Auf der Landstraße bei Waltershausen (Thüringen): Asylbewerber mit ihren Protestparolen marschieren in Richtung Berlin. Foto: Patrick Guyton
Waltershausen Thür: Flüchtlinge überschreiten Grenzen
Berlin
Flüchtlinge überschreiten Grenzen
Sie überschreiten Grenzen - Landesgrenzen und gesetzliche Grenzen. In Bayern untergebrachte Asylbewerber marschieren aus Protest gegen die Bedingungen ihres Aufenthalts in Deutschland nach Berlin.
Autor: PATRICK GUYTON | 20.09.2012
Auf der Landstraße bei Waltershausen (Thüringen): Asylbewerber mit ihren Protestparolen marschieren in Richtung Berlin. Foto: Patrick Guyton
Am Morgen um halb zehn schnappt sich Mohammed Kalali das Megafon. Laut und durchdringend ruft der schmale Mann zum Aufbruch, während er hin und her läuft. Der Verstärker lässt seine persischen Sätze scheppern. "Guten Morgen, bitte alle bereitmachen, in 15 Minuten gehen wir los." Drei, vier Mal wiederholt der 32-Jährige das, und innerhalb kurzer Zeit kommen die Leute aus der einstigen "Puppenwerkstatt", einem großen roten Backsteinhaus. Einer nach dem anderen, die Rucksäcke in den Händen, die Wanderschuhe geschnürt. Der Jahrhundertwendebau ist nur teilsaniert, ein von einem Verein namens "Kommune" betriebener multikultureller Treff. Hier durften sie schlafen.
Aufbruch - das ist für diese Menschen immer noch ein neues Gefühl, auch am Tage acht ihres Marsches in Richtung der Hauptstadt Berlin. Aufbruch statt Langeweile und dem Gefühl des Eingesperrtseins, Aufbruch statt erzwungenem Nichtstun im Asylbewerberlager. "Ich kann jetzt plötzlich besser atmen", sagt der Iraner Keyvan Shafiee, während er noch einen Schluck Instantkaffee aus dem Plastikbecher trinkt. Hier in Waltershausen, einer 10 000-Einwohner-Stadt in der tiefsten thüringischen Provinz in der Nähe von Gotha, haben sie übernachtet. Weiter geht es über Wahlwinkel nach Cobstädt, wo sie am Nachmittag eintreffen wollen - 370 Einwohner hat das Dorf, bis zur Landeshauptstadt Erfurt ist es dann nicht mehr sehr weit.
Die Asylbewerber laufen. Zu Fuß quer durch halb Deutschland, in 25 Etappen von Würzburg aus nach Berlin, das sind 568 Straßenkilometer. "Refugee Protest March" nennen sie die Aktion - Protestmarsch der Flüchtlinge. "Ich habe mich wie ein Gefangener gefühlt", erzählt Keyvan über die Zeit, als er in der Sammelunterkunft in Nürnberg lebte. "Man hält es dort nicht aus, es ist zu laut, zu eng." In Gorgan im Nordiran hatte der 24-Jährige Bauingenieurswesen studiert, bevor er nach Deutschland floh. "Hier kann ich nicht an die Uni, kann nicht einmal einen Sprachkurs besuchen", klagt er. Seit elf Monaten wartet der Mann mit der hellen Haut und den rötlichen Haaren auf seinen Asylbescheid. Im Iran wurden er und weitere Studenten nach den Protesten gegen den Präsidenten Ahmadinedschad vor zwei Jahren verfolgt. "Die Polizei hat viele abgeholt, sie sind seitdem verschwunden."
An einem Tag sind es 15 Flüchtlinge, die dabei sind, am anderen 20. Ein Dutzend deutsche Unterstützer begleiten den Tross mit Autos, fahren vor, kümmern sich um Essen und Übernachtung, informieren auf der Homepage über den aktuellen Stand. Um was es den Flüchtlingen geht, das skandieren diese auf der Strecke immer wieder lautstark. "Kein Mensch ist illegal - Bleiberecht überall", rufen sie. Oder: "Eins, zwei, drei, vier - alle Menschen bleiben hier."
