Refugees march About 25 refugee claimants who are seeking political asylum are marching nearly 600 kilometres across Germany to protest their conditions. Sean Gallup/GETTY IMAGES
Gemeinsam Grenzen versetzen
Seit drei Wochen sind Menschen zu Fuß unterwegs von Würzburg nach Berlin, das sie in wenigen Tagen erreichen werden, und fordern das Recht auf Leben in Freiheit und Würde. Denn das wird in dieser Gesellschaft Menschen, die nach Deutschland fliehen, aus den Ländern und Kontinenten, in denen dieser Staat mit Macht und Geld Einfluss nimmt, verweigert. Wenn sie die Mauern, die gegen sie errichtet werden, überwunden haben, werden sie in Lagern isoliert, wird ihnen die Bewegungsfreiheit genommen, werden sie gejagt und permanent kontrolliert, erhalten Gutscheine zum Überleben, dürfen keine Arbeit oder Ausbildung suchen, werden der Deportation ausgesetzt und dem, nichts anderes machen zu können, als auf diese zu warten oder darauf, dass sie aufgeschoben wird. Dem haben Flüchtlinge vor einem halben Jahr ein Ende gesetzt und sind auf den zentralen Platz "ihrer" Stadt gegangen, um dort gegen die Isolierung zu protestieren. Wie üblich haben sich die Verantwortlichen taub gestellt und die deutschen Paragraphen und Erlasse wiederholt. So haben sich die Flüchtlinge dazu entschlossen, das Verbot zu durchbrechen und in die Stadt der deutschen Regierung zu gehen. "Damit machen wir nur weiter, die Isolation zu durchbrechen und auch Hoffnung zu geben für die anderen Flüchtlinge, die nicht mitmachen, und ihnen Mut zu geben, in Zukunft selber etwas machen zu können, und nicht mehr Angst zu haben vor den ganzen Gesetzen und davor sie ändern zu können" (Turgay).
Mit dem Marsch machen die Flüchtlinge und alle, die sie begleiten, das was alle Menschen machen: sich auf dieser Welt zu bewegen. Zu gehen, zu existieren, ein Teil dieser Welt zu sein. Doch den Menschen, die nicht aus den westlichen Ländern kommen, nicht zumindest Kapital oder nachgefragte Arbeitskraft bringen oder eine seltene Ausnahme erhalten, wird selbst das verwehrt. Sie werden eingesperrt, kriminalisiert, verfolgt und isoliert. Bei dem Marsch wird deutlich, dass in diesem Land jeder Schritt reglementiert und der rassistischen Beurteilung unterworfen wird: Nicht was du machst, sondern woher du kommst, entscheidet über den nächsten Schritt und dessen Zulassung durch die Staatsgewalt (oder deren rechten KomplizInnen). Davon ausgehend werden die Grenzen der erlaubten Existenz rechtsstaatlich definiert. "Ich als ausländischer Student darf hier solange bleiben, wie ich studiere, wenn ich fertig bin, muss ich weggehen, das steht alles fest. Bei Gastarbeitern haben sie gedacht, sie kommen fünf Jahre, dann gehen sie weg. Aber wenn man jahrelang woanders wohnt, gewöhnt man sich daran und das ist sein Recht, hier zu bleiben wenn es ihm hier gefällt" (Emir).
Und wer nach Deutschland flieht, lebt "illegal" oder wird als Asylbewerber eingesperrt. Mit dem Marsch kommen Flüchtlinge jedoch aus den unsichtbaren Gefängnissen heraus, in die sie sofort nach ihrer Ankunft in Almanya abgeschoben werden. Sie nehmen sich das Recht eines jeden Menschen, das durch die deutsche Staatsmacht und die schweigende Mehrheit zerstört wird. Gehen bedeutet sich weiterbewegen, Orte verändern, Markierungen überwinden, atmen, sehen, Kontakt aufnehmen, Mauern verlassen, verstehen und handeln können, sich nicht aufhalten lassen, durch ihre Kontrollen, ihre Technik und ihre Gesetze. Auf diesem Marsch und allen weiteren Aktivitäten geht es um Rechte, die Teil des Lebens sind, und nicht um neue Gesetze. Wir fordern nicht ein Gesetz, das die Bewegung erlaubt, sondern die Abschaffung der Kriminalisierung und das Ende der Entwürdigung. Das Problem entsteht nicht durch die Bewegung von Menschen, sondern durch die nationale Kollektivierung, die in dem Ausschluss und der Entrechtung aller, die als undeutsch definiert werden, ihren gewalttätigen Ausdruck findet. Seitdem dieser Staat existiert, arbeitet er an allen denkbaren Methoden der Ausgrenzung, Segmentierung, Selektion und Klassifizierung. Den permanent ausgearbeiteten detaillierten Apparat der Deklassierung kennen alle MigrantInnen, noch vor und mit jedem weiteren Schritt in diesem Land. Selbst wem die Gnade eines Aufenthalts gewährt wird, dem knallt die Ausgrenzung als Forderung nach Integration entgegen. Alle anderen erleben hier täglich, was es bedeutet, wenn diese gleichzeitig verweigert wird. "Wir trafen einen Mann in dem Lager in Möhlau, der seit 18 Jahren dort lebt, und er geht nie raus, weil das Gefängnis überall ist in Deutschland: wenn er raus geht auch wenn es legal ist, dann trifft er Polizisten, die Ausweis und Landkreis verlangen. Die Gesellschaft ist so organisiert, dass es draußen nur Gefahr für ihn gibt" (Claudio).
Auch wenn während des Marsches gelegentlich zu hören ist, wie hartnäckig sich bei Deutschen die Gerüchte über das angebliche Luxusleben der Flüchtlinge halten, erhalten diese auch Mitleid und Zuspruch durch Teile der Bevölkerung. Dass dieses an dem Aufenthaltsverbot nichts ändert, liegt nicht an einem Informationsdefizit über Residenzpflicht und die Lager, sondern an dem Konsens, der die rassistischen Selektion in dieser Gesellschaft als gegeben nimmt. Die Flüchtlinge gehen dennoch ihren Weg, auch mit der praktischen Unterstützung von Menschen mit einer kritischen Position zur kolonialen Gesellschaft und die gegen ihre eigene Verstrickung darin anarbeiten. So ist das solidarische Ziel auf dem gemeinsamen Weg von Flüchtlingen und Sympathisant_innen, der Ausgrenzung und Isolierung ein Ende zu bereiten und ein gutes Leben an Orten der eigenen Wahl zu erkämpfen. "Die Deutschen sind ein pazifiziertes Volk, sie gehen arbeiten und gucken Fernsehen. Ich hoffe, dass die Leute für sich selbst ihre Isolation durchbrechen" (Turgay). Sicher ist aber, dass die Menschen, denen in Deutschland wie an den Orten, von denen sie geflohen sind, das Recht auf ein Leben verweigert wird, bleiben werden.
Marc
Mobilisierung in Flüchtlingsunterkünften – JETZT! Kommt alle nach Berlin!
https://thevoiceforum.org/node/2786
Flüchtlings-Protestmarsch Demonstration in Berlin am 13. Oktober
https://thevoiceforum.org/node/2781