Michael Stade
Verlängerte Goethestr. 87
99880 Waltershausen
Amtsgericht Gifhorn
Direktor des Amtsgerichts
Herrn Dr. Heinold Willers
Am Schloßgarten 4
38518 Gifhorn
Waltershausen, den 27.03.2012
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Dr. Willers,
das Gericht, welchem Sie vorstehen, hat am 03. April 2012 ein Urteil zu sprechen, nämlich ob der Ruf "Nazis" eines Aktivisten gegen die Handlungsweise von Behörden so, wie von der Gifhorner Kreisrätin und der Behördenleitern aufgefasst, eine strafbare Beleidigung darstellt. Um den Umständen dieses Rechtsstreites gerecht zu werden, muss man wissen, dass die Behörden, welche den Strafbefehl veranlasst haben, durch ihre Handlungen verantwortlich für den Tod eines Menschen sind, nämlich Shambu Lama. In den 15 Jahren seines Aufenthaltes in Deutschland haben sie sich permanent geweigert, ihm eine Perspektive auf ein normales Leben als gleichberechtigter Bürger zu eröffnen, obwohl allein schon die Tatsache, dass er sich so lange diesen entwürdigenden Lebensbedingungen unterworfen hat, jedem vernunftbegabtem Menschen klarmachen müsste, das er sich in einer Notsituation befunden hat und die Rückkehr in sein Heimatland keine zumutbare Alternative für ihn sein konnte.
Natürlich ist sein Schicksal in Deutschland kein Einzelfall und derartige Behördenhandlungen eher der Normalzustand als ein Sonderfall. Letztlich steht die Handlungsweise der Behörden im Kontext einer staatlichen Strategie, Zuwanderung zu begrenzen, wobei Grundrechtsverletzungen an den Flüchtlingen bewusst in Kauf genommen werden.
Die Geschichte der Menschheit seit deren frühesten Anfängen bis heute ist auch eine Geschichte von Migrationsbewegungen. Migration ist ein untrennbarer Bestandteil menschlicher Existenz und von Menschen verursachte geschichtliche Katastrophen wie auch Jahrhunderte friedlichen Zusammenlebens sind Zeugnis wie auch Ergebnis der Art und Weise, wie mit Migration umgegangen wurde. Migration stellt die Gesellschaft, in welche sie stattfindet, vor Herausforderungen, auf welche sie in vielerlei Weise reagieren kann, eine davon ist Rassismus.
Rassismus ist ursprünglich eine Geisteshaltung, in welcher auf der Grundlage einer angenommenen ursächlichen Verknüpfung genetischer Konditionierung mit gesellschaftlich relevanten Eigenschaften das öffentliche Ansehen von Menschengruppen in Misskredit gebracht wird. Damit werden Voraussetzungen für massive Verletzungen der Menschenwürde und anderer unveräußerlichen menschlichen Grundrechten geschaffen. Die Ideologie des Nationalsozialismus war eine extreme Form von Rassismus und massive Verankerung dieser Geisteshaltung im Bewusstsein der Bevölkerung die Bedingung dafür, dass Nazis die politische Macht erringen konnten. Damit einher ging eine systematische Vertreibung all jener Personen aus verantwortlichen Positionen in Staat und Gesellschaft, welche dieser rassistischen Geisteshaltung Widerstand entgegen setzten – Ergebnis: Rassisten unter sich. Trotz brutalster Methoden und industrialisiertem Massenmord gelang es den Nazis allerdings nicht, die von ihnen angestrebte genetische "Reinheit" der Bevölkerung auf deutschem Territorium nach den von NS-Ideologen vorgegebenen Kriterien herzustellen und damit Ergebnisse vorausgegangener Migrationsbewegungen zu revidieren. Stattdessen hatten sie das deutsche Volk in eine beschämende Niederlage geführt, in welcher es sich nunmehr verantwortlich für unbeschreibliche Verbrechen sehen musste.
Als bittere Lehre aus den Folgen einer rassistischen Ideologie bekannte sich das deutsche Volk im Grundgesetz der BRD nunmehr zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt und machte den Schutz der Menschwürde zur höchstpriorisierten Staatsaufgabe. Gleichwohl übernahm die junge Bundesrepublik zahlreiche Exponenten des Nazi-Regimes wieder in öffentliche Verantwortung, welche natürlich auch die Geisteshaltung in der Politik und in Behörden prägten. Die Bedingungen des Kalten Krieges boten Gelegenheit, die Schande der Vergangenheit zu verdrängen und notwendige kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Grundüberzeugungen zu unterlassen.
