Presse: FLÜCHTLINGSLAGER / Residenzpflicht / Abschiebung
+ Hinter Mauern versteckt FLÜCHTLINGSLAGER*Asylsuchende sollen sich möglichst nicht an ein Leben in Deutschland gewöhnen. Von Nina Schulz (Freitag-Politk vom 7. April 2006)
+ "Residenzpflicht" Asylkind bleibt Tanzen verwehrt
Der Vormund verbietet dem 13-jährigen Nachwuchstalent die Teilnahme am Wettbewerb und eruft sich auf das Gesetz. Von Marco Eisenack (SZ vom 31.3.2006)
+ Judo hilft gegen Abschiebung
Knapp 200.000 Ausländer leben in einem Schwebezustand in Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen schon seit über fünf Jahren. Babek ist schon seit sieben Jahren hier. VON INGA RAHMSDORF (taz Magazin vom 1.4.2006)
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Hinter Mauern versteckt FLÜCHTLINGSLAGER*Asylsuchende sollen sich möglichst nicht an ein Leben in Deutschland gewöhnen. Von Nina Schulz (Freitag-Politk vom 7. April 2006)
Manchmal sind es triste Container irgendwo in der Provinz. Oder so genannte Wohnschiffe, die verloren an einer Hafeneinfahrt dümpeln. Diesmal ist es eine ehemalige Kaserne am Stadtrand. "Gemeinschaftsunterkunft für ausreisepflichtige Ausländer" lautet die
offizielle Bezeichnung für das Kasernenlager am Haart in Neumünster, das am 1. April in Betrieb genommen wurde. Damit wählt nun auch Schleswig-Holstein einmal mehr die Lagerform für Flüchtlinge, die bislang auch in privaten Wohnungen untergebracht waren.
Bayern, Baden-Württemberg und fast alle östlichen Bundesländer befürworten schon lange die Lagerunterbringung. Was schönfärberisch Gemeinschaftsunterkunft, Erstaufnahmeeinrichtung oder Ausreisezentrum genannt wird, bezeichnen Betroffene und Flüchtlingsorganisationen als Zwangsunterkünfte, Dschungelheime oder Abschiebelager. Wie viele dieser Lager über die Bundesrepublik verteilt existieren, ist schwer zu
ermitteln, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verweist auf die Zuständigkeiten der einzelnen Bundesländer, die aber auch keine Zahlen liefern können oder wollen. Oft deutet nur ein verlorenes Schild am Stadtrand zum nahe gelegenen Wald wie im niedersächsischen Bramsche-Hesepe: "Zentrale Aufnahmestelle" ist dort zu lesen.
Stacheldraht umzäunt einige Lager. Wachpersonal führt Ein- und Ausgangskontrollen durch. Besucher empfangen zu dürfen, ist keine Selbstverständlichkeit, manchmal ist es ganz verboten, wie in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz.
Für Franz Forsmann, Mitglied des Hamburger Flüchtlingsrates, entsprechen die meisten dieser Orte Lagern mit der Architektur von Ghettos. "Sie haben einen deutlich rassistischen Charakter." Auch ohne Zäune erreichte deren Konzeption eine unsichtbare Mauer. Die Flüchtlinge in den Lagern schämten sich wegen der dortigen menschenunwürdigen Bedingungen. Die Menschen außerhalb hätten wegen der einschüchternden Bauart manchmal
Angst, dort Flüchtlinge zu besuchen. Die Art der Unterbringung schaffte eine Barriere. Eine Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel existiert oft nicht. Genauso wenig wie der Zugang zu einer notwendigen Infrastruktur wie Beratungsstellen, Rechtsanwälten, Schulen, Ärzten, Krankenhäusern oder Dolmetschern.
Bernd Mesovic, rechtspolitischer Sprecher der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, wundert sich darüber nicht, denn "eine Normalisierung des Lebens ist für Flüchtlinge nicht geplant". Die Lager seien ausgrenzend, mit ihnen werde eine gezielte Isolierungs- und Desintegrationspolitik betrieben, erläutert er. Viele Flüchtlinge fühlten sich außerdem wie auf einem Präsentierteller für neo-faschistische Angriffe. Das schildert Pro Asyl in einem Länderbericht, den die Organisation 2005 der Europäischen
Kommission vorgelegt hat. Auch ein Aktivist der Flüchtlingsselbstorganisation The Voice Refugee Forum hält die isolierte Lage für Kalkül, um Angst und psychische Belastungen auszulösen. Selbst nachdem eine Unterkunft von Neonazis angegriffen worden sei - was immer wieder vorkomme -, finde in der Regel keine Umverlegung statt, beschreibt Pro Asyl.
