Erfurt, 19.9.2012
Originaltext in türkisch (türkce)
Heute ist der 11. Tag unseres Freiheitsmarsches. Derzeit befinden wir uns vor dem Stadtrat in Erfurt. Gestern haben wir die Flüchtlingsheime in Erfurt besucht, wo wir unsere Aufrufe ver-teilten, unsere Transparente ausbreiteten und unsere Reden hielten. Mit anderssprachigen Menschen haben wir uns unterhalten, indem diejenigen unter uns, die deren Sprache spra-chen, übersetzten. So haben wir erklärt, warum wir uns auf einem Protestmarsch nach Berlin befinden. All diejenigen, denen wir bis jetzt die Augen öffnen konnten, haben uns ihre Unterstützung zugesagt. Wir hörten uns jede einzelne ihrer tragischen Lebensgeschichten an. Alle hatten berichtet, dass sie in Isolation leben.
Ja, gestern war der 11. Tag unseres Marsches, doch da mir gestern die Zeit fehlte, schreibe ich erst heute. Heute haben wir den 12. Tag hinter uns gelassen. Gestern hatten wir in Erfurt übernachtet. Der Ort war derselbe, an dem wir bereits das Break Isolation Camp durchgeführt hatten. Insgesamt waren wir zwei Tage in Erfurt und haben dort diverse Programme durchgeführt. Die Namen Gotha und Erfurt hatte ich das erste Mal in einem Buch von Marx gelesen. Dass ich eines Tages, auf einem Marsch nach Berlin, diese Städte durchqueren würde, hätte ich nie gedacht.
Als wir gestern vor dem Thüringer Landtag in Erfurt eine Protestaktion durchführten, kam eine Gruppe von Faschisten mit Transparenten auf uns zu. Doch ähnlich wie wir den Hitlerfaschismus, der sagte, er würde Gott eine Welt mit einer einzigen Rasse präsentieren, vor Stalingrad zum Halt gebracht haben, haben wir auch seine heutigen Karikaturen gestoppt. Ihre Transparente wurden ihnen entnommen, zerknüllt und weggeschmissen, und diese Faschisten, die an der Zahl nicht mehr als fünf betrugen, haben sich schnell wieder aus dem Staub gemacht. Somit wurde das erste Unternehmen der Faschisten, die im Vorfeld angekündigt hatten, sich uns in den Weg zu stellen, vereitelt. Daraufhin führten wir unsere Aktion vor dem Stadtrat fort, als sei nichts geschehen. Wir hingen unsere Transparente an die Wände, tanzten in Begleitung von Musik, hielten Reden, führten um 16 Uhr den Protest vor dem Stadtrat durch und fingen anschließend an, uns in Richtung Stadtzentrum zu bewegen. Es schlossen sich uns auch Menschen an, die wir zuvor im Heim in Breitenworbis besucht hatten. Als die Gruppe sich wieder in Gang setzte, hatte sich unsere Zahl um ein Vielfaches erhöht. Wir kamen an einigen Heimen vorbei und verteilten dort unsere Broschüren und Aufrufe, hielten Reden am Megafon und sangen auch hier den „Ciao Bella“-Marsch auf Türkisch.
Nach einer langen Stadttour trafen wir schließlich am Hauptbahnhof ein. Auch hier öffneten wir unsere Transparente, riefen unsere Slogans und hielten unsere Reden. Nun ist es so, dass wir bereits am Vortag beschließen, wie das Programm des nächsten Tages aussehen wird. Auch das Kochteam ist mit seinem Essen immer dort präsent, wo wir übernachten.
Ja, unsere Füße sind wundgelaufen. Einige von uns haben Schwierigkeiten beim Gehen. Doch so soll es sein, denn unsere Köpfe sind frei. Unsere Augen blicken auf den Horizont, unser Gesicht schaut in Richtung Sonne. Der Schmerz unserer wunden Füße stört uns nicht. Wir fühlen uns stark, weil uns Grenzen und Unterdrückungen nicht beugen. Dank unserer Füße, die vom Marsch gegen Ungerechtigkeit wundgelaufen sind, werden unsere Köpfe freier. Während wir uns durch unsere Aktionen auf den Straßen befreien, dechiffrieren wir eigentlich auch viele unmenschliche Seiten des globalen Kapitalismus‘. Der gestrige Angriff der Faschisten war hierfür ein Beweis. Denn wir dechiffrieren rassistische Behandlungen. Rassistische Faschisten fühlen sich hierdurch gestört.