Es ist ein Marsch, der die Grenzen überschreitet - von Landkreisen, von Bundesländern. Und es ist ein Marsch, mit dem laufend deutsches Recht gebrochen wird, ganz bewusst und absichtlich machen die Flüchtlinge das. Denn eigentlich unterliegen Asylbewerber der so genannten Residenzplicht. Diese besagt, dass sie nicht ohne Genehmigung den Landkreis verlassen dürfen, dem sie zugeteilt wurden.
Hassan Siami hat seine Wanderschuhe über Nacht auf der Heizung getrocknet. Die beiden Nächte zuvor hatten sie in Zelten geschlafen. "Es war kühl, es war feucht, teilweise hat es geregnet", sagt der 30 Jahre alte Kurde aus dem Nordirak. Früher hat er im Textilhandel gearbeitet - "finanziell stand ich gut da, ich will hier in Deutschland nicht auf Kosten des Staates leben". Hassan findet es erniedrigend, dass er von den Behörden Essenspakete vorgesetzt bekommt und nicht selbst bestimmen darf, was er isst: "Das ist wie bei den Tieren im Stall."
Die in Heimen abgeschotteten Flüchtlinge treffen auf die Wirklichkeit. Eine neue Erfahrung: Es gibt in Deutschland Menschen, denen ihr Schicksal nicht egal ist. Etwa den Bürgermeister des Örtchens Henneberg, der ihnen zum Campieren eine Wiese neben dem Sportplatz zur Verfügung stellt. Bei der Abreise bekommen sie noch ein gemeindeamtliches Empfehlungsschreiben: Sie haben sich gut benommen, man könne diese Menschen bedenkenlos unterstützen. Oder jenen älteren Mann im fränkischen Münnerstadt, der ihnen die erste Etage seines Hauses zur Verfügung stellte und nur sagte: "Ihr könnt hier machen, was ihr wollt."
Doch es gibt auch andere Deutsche. Die NPD etwa hat die mutmaßliche Route der Flüchtlinge an ihre Orts- und Kreisverbände weitergeleitet. "Asyl ist kein Selbstbedienungsladen", hetzen die Rechtsradikalen. Mit unterschwelligem Gewaltaufruf wird zu "vielfältigen Aktionen" gegen den Flüchtlingszug aufgefordert.
Am Spätnachmittag in Waltershausen entschließen sich die Marschierer, das dortige Asylbewerberheim zu besuchen. Die Unterkunft ist ein Plattenbau in einem trostlosen Gewerbegebiet. Ein privater Wachmann holt die Polizei, die rückt mit fünf Wagen und zwei Kleinbussen an. Doch schnell machen die Protestierer auch hier die Erfahrung mit der Staatsmacht, die sie bisher schon auf dem ganzen Marsch erlebt haben und zuvor so nicht kannten: Die Polizei als Freund und Helfer. Der diensthabende Beamte vereinbart mit der Gruppe, dass sie eine halbe Stunde bleiben kann. "Dann ist ja alles gut", sagt er. Nur keine Eskalation mit diesem politisch heiklen Asylbewerber-Tross.
Deshalb passt eine Polizeistreife auch nachts vor der "Puppenwerkstatt" auf. Tage zuvor sicherten Beamte an der Landesgrenze zwischen Thüringen und Bayern die Marschierer auf einer vielbefahrenen Straße ab. An der ehemaligen Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR zücken die Flüchtlinge ihre vorläufigen Ausweispapiere und zerreißen sie. Die Dokumente, die sie in ihren Landkreisen festhalten, wollen sie nicht mehr. "Wir sind nicht falsch, sind keine Betrüger", sagt der Kurde Hassan Siami. "Wir machen jetzt diese Grenze für uns kaputt." Weiter ziehen sie dann durch den Thüringer Wald. "Das erinnert mich so sehr an die Wälder am Kaspischen Meer", sagt der Iraner Keyvan Shafiee später.