Die Bewegungsfreiheit wird zusätzlich durch die sogenannte Residenzpflicht eingeschränkt. Asylbewerber dürfen den zugewiesenen Aufenthaltsort nicht ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde verlassen, sonst drohen Bußgelder, bei Wiederholung auch Strafverfahren. Was es heißt, sich der Residenzpflicht zu widersetzen, erfuhr der nigerianische Aktivist A. C. Akubuo. Über zehn Jahre lebte er in einem Barackenlager,
tief versteckt im Mecklenburger Wald nahe Parchim. Er organisierte Kampagnen zur Verbesserung der schlechten Lebensbedingungen und Schließung der "Dschungelheime" in Mecklenburg-Vorpommern. Mehrmals beantragte er seine Verlegung an einen weniger isolierten Ort und reiste als Mitglied des bundesweiten Netzwerkes Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen sowie von The Voice Refugee Forum durch die
Bundesrepublik. Seine Anträge wurden alle abgelehnt. Bei seiner letzten Reise zu einer Protestveranstaltung eskortierte ihn die Polizei in seinen Landkreis zurück und bedrohte ihn mit einer Waffe. Jetzt soll er Strafgelder wegen unerlaubten Verlassens des Landkreises bezahlen. Für die rassistische Behandlung werde er niemals einen einzigen Cent zahlen, kündigte Akubuo an. Doch die Behörden berufen sich auf die Residenzpflicht, die Betroffenen allein bei "zwingenden Gründen" erlaubt, den Bezirk zu verlassen.
Flüchtlinge verbringen oft Jahre in diesen provisorischen Unterkünften, die Haftbedingungen für Kriminelle ähneln. Es gehört zum Konzept, Menschen mithilfe von sozialem und psychischem Druck möglichst zur "freiwilligen Ausreise" zu bringen, "weichzuklopfen", wie es das Grundrechtekomitee formuliert. Der schlechte Zustand der sanitären Einrichtungen, fehlende Rückzugsmöglichkeiten und mangelnde medizinische
Versorgung tragen ihren Teil dazu bei. Das Elend soll abschrecken: "Die Buschtrommeln werden in Afrika signalisieren - kommt nicht nach Baden-Württemberg, da müsst ihr ins Lager", so brachte es der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth schon 1982 auf den Punkt.
Im Asylverfahrensgesetz gibt es keine Regelungen zu Größe, Beschaffenheit und Lage der Sammelunterkünfte. Für viele Jahre existierten nicht einmal Regelungen für Mindestanforderungen. Mittlerweile gibt es die zwar sporadisch, doch sie gestehen Flüchtlingen nur das absolute Minimum an Wohnfläche zu: vier bis sechs Quadratmeter.
"Das Leben eines Flüchtlings ist weniger wertvoll als das eines deutschen Hundes. Dem wird mehr Raum und Komfort zugestanden", kommentiert dies ein Flüchtlingsaktivist.
Der Hamburger Flüchtlingsrat betont die historische Komponente dieser Unterbringung: "Nicht nur aus der deutschen Geschichte wissen wir, dass Lager Orte sind, an denen die Entrechtung der dort untergebrachten Menschen unbemerkt von der Öffentlichkeit vorangetrieben wird." Lager dienten der vollständigen Kontrolle, Überwachung und Unterwerfung ihrer Insassen. Diese Zwangssysteme seien in einem demokratischen Staat, der die Einhaltung der Menschenrechte für sich beanspruche, nicht legitim.
Eine Unterbringung in Privatwohnungen ist nicht gewollt, erklärt Mesovic dazu: "Wenn Asylbewerber einfach zu Nachbarn werden, dann sind Abschiebungen nicht mehr so leicht durchzuführen." Die isolierte Lage der Heime erlaube, Menschen ohne größeres Aufsehen in der Öffentlichkeit abzuschieben.
