Die Freiheit führt die Flüchtlinge: Turgay Ulu trägt die Fahne voran. Am Rande von Petzow nahe Potsdam hat der Marsch sein Ziel fast erreicht Reuters
Von Daniel Bratanovic
20.10.2012 / Fotoreportage / Seite 4 (Beilage)Inhalt
Marsch der Würde - Flüchtlinge kämpfen gegen erbärmliche Lebensbedingungen in Deutschland
Sie sind 600 Kilometer gelaufen. Von Würzburg nach Berlin. Aufbruch zum Marsch als Zeichen des Widerstands. Eine neue Etappe der Flüchtlingsproteste in der Bundesrepublik. Ende Januar entleibte sich der Iraner Mohammed R. in einem Würzburger Flüchtlingsheim, am 19. März begann der Hungerstreik der Leidensgenossen in mehreren Lagern, einige nähten sich die Münder zu. Mehrere Protestcamps entstanden. Dann der Entschluß zum Fußmarsch, der sich Anfang September unter bewußtem und vorsätzlichem Bruch mit der Residenzpflicht in Bewegung setzte. Es soll Schluß sein mit dem Verbot, den Landkreis zu verlassen, mit der Unterbringung in Lagern, mit den Abschiebungen. Weithin beachtet konnten Asylbewerber selten zuvor so deutlich auf ihre disparate Situation in Deutschland aufmerksam machen. Die Ankunft in Berlin am 6. Oktober markierte jedoch keineswegs das Ende ihrer Aktivitäten. Seither steht auf dem Kreuzberger Oranienplatz ein Camp, deren Bewohner nicht erkennen lassen, ihre Zelte alsbald abzubrechen. 5000 Demonstranten zogen am vergangenen Samstag zum Bundestag und untermauerten noch einmal die Forderungen der Flüchtlinge. Ihr Motto: »Willkommen in Berlin! Für einen menschenwürdigen Aufenthaltsstatus in Deutschland«. Am Montag dann die versuchte Besetzung der nigerianischen Botschaft. Etwa 20 Menschen drangen in das Gebäude ein und skandierten: »No border, no nation, stop deportation!« Die Vertretung des westafrikanischen Landes arbeitet am effektivsten mit dem deutschen Staat zusammen und wickelt die meisten Abschiebungen nach Afrika ab, weiß der Sprecher des Aktionsbündnisses »Refugee Protest March«, Thomas Ndindah. Die Polizei nahm eigenen Angaben zufolge 15 Personen fest und verbrachte sie zur Verwahrung nach Tempelhof. Daraufhin formierte sich eine spontane Demonstration zur sofortigen Freilassung der inhaftierten Flüchtlinge, der sich rund 1000 Menschen anschlossen.
Die Lebensbedingungen der Asylbewerber und der alltägliche, institutionalisierte Rassismus der deutschen Behörden – der Mantel des Schweigens, der sich üblicherweise über diese Angelegenheit legt, hier wurde er wenigstens kurzzeitig gelüftet. Die Flüchtlinge ihrerseits haben erkannt, daß ihr Problem kein partikuläres ist, sondern im Zusammenhang gesehen werden muß. »Wir Flüchtlinge sind keine Opfer mehr. Wir haben den Stempel des Opferseins abgelegt. Wir sind aktiv in die gesellschaftlichen Kämpfe hier in Deutschland eingetreten und kämpfen Schulter an Schulter gemeinsam mit allen hier für eine menschliche und freie Gesellschaft.«