Da speziell die Begründung mit minderwertigem Erbgut die wesentliche Rechtfertigung für die Nazi-Gräueltaten gewesen war, wurde diese Form der Begründung teilweise zum Tabu, zumindest ruft sie reflexartigen lautstarken Protest hervor. Trotzdem haben rassistische Denkmuster überdauert. Nur nimmt im gesellschaftlichen Diskurs heute die "kulturelle Prägung" diesen Platz des Erbgutes ein. Man vermeidet zwar, von minderwertigen Kulturen zu sprechen, behauptet aber, die Vermischung von Kulturen würde Ursache für Probleme darstellen. So werden auch Eigenschaften wie Fleiß oder Faulheit oder Neigungen zu Verbrechen auf kulturelle Prägungen statt auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurückgeführt.
Da die kulturelle Prägung quasi als frühkindliche Ausstattung eines Menschen angesehen wird, von welcher man sich in seinem Leben genau so wenig trennen kann, wie von seinem Erbgut, deshalb wirkt der Diskurs über "Multi-Kulti" gesellschaftlich auch nach den gleichen Mechanismen, wie seinerzeit der Diskurs über minderwertiges Erbgut. Das Ergebnis ist das gleiche, nämlich die gesellschaftliche Tolerierung von Handlungen, welche die unveräußerlichen Menschenrechte bei bestimmten Gruppen verletzen. Bei staatlichem Handeln äußert sich dieser Rassismus darin, dass bei der Gewährung des Schutzes unveräußerlicher menschlicher Grundrechte an bestimmte Menschengruppen (abhängig von Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauungen) andere Maßstäbe angelegt werden, also Menschenrechte wie Privilegien gehandhabt werden, die man nach Gutdünken gewähren oder vorenthalten kann.
Die Wirkung des kulturell begründeten Rassismus ist ähnlich, wie die Wirkung des genetisch begründeten Rassismus, den Menschen, welche in Deutschland leben, werden von staatlicher Seite unterschiedliche Existenz-Bedingungen gewährt bzw. verordnet, abhängig von ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrer Sprache, ihrer Heimat und Herkunft, ihres Glaubens... und heutzutage auch davon, auf welchem Weg sie eingereist sind und unter welchen Umständen sie von ihrer Heimat nach Deutschland gekommen sind. Was Politiker und Beamte, die in dieser Geisteshaltung handeln, praktisch betreiben, ist nichts anderes, als die Aushöhlung und Pervertierung und die Demontage unserer grundgesetzlichen Rechtsordnung.
Das Perfide an den mit solchem Rassismus einhergehenden staatlichen Handlungen ist, dass mit diesem Maßnahmen genau die gesellschaftlichen Eigenschaften bei den davon betroffenen Menschen provoziert werden, mit denen diese Maßnahmen ursprünglich begründet wurden. So führt die Weigerung, Flüchtlingen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren dazu, dass "Migration überdurchschnittlich in die Sozialsysteme" stattfindet, womit die kulturell begründete "Faulheit", die Asylsuchenden oft unterstellt wird, sich scheinbar bestätigt.
Wenn Flüchtlinge in der Ausweglosigkeit ihrer von deutschen Behörden verordneten Existenzbedingungen nicht, wie Shambu Lama, den Suizid vorziehen, sondern sich statt dessen als letztem Ausweg vom organisierten Verbrechen rekrutieren lassen, dann kommt es zu einer statistisch messbaren überdurchschnittlichen Ausländerkriminalität, für die dann aber nicht das menschenverachtende System der Asylverweigerung, sondern die stärkere Neigung zu Verbrechen auf Grundlage einer vermeintlichen kulturellen Prägung verantwortlich gemacht wird.
Wenn junge Frauen der dritten Generation von Einwanderern heute vermehrt das Kopftuch tragen, so ist auch dies nicht das Resultat einer von den Eltern eingeimpften islamischen Kultur (oft trug ja die Mutter selbst schon kein Kopftuch mehr), sondern vielmehr das bewusste Zeugnis einer eigenen Identität, die sich gegen die staatliche wie auch gesellschaftliche Diskriminierung abhebt und die sich weigert, sich mit der Mehrheitsbevölkerung, die dieses staatliche und gesellschaftliche Unrecht betreibt oder toleriert, gemein zu machen.