Warum duldet die Politik das alles, warum schreiten die Behörden nicht ein? Seit einem halben Jahr protestieren die Asylbewerber - in Zelten wie in Würzburg und Regensburg, mit Hungerstreik und zugenähten Lippen. Und nun mit dem Marsch. Es gibt keine offiziellen Stellungnahmen dazu. Bayern zumindest dürfte es ganz recht sein, dass die Leute jetzt erst einmal außerhalb des Freistaates sind.
Symbolträchtig am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, möchten sie in der Hauptstadt ankommen und ihre Forderungen verkünden. Und dann? "Ich gehe nicht mit leeren Händen zurück", meint Hassan Siami. Keiner sagt es so genau, aber es ist klar: Die Gruppe stellt sich darauf ein, notfalls in Berlin zu überwintern.
http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Fluechtlinge-ueberschreiten-G…
Asyl Der lange Marsch durch Deutschland
Von Katja Tichomirowa, Frankfurter Rundschau
Eine Gruppe von Asylbewerbern läuft zu Fuß von Würzburg nach Berlin, um gegen ihre Lebensumstände zu protestieren.
Erfurt: Es ist ein friedliches vormittägliches Bild: Eine Gruppe junger Leute, die meisten wohl nicht einmal zwanzig, hocken unter Bäumen vor dem Thüringer Landtag. Der Himmel ist wolkenlos, eine milde Spätsommer-Sonne scheint. Es könnte ein Schulausflug sein, lägen nicht ein paar Transparente ausgebreitet im Gras: „Break Isolation“ steht auf einem, durchbrecht die Isolation. Und: „Refugee strike“, Flüchtlingsstreik. Die Aktivisten, wie sie sich nennen, warten auf die Protagonisten ihrer Aktion. Apfelsaft und Kekse stehen bereit und ein Schuhkarton mit Medikamenten, Aspirin, Wundsalben und Mittel gegen Muskelschmerzen. Eine Erste Hilfe für Wanderer.
Die biegen wenig später um die Ecke, 19 Asylbewerber auf ihrem Marsch durch Deutschland. Seit zehn Tagen sind sie zu Fuß unterwegs. In Würzburg sind 15 von ihnen am 8. September gestartet, vier haben sich unterwegs angeschlossen. Sie wollen es bis Berlin schaffen, „den Protest in die Hauptstadt tragen“, sagt Arash, einer ihrer Sprecher.
Fortwährende Bedrohung
Nach sechs Monaten, die sie schon in ihren bayerischen Asylbewerberheimen und Lagern gegen die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit protestiert hätten, sei ihre Gruppe nun aufgebrochen, um auch in den anderen Bundesländern auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Sie wollen eine Abschaffung der Residenzpflicht erreichen, die sie als Flüchtlinge an die Orte bindet, in denen sie Aufnahme gefunden haben. Sie kämpfen für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände und für die Erlaubnis, arbeiten zu dürfen, damit sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Vor allem aber erheben sie sich gegen die fortwährende Bedrohung, jederzeit abgeschoben werden zu können.
Aufbegehren gegen die Residenzpflicht
Am 8. September hat sich eine Gruppe Asylbewerber in Würzburg auf den Weg nach Berlin gemacht. Ihr gehören Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran und der Türkei an.
Die Routen sind angemeldet, ebenso die Zeltplätze und Kundgebungen. Die Polizei in Bayern und Thüringen wertete die Verletzung der Residenzpflicht bislang als Ordnungswidrigkeit und schritt an keinem Ort ein.
45.741 Flüchtlinge haben 2011 in Deutschland Asyl beantragt. Im Vergleich zu 2010 ist ihre Zahl um elf Prozent gestiegen – auf den höchsten Wert seit acht Jahren. Die Schutzsuchenden kommen vor allem aus Afghanistan, dem Irak und Syrien.