Auch die Hamburger Politik nimmt Kurs auf die Methode "aus den Augen,aus dem Sinn". Wenn die Zentrale Erstaufnahme-Einrichtung (ZEA) für Flüchtlinge und Asylsuchende auf dem Schiff Bibby Altona in Hamburg-Neumühlen demnächst geschlossen wird, verbringt die Freie und Hansestadt künftig ihr Flüchtlingskontingent nach Mecklenburg-Vorpommern in die Zentrale Aufnahmestelle (ZASt) Horst. Die ZASt Horst ist ein Lager in der Nähe von Boizenburg an der Elbe, fernab von jeder größeren Stadt und Infrastruktur. Die geplante länderübergreifende Erstaufnahme von Flüchtlingen stellt bundesweit einen Präzedenzfall dar. Die Regierenden erfüllten sich damit den Wunsch, Hamburg "flüchtlingsfrei" zu machen, kritisiert der Hamburger Flüchtlingsrat.
Seit Jahren regt sich Widerstand gegen die Lager. Ein Netzwerk von Flüchtlingen und anti-rassistischen Aktivisten organisiert seit 2004 Touren zu den verschiedenen Abschiebegefängnissen und Flüchtlingslagern. Ihrer Forderung, alle Lager in der Bundesrepublik und in Europa abzuschaffen, verleihen sie damit Nachdruck. Die Proteste bringen von Zeit zu Zeit die menschenunwürdige Behandlung der Asylsuchenden an die
Öffentlichkeit, die sonst wenig über solche Orte erfährt.
http://www.freitag.de/2006/14/06140401.php
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(SZ vom 31.3.2006)
"Residenzpflicht" Asylkind bleibt Tanzen verwehrt
Der Vormund verbietet dem 13-jährigen Nachwuchstalent die Teilnahme am Wettbewerb und eruft sich auf das Gesetz. Von Marco Eisenack (SZ vom 31.3.2006)
Die S-Bahn braucht 24 Minuten von München nach Fürstenfeldbruck. Für den minderjährigen Asylbewerber Eddy trotzdem unerreichbar weit. Wenn heute im Veranstaltungsforum Fürstenfeld der 10. Deutsche Ballettwettbewerb beginnt, muss der 13-Jährige in seinem Münchner Heim bleiben.
Renate Rassmann, Vormund beim Katholischen Jugendsozialwerk München, lehnt es ab, im Kreisverwaltungsreferat (KVR) einen Antrag auf Reiseerlaubnis zu stellen: „Ich verstehe die Wünsche, aber es ist nicht die Realität von Jugendlichen Asylbewerbern in Deutschland, dass sie so was machen können“, sagt Rassmann. „Er muss sich an die Residenzpflicht halten.“
Wenn Asylbewerber ihren Wohnort verlassen wollen, müssen sie einen Reiseantrag stellen. Man habe mit dem KVR das Abkommen, maximal zwei Reiseanträge pro Vierteljahr zu stellen, „wenn es mehr wird, laufen wir Gefahr, dass die Tür ganz zugeschlagen wird“, sagt Rassmann. Sie halte die Residenzpflicht zwar selber für „sehr schlecht“, das KVR lasse ihr aber keine andere Wahl.
KVR-Sprecher Christopher Habl zeigte sich „verwundert“ über die Angaben der Betreuerin. Aus Sicht des Kreisverwaltungsreferats spreche nichts gegen die Teilnahme an der Sportveranstaltung.
Auch habe es zu keiner Zeit eine Ablehnung aller Reiseanträge gegeben, wie Rassmann im Gespräch mit der SZ behauptet hatte. Im Fall Eddy liege die Verantwortung allein bei Rassmann. Von ihr sei die Regel aufgestellt worden, dass der Junge maximal zwei Mal im Vierteljahr aus München raus dürfe.
Eddy kam vor rund drei Jahren aus Angola nach Deutschland. Seit zwei Jahren tanzt er in dem gemeinnützigen Musical-Projekt Dam Ditty Doo, dass damals von der engagierten Mutter Danielle Wensky aufgebaut wurde. Wensky hat gute Kontakte in die Tanzszene und organisiert für die Flüchtlingskinder oft Workshops mit internationalen Choreografen.
