Berlin, 29.10.2012
Originaltext in Türkisch: BERLİN'DEN İNSAN MANZARALARI
Nach jahrelangerGefängnishaft sind wir nun zu einer Reise in die Freiheit aufgebrochen, auf der wir zahlreiche Lebensgeschichten mitbekommen. In Istanbul, wo ich nach 15 Jahren Gefängnis nur sehr kurze Zeit verbringen konnte, hatte ich beobachtet, dass sich sowohl die Stadt als auch die Menschen mit einer rasanten Geschwindigkeit verändern. Ich habe gesehen, dass in der Stadt unseres Kampfes überall Hochhäuser gebaut werden. Die Straßenüberführungen, das Verkehrssystem – alles hatte sich geändert. Auf den Straßen Istanbuls waren mehr Autos zu sehen als Menschen. Die Frauen, die vor dem Kiez-Kiosk saßen und an Sonnenblumenkernen knabberten, waren nicht mehr da. Alle haben sich in ihre Wohnungen zurückgezogen; Telefon, Internet und Fernseher haben bunte Gespräche ersetzt.
In Griechenland, meiner zweiten Haltestelle nach Istanbul, habe ich die Möglchkeit gehabt, Geschichten von Menschen aus der ganzen Welt zuzuhören – eine tragischer als die andere. Während meiner dreimonatigen Haft in Griechenland habe ich Tagebücher geschrieben. Um diese vor der Polizei zu schützen, hatte ich sie meinem Anwalt anvertraut. Als ich aus dem griechischen Gefängnis entlassen wurde, weil ich in einen Hungerstreik getreten war, hatte der Anwalt mir diese Tagebücher in einem Beutel übergeben. Er hatte gedacht, sie seien wertvolle Sachen und hatte auf sie aufbewahrt.
Auch später in verschiedenen Flüchtlingslagern und Städten in Deutschland hatte ich das Glück, die Geschichten von Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, aus verschiedenen Orten dieser Welt zu erfahren. Ich bin mir bewusst, dass nicht jeder dieses Glück hat. Menschen, die ein normales Leben führen, die in die Gesellschaft integriert sind, und sich zwischen ihrer Arbeit und ihr Zuhause bewegen, haben oft nicht diese Möglichkeit. Es ist Menschen, die ein normales Leben führen, meistens nicht bewusst, dass es auch ein Leben außer ihnen gibt. Daher hat das normale Leben keinerlei Attraktivität.
Heute Morgen haben wir einen Freund aus Senegal kennengelernt. Der schwarze Freund aus Senegal macht Musik. Wir haben ihn in einer Simit-Bäckerei getroffen. Er hat uns viel über Musik und ihre internationale Bedeutung erzählt. Durch Musik aus unterschiedlichen Kulturen und Strukturen können Menschen sich besser kennenlernen und sich bewusst werden, was sie gemeinsam machen können. Dies müsse man den Leuten zeigen, sagte er. Er hat ein Musikstudio, wo er seine eigene Musik macht. Er kritisiert diejenigen, die so viel Geld machen. Er verdiene nicht viel mit seiner Musik, aber er sei glücklich so. Die Musik unterscheide nicht zwischen Farbe und Gestalt. Auch wenn sie unterschedliche Sprachen sprechen, können Menschen durch Musik einen Dialog aufbauen, meint er.
Unsere Widerstandszelte stehen noch. Heute habe ich mich mit jemandem aus Deutschland vor dem Küchenzelt unterhalten. Noch bevor ich sagen konnte „Ach wäre es toll, wenn wir jetzt Kebap essen könnten“, lud er mich in ein Restaurant ein, wo wir tatsächlich Kebap gegessen haben. Hier habe ich jemanden aus der Türkei kennengelernt. Sein Vater ist vor Jahren nach Deutschland gekommen. Da damals Bergarbeiter benötigt wurden, hat der Staat jeden gefördert, der migrieren wollte. Jedoch sind die meisten, die gekommen sind, nicht mehr zurückgekehrt. Viele die damals hierher gekommen sind, sind Bergbauarbeiter aus Zonguldak.
Heute gab es erneut ein Plenum und wir haben einen Aktionsplan für die nächste Zeit erstellt. Auch wir werden an der Demonstration am 31. Oktober teilnehmen und am 4. November werden wir bei der antirassistischen Demonstration ebenfalls mit dabei sein. Außerdem werden wir weiterhin eigene Aktionen durchführen, vor allem zum Thema Flüchtlingslager. Der Kontakt zu unseren FreundInnen im Hungerstreik bleibt rege und wir werden sie bei unerwarteten Ereignissen durch Solidaritätsaktionen unterstützen.
Die Polizei hatte zuvor die Iso-Matten und weitere Gegenstände, auf denen sich die Hungerstreikenden niedergelassen hatten, weggenommen und später wieder zurückgegeben. Heute haben sie diese wieder beschlagnahmt. Den ganzen Tag lang warteten sie auf Beton. Da am Mittwoch der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdoğan für ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Deutschland kommen wird, wollen sie die Freunde von ihrem Campplatz nahe dem deutschen Parlament entfernen. Bisher haben sie diesbezüglich keine Versuchungen unternommen, aber vermutlich werden sie dies in der Nacht tun. Wir warten weiterhin.
Heute war es sehr kalt und wir haben am Zeltplatz ein Feuer gemacht. Während unseres Besuchs am Flüchtlingscamp hatten wir Jugendliche kennengelernt, die uns jetzt besuchten und mit denen wir uns unterhalten haben. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht. Außerdem habe ich die Bekanntschaft mit einer Deutschen gemacht, die Türkisch sprechen kann. Auch sie ist neu in Berlin. Wir haben mit ihr über Philosophie und Alevitentum gesprochen und über die orientalische und abendländische Kultur sowie Marxismus diskutiert. Weil wir nicht viel Zeit hatten, haben wir manche Themen nur überfliegen können. Wir werden uns aber noch einmal treffen und uns ausführlicher unterhalten.
Morgen früh werden wir vor dem Rathaus eine Kundgebung halten, die Uhrzeit und den Treffort haben wir im Infozelt ausgehangen. Der Termin ist am frühen Morgen.
Am Lagerfeuer ist es möglich, interessanten Menschen zu begegnen. Ein älterer Mann – von seinen Gesprächen versteht man, dass er betrunken ist. Er redet ununterbrochen, manchmal etwas lauter. Solche Menschen kommen immer öfter in das Widerstandszelt.
In ganz Europa gehen Massen, die gegen die Sparmaßnahmen protestieren, auf die Straße. Unsere Aktionen verlaufen parallel zu diesen.
Andererseits sind die Gefangenen in der Türkei nunmehr seit 50 Tagen im Hungerstreik. Es gibt Aufrufe, morgen den gewohnten Alltag zu unterbrechen. Außerdem dauern die Konflikte zwischen Guerillias und dem Staat ununterbrochen an.
Das Leben geht weiter und der Klassenkampf auch – ob wir es merken oder nicht.
Heute hat es in ein Zelt hereingeregnet, dies mussten wir dann leer räumen und putzen. Ein Zelt musste ganz neu aufgebaut werden.
29.10.2012
Turgay Ulu
Berlin