Turkish refugee Turgay Ulu removes his sock during a break in a protest march through Germany near the village of Ferch near Potsdam, October 3, 2012. A group of some 20 to 30 displaced persons, formally interned in German refugee camps, broke an official order that constrains their movement and embarked on a 500 km (310 miles) march across the country to protest at what they call inhumane treatment by the authorities. They started their walk in the Bavarian city of Wuerzburg in September and plan to reach the German capital on October 6. Ulu, who said he was jailed in Turkey for his political convictions, is writing a blog about his experiences during the journey. "We are marching, because we want freedom and respect." he wrote in his blog. Picture taken October 3. REUTERS/Thomas Peter (GERMANY - Tags: POLITICS CIVIL UNREST SOCIETY IMMIGRATION)
AUCH WIR HABEN GEGEN KRIEG UND ISOLATION PROTESTIERT
Hannover, 1.11.2012
Original in Türkisch (türkce): SAVAŞ VE İZOLASYONU PROTESTO MİTİNGİNDE BİZ DE VARDIK
Das Protestcamp Berlin nimmt jetzt nicht nur an Flüchtlingsaktionen teil, sondern auch an Aktionen, die alle gesellschaftlichen Brennpunkte und Klassenprobleme betreffen. Letzte Woche wurden wir informiert, dass es beim Treffen von T. Erdoğan und A. Merkel Proteste geben wird. Wir hatten beschlossen, an dieser Aktion teilzunehmen. Solche Aktionen werden meistens von oppositionellen Gruppen aus der Türkei organisiert.
Der türkische Ministerpräsident T. Erdoğan hat zuvor die türkische Botschaft eröffnet. Später hat er sich mit A. Merkel getroffen. An diesem Tag gab es eine Kundgebung am Brandenburger Tor, das sich in der Nähe des Parlaments befindet.
In der Türkei sind zurzeit zwei Themen sehr brisant: Der nunmehr seit 51 Tagen dauernde Hungerstreik von politischen Häftlingen in Gefängnissen und die Gefahr eines Kriegs zwischen der Türkei und Syrien. Die Hauptthemen der gestrigen Kundgebung waren dementsprechend Krieg und Isolation.
Gestern Morgen haben wir uns im Protestcamp am Oranienplatz getroffen. Wir haben zwei große Transparente mit den Forderungen und Parolen unseres Protestmarsches mit uns genommen. Die Fahne, auf der in zehn verschiedenen Sprachen „Freiheit“ steht, und die zum Symbol unseres Marsches geworden ist, durfte natürlich nicht fehlen. Am Infozelt haben wir unser Gruppenticket abgeholt und sind mit der U-Bahn losgefahren. Auch andere Leute in der U-Bahn waren auf dem Weg zu der Kundgebung. Das konnte man erkennen. Wir unterhielten uns mit türkischsprachingen Menschen, fragten sie nach ihrer Meinung über die heutige Aktion und erklärten ihnen, wer wir sind und was wir machen.
Sowohl die Organisatoren als auch die Leute, die wir auf dem Weg getroffen haben, waren der Meinung, dass die Teilnahme an der Kundgebung sehr groß sein wird. Die Schätzungen schwankten zwischen 10.000 und 20.000.
Schon an der U-Bahn-Haltestelle in der Nähe des Kundgebungsorts haben wir unsere Transparente ausgerollt und wollten marschieren, als die Polizei unseren Weg blockierte. Sie sagten, es gebe keine Erlaubnis für eine Demonstration. Wir waren eh in der Nähe des Kundgebungsorts. Die PolizistInnen haben die Parolen auf unseren Transpis notiert. Nach einer kurzen Diskussion durften wir weiter. Zunächst haben wir unsere FreundInnen im Hungerstreik am Brandenburger Tor besucht. Wir haben uns umarmt und haben geredet und sind danach zur Kundgebung weitergegangen.
Am Kundgebungsort gab es eine große Bühne. Niemand hatte Transparente oder Plakate mitgebracht. Das Aktionskomitee hatte wohl die TeilnehmerInnen gebeten, keine Transparente mitzubringen. Nur wir hatten welche dabei. Die Organisatoren haben unsere Transparente untersucht. Wir erzählten ihnen, dass wir Flüchtlinge sind und 600 Kilometer nach Berlin marschiert sind. Auf unseren Transparenten steht nicht der Name einer Partei oder Organisation, so gab es auch keine Hindernisse. Die gelbe Fahne ist eh legitim und niemand würde auf die Idee kommen, diese zu verbieten.
Die Anwesenden waren beim Anblick unserer Gruppe etwas erstaunt, weil wir aus schwarzen, blonden, dunklen Menschen bestehen und marschierten. Es war für die Anwesenden besonders erstaunlich, dass schwarze Freunde mit dabei waren. Das war für sie ungewöhnlich.
Die erwartete Teilnehmerzahl wurde aber nicht erreicht. Wir beobachteten maximal 4000 Leute, obwohl sehr viele Organisationen zum Protest aufgerufen hatten. Vielleicht, weil es ein Wochentag war. Die meisten TeilnehmerInnen konnten alevitische Organisationen bringen.
Auf der Bühne sind Musikkünstler wie Emekçi oder Ferhat Tunç aufgetreten. Außerdem haben Mitglieder der Linken Reden gehalten. Auch wir wollten als Flüchtlinge eine Rede über unseren Protestmarsch halten. Obwohl wir eine Zusage bekommen haben, hieß es später, die Zeit sei zu knapp. So informierte ein Mitglied der Linken in seiner Rede über unseren Widerstand. Eigentlich wollten wir für uns selber sprechen, aber dies wurde uns verwehrt.
