„Vereint gegen koloniales Unrecht“ - so lautete das programmatische Motto eines internationalen Flüchtlingstribunals gegen die Bundesrepublik Deutschland im Juni 2013 in Berlin. Die viertägige Veranstaltung auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg wurde maßgeblich von der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen organisiert – unterstützt von weiteren Akteuren wie der Föderation der ArbeitsmigrantInnen in Deutschland (AGIF), der Initiative Christy Schwundeck oder dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact. Ziel des Tribunals war nicht, innerhalb kürzester Zeit zu einem Urteilsspruch zu gelangen. Vielmehr sollte eine Plattform geschaffen werden, die es Flüchtlingen erlaubt, öffentlich über ihre Erfahrungen mit der Wirtschafts-, Kriegs-, Flüchtlings- etc.-politik der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen. Und zwar als Auftakt eines langfristig angelegten Prozesses, in dessen Verlauf weitere ZeugInnenaussagen gesammelt und schrittweise zu einer gut dokumentierten Anklage verdichtet werden sollen – inklusive abschließender, ebenfalls öffentlich durchgeführter Urteilsfindung.
Konkret hat sich das Tribunal mit rund 500 TeilnehmerInnen als gewaltiges Kaleidoskop unterschiedlichster, bisweilen hochgradig verstörender (Gewalt-)Erfahrungen erwiesen. Oszillierend zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind dabei zahlreiche Kontinuitätslinien zu Tage getreten – in sachlicher wie widerständiger Hinsicht. Es liegt insofern auf der Hand, das Tribunal auch unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die aktuellen Flüchtlingsproteste näher zu betrachten, nicht zuletzt um einer gewissen Geschichtslosigkeit entgegenzuwirken, welche in dem seit anderthalb Jahren währenden Protestzyklus allenthalben anzutreffen ist. Einziger Haken: Die im Zuge des Tribunals zur Sprache gekommenen Themen reichen von einzelnen Länderanalysen über Erfahrungen im Transit an den EU-Außengrenzen bis zur mangelhaften Gesundheitsversorgung in etlichen Landkreisen quer durch Deutschland. Eine thematisch vollständige Aufbereitung des Tribunals ist an dieser Stelle also nicht möglich, vielmehr müssen einzelne Stichworte als roter Faden fungieren:
Stichwort Kontinuitäten: Die Idee zu einem Flüchtlingstribunal ist erstmalig anlässlich einer Karawane-Konferenz im September 2009 formuliert worden. Wegweisend war dabei insbesondere das fulminante Positionspapier „Über koloniale Ungerechtigkeit und die Fortsetzung der Barbarei“, welches The Voice Refugee Forum als Reaktion auf den Ausgang des ersten Oury Jalloh-Prozesses sowie die Abschiebung des langjährigen The Voice-Aktivisten Felix Otto veröffentlicht hatte. (1) Als erster Schritt erfolgte damals das Karawane-Festival in Erinnerung an die Toten der Festung Europa im Sommer 2010 in Jena. (2) Maßgeblich war das Bestreben, qua kollektiver physischer Präsenz – so das bis heute geflügelte Worte – Ohnmacht, Angst und Zersplitterung nicht nur unter Flüchtlingen zu überwinden. Bereits diese kurzen Andeutungen dürften erahnen lassen, wie geschichtsvergessen es ist, wenn der aktuelle Widerstandszyklus immer wieder – gleichsam selbstreferentiell – auf den Beginn der Proteste im Frühjahr 2012 zurückgeführt wird oder wenn in der letzten ak-Ausgabe mit Verweis auf den Hunger- und Durststreik auf dem Rindermarkt in München allen Ernstes davon die Rede ist, „dass keine andere Aktion in den letzten Jahren so viele mediale Präsenz für die grundsätzliche Debatte um das deutsche Asylsystem“ erzielt hätte. Wer so argumentiert, ja hierarchisiert, verkennt die ebenso simple wie grundlegende Tatsache, dass die je aktuellen Kämpfe immer schon auf den personellen, materiellen und politischen Resultaten früherer Auseinandersetzungen aufbauen – ob zum Guten oder Schlechten. Ein Beispiel: Als im Jahr 2000 beim internationalen Flüchtlingskongress in Jena (mit ca. 600 TeilnehmerInnen aus 40 Ländern) die Kampagne gegen die Residenzpflicht ins Leben gerufen wurde, reagierte der damalige linksradikale Mainstream unverständig, ja grantelig (3). Das Projekt wurde als „humanitär“ und somit „flüchtlingspolitisch beschränkt“ abgestempelt, zudem sah sich The Voice angesichts seiner mitunter etwas propagandistisch anmutenden Hartnäckigkeit mit dem Vorwurf konfrontiert, auf dem schlechten Gewissen