Wir dechiffrieren Isolationsheime in Deutschland und in Europa. Aus diesem Grund gibt es, wenn wir dort eintreffen, immer wieder ein riesiges Polizeiaufgebot, das die dortigen Anwohner versucht, abzuschrecken.
Auch dechiffrieren wir durch unseren Marsch einen breiten Teil des linken Spektrums, das eingeschüchtert, aristokratisiert und bürokratisiert worden ist. Während wir auf der Straße kämpfen, fangen einige diesem Spektrum Angehörige an, sich zu erheben oder zumindest darüber nachzudenken, sich in Gang zu setzen.
Da uns abends, während unseren Meetings kaum Zeit zur Verfügung steht, uns auszuruhen und unserem Bedarf an kulturellen Aktivitäten nachzukommen, diskutieren wir bei weilen auch während unseres Marsches. So ging es eines Abends darum, ob Aktivisten und Flüch-tlinge unter uns das gleiche Stimmrecht haben. Wir diskutierten darüber, ob bei diversen Entscheidungen allen das gleiche Mitspracherecht zu Verfügung steht. Während einige von uns dieser Idee näher standen, waren andere etwas zögerlich. Letztere waren sowohl der Auffassung, dass es, objektiv gesehen, Unterschiede gibt, als auch vorsichtig dahingehend, dass sie nicht recht wussten, wohin es führen würde, träfe man einige praktische Entschei-dungen zusammen. Doch durch Diskussionen und gegenseitiges Überreden lösen wir unsere Probleme. Jeder ist dazu in der Lage, unbeschwert seine eigene Sichtweise zu diversen The-men zu äußern. Einige der Flüchtlinge sind der Auffassung, dass ihre eigene Aktion von ande-ren politischen Organisationen missbraucht werden könnte, aus welchen Grund sie Dazusto-ßenden gegenüber etwas vorsichtig sind. Doch da wir für Freiheit und gegen Isolation protes-tieren, ist unser Kampf ist nicht allein auf Flüchtlingsprobleme begrenzt. Uns ist bewusst, dass alle Arbeiter und Armen dieser Welt in Isolation leben. Innerhalb des Kapitalismus‘ hat außer der Bourgeoisie jede Gruppe mit dem Problem von Isolation und Drang nach Freiheit zu kämpfen. Unser Kampf muss gemeinschaftlich vonstattengehen. Ohne Trennung von Sprache und Hautfarbe müssen wir gemeinsam gegen die Unterdrückung der Bourgeoisie und ihre Anstrengung, eine Kontrollgesellschaft herzustellen, ankämpfen.
Unser Freiheitsmarsch bringt Menschen, die, um der Isolation den Rücken zu kehren, auf die Straßen gehen, auf wunderliche Weise zusammen. Durch diesen Marsch habe ich gestern zufällig einen alten Freund wiedergetroffen, den ich das letzte Mal vor dreißig Jahren gese-hen habe. Mit einem Georgier, den ich gerade erst kennengelernt hatte, bin ich in einen türkischen Laden gegangen, dessen Besitzer mich fragte, womit ich beschäftigt sei. Als ich antwortete, ich sei Revolutionär auf einem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin, erwiderte er, dass es auch hier Revolutionäre gäbe. Als ich fragte, wer diese Personen seien, ging er ans Telefon und rief jemanden an. So traf ich auf einen Freund, der erst vor kurzem durch einen Tunnel aus dem Gefängnis geflüchtet war. Dass so etwas passieren würde, hätten wir uns nie denken können. So lässt unsere Freiheitskarawane all diejenigen, die mit dem gleichen Ziel auf die Straßen gehen, irgendwo wieder zusammentreffen. Wie wunderbar!
Zurzeit machen wir einen Halt in Vippachedelhausen. Das Kochteam hat schon damit begon-nen, Gasbrenner und Herde aufzustellen und Zwiebeln zu schälen. Außerdem haben das Logistikteam und eigentlich alle, gerade damit angefangen, das große Zelt aufzubauen, indem wir alle übernachten werden. Derweilen tauscht sich die Mediengruppe darüber aus, was demnächst wie ansteht.
Zur selben Zeit ist ein weiterer Buskonvoi auf einer anderen Route unterwegs und hält Ver-anstaltungen in diversen Städten. Nach neuesten Berichten nimmt die Anzahl von Unterstüt-zern auch im Zelt in Berlin zu. Auch ist uns zu Ohren gekommen, dass sich einige Revolutionäre, die wir zuvor von unserem Marsch unterrichtet hatten, im Berliner Zelt für den Nachtdienst eingetragen haben.
19.9.2012
Turgay Ulu, Erfurt