Alireza ist einer von ihnen. Die knapp 200 Kilometer, die er von Würzburg nach Erfurt gelaufen ist, sind ein Spaziergang gegen den Weg, den er in den vergangenen fünf Jahren zurückgelegt hat. Geboren wurde er vor 23 Jahren im Iran, wohin seine Eltern vor den Kriegswirren in Afghanistan geflüchtet waren. Seine Familie stammt aus einem Dorf in der afghanischen Provinz Bamiyan. „Ganz in der Nähe der Buddha-Statuen, die von den Taliban zerstört wurden.“
Fremdes Heimatland
„Ich war nie in meinem Leben in Afghanistan“, erzählt er. Den Behörden galt er dennoch als Afghane, egal, wohin er kam. „Aber wir haben eine ganz andere Kultur, wir sehen anders aus und man will uns dort nicht.“ Tatsächlich sieht man Alireza seine Herkunft an. Die Hazara sind eine eigene Volksgruppe in Afghanistan, die turko-mongolischer Abstammung ist. Die persisch-stämmige paschtunische Elite hat viele Hazara als Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus dem Land gedrängt.
Alireza kam 2010 nach Deutschland, inzwischen hat er eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Seine Geschichte erzählt er auf Deutsch. Er spricht es flüssig, nur selten sucht er nach dem richtigen Wort. Gelernt hat er das in nur sechs Monaten. „Ich durfte einen Sprachkurs machen“, sagt er. Im Iran zur Schule gehen konnte er nicht. „Mein Vater konnte das Schulgeld nicht bezahlen.“ Eine kostenlose Schulbildung für Flüchtlingskinder war nicht vorgesehen. Sein Vater hat ihn Lesen und Schreiben gelehrt.
„Ich habe mit acht Jahren angefangen zu arbeiten, auf dem Bau, in einer Ziegelei und auf dem Feld.“ Auf dem Bau arbeiten könnte er auch hier. Wenn er eine Arbeitserlaubnis bekäme. „Aber die bekomme ich nur, wenn kein Deutscher die Arbeit machen will.“ Und auch dann muss das Arbeitsamt noch prüfen, ob nicht ein anderer, der schon eine Arbeitserlaubnis hat, vorgezogen werden muss.
Auslöser in Würzburg
Alireza könnte mehr. Man muss keine fünf Minuten mit ihm sprechen, um das zu wissen. Könnte er einen Schulabschluss nachholen, es wäre ein Leichtes für ihn, sich auf eigene Füße zu stellen. Sein Ziel ist bescheidener. Er will für sich selbst sorgen und frei bestimmen können, wo er leben will. Dafür ist er die 200 Kilometer von Würzburg nach Erfurt gelaufen.
Alireza ist ein ernster junger Mann. Er trägt ein schwarzes T-Shirt. Darauf steht: Kein Mensch ist illegal. Alireza hat ein befristetes Aufenthaltsrecht, er ist nicht einmal der Form halber ein „Illegaler“. Aber man sieht ihm an, wie oft ihm schon erklärt wurde, dass er unerwünscht ist. Auslöser des gemeinsamen Protests war der Selbstmord eines Asylbewerbers in einem Würzburger Flüchtlingsheim.
Die Flüchtlinge und ihre deutschen Unterstützer sitzen zusammen vor dem Landtag, als ein NPD-Trupp um die Ecke biegt. „Haut ab“, schreien ihnen die Deutschen entgegen. Sie sind so schnell verschwunden, wie sie gekommen sind. Ein paar Aktivisten kommen mit erbeuteten NPD-Transparenten zurück. Es war der erste Zwischenfall dieser Art, seit die Gruppe unterwegs ist. Bis zum 4. Oktober wollen Alireza und seine Mitstreiter die rund 270 Kilometer bis Berlin gelaufen sein.
http://www.fr-online.de/politik/asyl-der-lange-marsch-durch-deutschland…
Protestmarsch gegen Flüchtlingslager
20.09.2012 | 05:46 Uhr
http://www.derwesten.de/staedte/bochum/protestmarsch-gegen-fluechtlings…