europäischer AktivistInnen zu „surfen“, einzig mit der Zielsetzung, sogenannte „Kampagnensoldaten“ zu rekrutieren. Die so Gescholtenen ließen sich indes nicht einschüchtern und organisierten stattdessen 2001 die Antiresidenpflichttage in Berlin mit rund 2.000 TeilnehmerInnen, darunter mehrheitlich Flüchtlingen aus dem gesamten Bundesgebiet. Danach folgten die Mühen alltäglicher Aufklärungs- und Mobilisierungsarbeit – einschließlich spektakulärer Gerichtsprozesse bzw. in Kauf genommener Gefängnisaufenthalte. Stellvertretend erwähnt sei nur der jahrelang nicht vollstreckte Haftebefehl gegen Mbolo Yufanyi – mit der Konsequenz, dass sich dieser auf einer Demo am 12.11.2005 in Göttingen als Moderator direkt an die in großer Zahl vertretene Polizei wenden konnte: „Die Polizei sieht mich, aber sie handelt nicht – ist das nicht wunderbar!?“ Erst jene und viele weitere Akte des zivilen Ungehorsams sind es gewesen, die die Residenzpflicht bereits seit Jahren Schritt für Schritt in der Öffentlichkeit delegitimiert haben, mit der Konsequenz, dass diese zumindest innerhalb der meisten Bundesländer schrittweise gelockert werden musste, was wiederum die Voraussetzung dafür gewesen ist, dass die jüngsten Flüchtlingsproteste die entsprechenden Widersprüche massiv zuspitzen konnten und sich dabei von einer fast schon ungewöhnlich anmutenden Sympathiewelle getragen wussten. (4)
Stichwort Selbstermächtigung: In unzähligen Varianten wurde im Zuge des Tribunals immer wieder die politisch verordnete Isolation von Flüchtlingen angeprangert, einschließlich der Feststellung, dass Menschen überhaupt nicht dafür geschaffen seien, in Lagern zu leben. Entsprechend prominent sind auch die beiden Konzepte der physischen Präsenz und des zivilen Ungehorsams immer wieder zur Sprache gekommen. So wurde gleich zu Beginn seitens der Moderation darauf hingewiesen, dass das gesamte Tribunal als Livestream übertrage würde und die damit verknüpfte Sichtbarkeit, mithin Identifizierbarkeit durchaus gewollt sei: „Wir haben in unseren Kämpfen gelernt, dass jeder Satz, den wir sagen, auch ein Gesicht hat, das ist unser Gesicht und zu dem stehen wir.“ (5) Kurzum: Die Übereinstimmung mit der Logik aktueller Flüchtlingskämpfe ist mehr als offenkundig: Während die öffentlich aufgeschlagenen Zelte den Inbegriff physischer Präsenz darstellen und somit das Isolationsregime wirkungsvoll unterwandern, schreiben die ebenfalls öffentlich inszenierten Märsche jene Strategie fort, die hierzulande vom „Ad Hoc-Komitee des zivilen Ungehorsams gegen das Residenzpflicht-Gesetz“ erstmalig am 26.04.2000 der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde.
Stichwort heterogene Zusammensetzung: Konstitutiv für das Tribunal dürfte der Umstand gewesen sein, dass FlüchtlingslingsaktivistInnen aller Generationen und somit aller Citizenship-Grade gesprochen haben – jüngst Angekommene, langjährig Geduldete, Dublin II-Flüchtlinge, Abgeschobene (6), Papierlose, anerkannte AsylbewerberInnen, UNHCR-Flüchtlinge etc. In der hierdurch zustande gekommenen Heterogenität der Perspektiven, Erfahrungshintergründe und thematischen Schwerpunktsetzungen lag nicht nur eine enorme politische Stärke des Tribunals. Vielmehr dürfte dieser Umstand auch – jedenfalls indirekt – zu einer Relativierung des sterilen, ja dichotomen Non-Citizen-/Citizen-Konzepts beigetragen haben, also jener insbesondere von einer Strömung der aktuellen Flüchtlingsproteste propagierten Überzeugung, wonach Subjekte des Flüchtlinskampfes ausschließlich Non-Citizens, d.h. AsylbewerberInnen, Papierlose und Geduldete seien. Denn eine derartige Engführung blendet nicht nur sämtliche Graustufen aus – etwa wenn sich beim Flüchtlingskongress in München im März 2013 AktivistInnen von Jugendlichen ohne Grenzen urplötzlich ins Citizen-Lager abgedrängt sahen, und das, obwohl sie ihre gesamte Kindheit und Jugend mit der ständigen Angst vor Abschiebung verbracht haben. Nein, verkannt wird auch, dass einmal durchgesetzte Entrechtungsstrategien stets von einer Gruppe auf andere Gruppen übertragen werden können – wie im Falle der auf Hartz IV-EmpfängerInnen ausgedehnten Residenzpflicht. Eine Dynamik, die im Übrigen darauf verweist, dass Citizen-Rechte keineswegs statisch bzw. unantastbar sind, sondern ständigen Anerkennungs- und (Neu-)Verteilungskämpfen unterliegen.