Durch unser außergewöhnliches Auftreten haben wir viele Blicke auf uns gezogen. Die Menschen fragten uns, wer wir sind. Durch einen schönen Zufall traf ich einen Freund von der Band Bandista. Wir haben uns sofort wiedererkannt und uns umarmt. Wir konnten nur kurz reden, die Freunde kehrten noch am selben Tag nach Istanbul zurück. Wir haben uns über unseren Widerstand und über verschiedene Strategien geredet und Meinungen ausgetauscht. Wir haben ihnen unsere revolutionären Grüße an Istanbul, die Stadt unseres Kampfes, mitgegeben. Ein Freund von Bandista machte auf die Bedeutung unseres Widerstandes aufmerksam. Wir finden Bandista sehr herzlich und warm. Sie sehen uns als ihre Weggefährten. Wir haben uns umarmt und uns verabschiedet. Es gab noch ein Freund aus Istanbul, der uns Grüße aus dieser Stadt geschickt hatte.
Auf der Kundgebung habe ich zahlreiche Freunde aus dem Gefängnis getroffen. Wir haben uns sofort wiedererkannt und uns unterhalten, da wir uns sehr vermisst hatten. Manche hatten von unserer Bewegung gehört, manche nicht. Solange unser Widerstand weiterlebt, werden auch diejenigen, die von uns nichts gehört haben, unsere Stimme hören.
Als Finale trat Ferhat Tunç auf und sang Ciao Bella. FreundInnen, die sich nicht in der Protestmenge befanden, kamen rennend nach vorne, als sie diese Musik hörten. Wir haben dieses Lied sehr oft gesungen und sie hat jetzt einen festen Platz in den Köpfen. Dies war unser Lied. Wir haben uns angeguckt und gelacht. Dieses Lied erinnert uns an lustige Momente unseres langen Protestmarsches.
Nach der Aktion bin ich mit einem Bus in das Flüchtlingsheim gefahren, in dem ich eingetragen bin, um meine Post abzuholen und um mich über die Entwicklungen während meiner Abwesenheit zu informieren. Im Bus haben wir über das Mikrophon unsere Eindrücke und Kritikpunkte über die Kundgebung geäußert. Es gab Leute, die von unserem Protestmarsch noch nichts gehört hatten. Manche wollten mit uns in Verbindung bleiben, so haben wir Kontaktdaten ausgetauscht. Ihnen hat unsere Bewegung und die Bewertung, die wir im Bus gemacht haben, gefallen. Wir haben über die gespaltene Struktur der revolutionären Bewegung und über die Hindernisse vor unserer Einigkeit gesprochen.
Es gab Probleme im Flüchtlingsheim. Sie fragten, wo ich seit zwei Monaten geblieben sei. Ich antwortete, dass ich unterwegs war. Sie sagten dann, dass ich diesen Ort nicht verlassen darf. Sie weigern sich, mir meine Post zu geben. Sie zögern die Übergabe meiner Briefe durch verschiedene Ausreden heraus und verhindern so, dass ich so schnell wie möglich zum Protestcamp zurückkehre. Ich diskutiere mit allen deutschen Wörtern, die ich kenne. Wenn Worte nicht ausreichen gucken wir uns böse an.
In Hannover habe ich mit AktivistInnen übernachtet, die ich neu kennengelernt habe. Wir haben über gemeinsame FreundInnen gesprochen, die wir aus dem Gefängnis kennen. Wir haben uns an lustige und tragische Momente im Kampf erinnert und haben von Fluchtversuchen aus dem Gefängnis geredet.
Diejenigen, die uns isolieren wollen, verhindern uns mit Bürokratie und Unterlagen. Sie lassen einem kein anderes Leben, als eins voller Bürokratie und Unterlagen. Diejenigen, die diese Hindernisse beheben wollen, werden auf verschiedene Weise bestraft. Niemand kann alleine frei werden. Entweder werden wir uns gemeinsam befreien oder wir werden alle zusammen weiterhin in Isolation leben.
Ein Freund, den ich in Berlin kennengelernt habe, hat von einem meiner Fotos eine Bleistiftzeichnung gemacht. Darunter hat er geschrieben, „Die Landstreicher sind auf der Straße“. Wir haben uns gemeinsam das Bild angeschaut und gelacht.
Den FreundInnen am Brandenburger Tor wurden drei Busse zur Verfügung gestellt. Ich habe erfahren, dass sie jetzt in diesen Bussen ihren Hungerstreik weiterführen. Das Protestcamp am Oranienplatz steht noch und wir bereiten uns auf neue Aktionen vor.
Ein Verein, mit dem wir neuerdings in Verbindung getreten sind, will mit mir eine Veranstaltung machen, auf der ich über Flüchtlinge und MigrantInnen auf Türkisch reden soll. Wenn es für mich in Ordnung ist, wollen sie sofort mit den Vorbereitungen beginnen. Wenn dem nichts im Wege steht, werden gerne wir diese Veranstaltung machen. So können wir sowohl über unseren Widerstand und unsere Aktionen informieren als auch uns über deren Meinungen und Vorschläge erkundigen. Je öfter wir es schaffen, einzelne Kämpfe zusammenzubringen, umso stärker wird unser Kampf.
1.11.2012
Turgay Ulu
Hannover