Die Besonderheit, dass rassistisch motiviertes Unrecht Folgen hat, die scheinbar die rassistischen Vorurteile bestätigen, führt dazu, dass ethnische Konflikte die Tendenz haben, zu eskalieren. Nicht nur die Eskalation des Judenhasses in der Zeit des Nationalsozialismus ist dafür ein eindringliches Beispiel. Tausende ethnischer Konflikte auf der ganzen Welt laufen nach diesen Mechanismen ab. Und dort, wo diese Mechanismen durchschaut werden, wo Rassismus geächtet wird und gegen dessen Unrecht beherzt eingeschritten wird, dort können Inseln langjährigen Friedens und gesellschaftlicher Harmonie entstehen, andernorts Übergriffe und Bürgerkrieg. Der hohe Stellenwert der Gastfreundschaft in vielen uns fremden Kulturen ist Ausdruck solcher, durch bittere Erfahrung in der Vergangenheit erlangter Weisheit, für die wir in Deutschland immer noch ein Entwicklungsland sind.
Somit haben rassistische staatliche Praktiken nicht nur das Leid der Betroffenen zur Folge, sondern sie verfestigen und verschärfen auch rassistische Denkmuster in der Bevölkerung und gefährden somit längerfristig den Bestand einer demokratischen Grundordnung, sie demontieren die rechtsstaatliche Ordnung.
Der Irrtum, dass mittels Asylverweigerung die Zuwanderung signifikant gebremst werden könnte, hat dazu geführt, dass Schätzungen heute von ca. einer Million sogenannter "Illegaler" in Deutschland ausgehen. Es handelt sich um Menschen, die massenweise unter menschenunwürdigsten Bedingungen in unserem Land leben, weil sie der Staat abschieben würde, statt ihre Grundrechte zu schützen, sodass sie die Verletzungen ihrer Grundrechte als das kleinere Übel hinnehmen. Würde diesen Menschen eine legale Bleiberechtsperspektive eröffnet, dann würde vielen Kriminellen ihr Rekrutierungspool trocken gelegt, aus welchem sie Menschen in verzweifelter Lage dazu missbrauchen, riskante Straftaten zu begehen. Dann müssten sie diese Taten nämlich selbst begehen und bald würde ihnen das Handwerk gelegt. So aber werden andere erwischt und sie, die eigentlichen Initiatoren der Verbrechen, bleiben unbestraft. So entstehen Kriminalstatistiken (Ausländerkriminalität), welche die Bürger an den Stammtischen dazu motivieren, nach noch restriktiveren Gesetzen gegen Ausländer zu rufen.
Die massenweisen Initiativen gegen Flüchtlinge, mit denen Deutschland inzwischen ganz Europa infiziert hat (Drittstaatenregelung im Asylrecht, Forderung zur „Sicherung“ der EU-Außengrenzen), führen nicht nur jährlich zu Tausenden Toten an diesen Grenzen. Sie führen auch dazu, dass die Stimmen von Flüchtlingen nicht gehört werden. So bleibt der Öffentlichkeit verborgen, wenn auch deutsche Unternehmen Profit auf eine Art und Weise realisieren, wobei möglicher Weise in Afrika oder anders wo Millionen von Menschen die Existenzgrundlage entzogen wird. Damit fehlen die Voraussetzungen, solche Auswüchse rechtzeitig zu erkennen und ihnen politisch einen Riegel vorzuschieben. Im Ergebnis nimmt nun die Zahl der Flüchtlinge weltweit schneller zu als die Bevölkerung auf der Erde. Indem so das Flüchtlingselend weltweit wächst, nimmt auch der Zuwanderungsdruck auf Deutschland zu, einem Land, welches überdurchschnittlich diesen Flüchtlingsdruck, der natürlich auch andere Länder trifft, durch seine Politik mit zu verantworten hat. Die UNO-Flüchtlingshilfe spricht für 2008 von 42 Mio. Flüchtlingen, das sind im Weltmaßstab pro 1000 Einwohner 6 Flüchtlinge. Das BAMF meldet für 2010 nur 346.630 Flüchtlinge, denen Deutschland Schutz bietet, darunter sind aber 89.498 Geduldete, die eigentlich abgeschoben werden sollen. Trotzdem kommen so auf 1000 Deutsche nur 4,23 Flüchtlinge - weit unter dem Welt-Durchschnitt. Gelingt es nicht, dieser Entwicklung gegenzusteuern, dann sind geschichtliche Katastrophen in der Zukunft vorprogrammiert, die auch uns in Deutschland bedrohen.
