukturen und Erfahrungen mit Flüchtlingsprotesten in Thüringen
http://anticapitalista.blogsport.de/images/fluchtlinien.pdf
Die Stimme der Unterdrückten – gegen falsch verstandene Solidarität von Rex Osa (The VOICE Refugee Forum)
https://thevoiceforum.org/node/2318/
Events:
Veranstaltung zur Bilanz einer einjährigen Kampagne und möglichen Zukunfsperspektiven in ThüringenView Edit Isolation Camp/LagerBreak Isolation! Die rassistische Isolation der Flüchtlinge durchbrechen - Selbstorganisation stärken
Referenten des Vortrags mit Diskussion: Miloud L Cherif, Clemens WiggerWann: 16.12.2011 | 19 Uhr | veto | Trommsdorffstr.5 | Erfurt
https://thevoiceforum.org/node/2315
BREAK ISOLATION Aktionstag in Erfurt! | Alle Flüchtlingslager schließen – Residenzpflicht abschaffen!