Stichwort Mobilisierung: Diese war im Falle des Tribunals durchwachsen: Es waren zwar viele gekommen, es haben aber auch etliche gefehlt: Nicht nur jene, die nicht erreicht werden konnten oder die in lokale Kämpfe eingebunden waren, beispielsweise die Lampedusa-Flüchtlinge aus Hamburg. Auch AktivistInnen des nahe gelegenen Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz waren nur spärlich vertreten, was auf die Fragilität des dortigen Protests verweist, aber auch auf Animositäten, die von einem kleinen Teil der aktuellen Flüchtlingskämpfe gegenüber der Karawane gehegt werden – teils aus politischen Gründen, die mit der Non-Citizen-Debatte zu tun haben, teils aus Missverständnissen, die sich als Gerüchte bis heute hartnäckig halten (7). Und doch sei an dieser Stelle zuallerst auf einen ganz besonderen Mobilisierungserfolg verwiesen: Anlässlich des Tribunals hat im April in Hamburg die erste „Frauenflüchtlingskonferenz“ in Deutschland überhaupt stattgefunden. Die Entscheidung hierzu war bereits auf dem Break Isolation Camp im Sommer 2012 gefällt worden, auf dem Tribunal waren die Protagonistinnen mit einer eigenen Demo und einem frauenspezifischen ZeugInnen- bzw. Themenblock vertreten (8)
Stichwort Länderberichte: Obwohl sich Ausbeutung, Rohstroffraub oder Krieg wie ein roter Faden durch das gesamte Tribunal gezogen haben, blieben viele der Länderberichte blass, mitunter auch holzschnittartig – ein Dilemma, worüber selbst interessante Detailberichte nicht hinwegtäuschen konnten, etwa zur Repression in der Türkei oder dazu, wie das durch ständige Demonstrationen in Bedrängnis geratene Regime in Togo Anfang des Jahres drei riesige Märkte niederbrennen ließ, nicht zuletzt um die überwiegend der Opposition nahe stehenden Markthändlerinnen einzuschüchtern. Kurzum: Diesbezüglich müsste die Analyse in den kommenden Monaten noch erheblich ausdifferenziert werden, abgesehen davon, dass bei solchen Fragen zukünftig insbesondere AktivistInnen involviert sein sollten, die in den jeweiligen Ländern noch leben bzw. aktiv sind. Denn eigentlich dürfte es sich von selbst verstehen, dass eine Analyse nicht tragfähig ist, die sich ausschließlich auf die Diaspora-Perspektive stützt, d.h. auf den Erfahrungshorizont jener, die ihr Herkunftsland schon lange verlassen haben.
Stichwort Blick zurück, Blick nach vorn: Das Tribunal war zunächst ein Ort des trauernden Erinnerns, an große Gruppen, aber auch an einzelne Menschen, etwa an Lodoe Kamacha aus Nepal (genannt Alex), der noch 2004 an den Aktivitäten des damaligen NoLager-Netzwerks teilgenommen hat, der aber – gezeichnet an Körper und Seele – am 08.03.2013 nach 17 Jahren Lagerunterbringung in Parchim verstorben ist. Das Tribunal war zudem eine Art Zukunftslabor – bei allen inhaltlichen und formalen Unzulänglichkeiten. Es hat gezeigt, wie sich politische Forderungen aus kollektiv geteilten Entrechtungserfahrungen, individueller Selbstermächtigung und politischen Kämpfen Schritt für Schritt herauskristallisieren. Um so wichtiger ist es nun, die Ergebnisse in möglichst viele Flüchtlingslagern bekannt zu machen (auch mit Hilfe des 15-stündigen Youtube-Videoarchivs), nicht zuletzt um einem weiteren Zyklus von ZeugInnenaussagen den Weg zu bereiten.
(1) Vgl. http://thecaravan.org/node/2017
(2) Vgl. Interview mit Osaren Igbinoba in ak 549: http://www.karawane-festival.org/de/presse
(3) Zum Flüchtlingskongress: http://www.akweb.de/ak_s/ak438/23.htm
(4) Vgl. den Fim zur Anti-Residenzpflichtkampagne: http://residenzpflichtdoc.com/
(5) Das gesamte Tribunal ist an folgender Stelle dokumentiert: http://www.youtube.com/user/RefugeeTribunal
(6) Vgl. Interviews mit Abgeschobenen in Togo und Nigeria: http://www.youtube.com/aeinteract
(7) Stein des Anstoßes war und ist, dass die Karawane immer wieder darauf bestehen musste, dass die auf das gemeinnützige Karawane-Konto eingehenden Spendengelder für den O-Platz nur rausgeben werden können, sofern auch Quittungen vorliegen.
(8) Vgl. Youtube-Kanal des Tribunals: 3rd Day, Part One
Olaf Bernau/NoLager Bremen ist aktiv bei Afrique-Europe-Interact