Die Behörden in Gifhorn haben Shambu Lama durch ihre Amtsausübung fahrlässig getötet, bewusst und vorsätzlich auch den Tod billigend in Kauf nehmend. Natürlich ist derjenige, welcher die für den Suizid ursächliche Abschiebeandrohung verfasst hat, nicht allein verantwortlich. Er handelte schließlich auf Anweisung und in einem Team, welches diese Praxis für angemessen hielt. Es gibt Verantwortliche, welche die zugrunde gelegten Durchführungsanordnungen ausgearbeitet haben. Letztendlich gibt bzw. gab es Politiker, welche Gesetze verabschiedet haben, die in krassem Gegensatz zum Grundgesetz stehen, wie etwa das Asylbewerberleistungsgesetz und das Aufenthaltsgesetz inklusive dem Residenzpflicht-Paragraphen. All diese haben zur Demontage unserer demokratischen Rechtsordnung beigetragen und klar gegen den Geist des Grundgesetzes verstoßen. Aber im Gegensatz zum Nationalsozialismus können sich die Beamten in den Behörden von heute nicht auf einen Befehlsnotstand berufen. Es ist ihnen sogar untersagt, Anweisungen, welche die Menschenwürde eines Flüchtlings verletzen, umzusetzen, da die Grundrechte unmittelbar bindende Wirkung entfalten. Insofern sind sie bei ihren Amtshandlungen vielleicht nicht konkret der Nazi-Ideologie gefolgt. Sie sind aber einem Rassismus gefolgt, welcher als Geburtshelfer des Nationalsozialismus Pate gestanden hat und der heute dafür verantwortlich ist, dass wir wieder ein Problem mit Neonazis haben, bis hin zu den grausamen Morden, die von diesen ausgehen.
Ich fordere Sie auf, die Mitschuld der Behördenmitarbeiter an dem Suizid von Shambu Lama im Rahmen der gerichtlichen Verhandlung ihrer Schwere entsprechend untersuchen zu lassen. Einen Menschen systematisch in eine ausweglose Situation zu treiben, in welcher er nur noch den Suizid als Ausweg sieht, ist unvereinbar mit dem Schutz der Menschenwürde. Eine Justiz, die eine derartige Verletzung des Grundgesetzes durch Beamte (unter Brechung ihres Amtseides auf das Grundgesetz) mit tödlichen Folgen ungestraft ließe, sobald sie in einem Prozess mit derartigen Zuständen konfrontiert ist, erschiene in der internationalen Wahrnehmung nicht mehr als rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet, möglicher Weise wegen Mängeln in der Gewaltenteilung, also mangelnder Unabhängigkeit und würde das Ansehen der deutschen Justiz schwer beschädigen.
Würde darüber hinaus aber auch noch ein Aktivist für schuldig gesprochen, der durch den Ausruf "Nazis" die Verwandtschaft in der Geisteshaltung von Beamten in Bezug auf rassistische Denkmuster mit tödlichen Folgen skandalisiert hat, während auf der anderen Seite der Verantwortlichkeit für den Tod eines Menschen nicht nachgegangen würde, dann erschiene die Justiz als verlängerter Arm einer Willkür treibenden Exekutive, so wie es für Unrechtsstaaten typisch ist. Ich bitte Sie, dafür Sorge zu tragen, dass im Sinne des Grundgesetzes in dem Amtsgericht, dem Sie vorstehen die unmittelbare Bindung an die verfassungsmäßigen unveräußerlichen menschlichen Grundrechte mit der gebührenden Priorität entsprochen wird und Vertreter der Exekutive, welche diese rechtstaatliche Grundordnung verlassen haben und sie in ihrer Amtsführung demontieren, gemäß der Schwere der Folgen ihrer Taten zur Verantwortung gezogen werden.
Mit freundlichen Grüßen
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Strafbefehl gegen KARAWANE aktivisten vor Gericht 03. April 2012
An die Öffentlichkeit
an die Medien
Aufruf zur öffentlichen Prozessbeobachtung
Am 03. April findet ein Prozeß vor dem Hintergrund der öffentlichen Proteste anläßlich des Todes des Flüchtlings und Vater eines Sohnes, Shambu Lama, statt.
Ein Aktivist der KARAWANE für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen wurde von der Gifhorner Kreisrätin und Behördenleitern der doppelten Beleidigung und des Aufrufs zu Straftaten angezeigt. Die Staatsanwaltschaft verhängte ein Strafbefehl von 100 Euro wegen Beleidigung durch mehrfaches NAZIS,NAZIS Rufen.
Dagegen legte der Aktivist Widerspruch ein.
Dienstag, 03. April 2012,
Amtsgericht Gifhorn, Am Schloßgarten 4, 38518 Gifhorn
Beginn: 10.45 Uhr Saal 120
Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen - Hamburg
Internationales Zentrum B5
Brigittenstrasse 5, 20359 Hamburg St.Pauli
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