Das Profi-Team der „Urban Dance Company“, das unter anderem mit MTV zusammenarbeitet, schaltete sich jetzt auch in den Konflikt ein. Es fordert ein Auftrittsrecht für den Jungen mit der „sympathischen Persönlichkeit und dem Teamgeist“.
Der beste "Krumper" Europas
„Eddy ist nicht nur uns aufgefallen. Auf unser Workshop Tour mit Tight Eyes aus dem Dokumentarfilm Rize ist er speziell herausgestochen.“ Eddy sei der beste „Krumper“, den die Talentsucher auf ihrer Europatour gesehen hätten.
Auch Korinna Söhn, Organisatorin des Fürstenfeldbrucker Wettbewerbs, an dem 750 Tänzer aus fünf Ländern teilnehmen, ist schockiert vom Verhalten des Vormunds. „Der Junge ist total talentiert.“ Sie habe versucht, ihn für das Aida-Musicals in der Olympiahalle zu gewinnen.
Ohne Erfolg. „Der Vormund hat gleich abgewunken“, wundert sich Söhn, die als Trainerin oft erlebt habe, wie sehr das Tanzen Flüchtlingskindern helfe.
Schon vergangene Woche war dem Jungen die Teilnahme an den German Masters in Backnang untersagt worden. Das Musical Dam Ditty Doo erreichte den zweiten Platz. „Er ist so gefrustet, dass er am liebsten wieder nach Afrika zurück möchte. Er fühlt sich in Deutschland nur vor den Kopf gestoßen und sieht überhaupt keine Chancen“, erzählt Wensky. Sie will jetzt ausloten, welche Möglichkeiten es gibt, einen neuen Vormund für den Jungen zu bekommen.(SZ vom 31.3.2006)
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/87/73014/
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/87/73014/
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taz Magazin vom 1.4.2006
Judo hilft gegen Abschiebung
Knapp 200.000 Ausländer leben in einem Schwebezustand in Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen schon seit über fünf Jahren. Babek ist schon seit sieben Jahren hier
VON INGA RAHMSDORF
Bei jedem Schritt quietschen seine Sohlen auf dem glänzenden Parkett. Der junge Mann mit den schwarzen, stoppeligen Haaren bleibt vor einem Bild von Rembrandt stehen. Seine Begleiterin blickt ihn auffordernd an. Er beginnt zu erzählen. Vom Leben des Malers und von den Figuren auf dem Bild. Ein Museumsbesucher kommt dazu. "Sind Sie einer der Studenten, die hier Führungen machen?", fragt er.
Babek schüttelt überrascht den Kopf. Fast jeden Donnerstagabend kommt der 19-Jährige in die Gemäldegalerie. "Hier ist mein zweites Zuhause", sagt er. Gerne würde er eines Tages hier arbeiten. Aber ob er studieren wird, ist noch nicht sicher, obwohl er dieses Jahr Abitur macht. Babek und seine Familie leben als Flüchtlinge in Berlin - geduldete Flüchtlinge dürfen in Deutschland nicht studieren.
Babek ist in Aserbaidschan geboren. Als 12-Jähriger musste er 1998 mit seiner Familie fliehen. Sie landeten in Berlin. Bekannte oder Familie hatten sie hier nicht. In Deutschland haben Babeks Eltern ihm erklärt, warum sie das Land verlassen mussten. So erst hat er erfahren, wie seine Großmutter starb. "Sie wurde umgebracht. Jemand warf ihr einen Stein an den Kopf." Babek unterbricht die Erzählung. Manchmal plagen ihn noch heute Albträume.
Babek ist armenischer Herkunft und gehört einer Minderheit in Aserbaidschan an. Das Land steht seit Jahren im Konflikt mit seinem Nachbarstaat Armenien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion starben 1991 tausende Menschen bei einer blutigen Auseinandersetzung. Die Situation für Armenier in Aserbaidschan erschwerte sich.
Babek wünscht sich seit langem, einmal nach Paris zu fahren. Den Louvre will er besuchen. Bis vor ein paar Monaten durfte er noch nicht einmal mit der S-Bahn nach Potsdam. Für ihn galt die Residenzpflicht, die es Flüchtlingen verbietet, ihren Wohnort zu verlassen.
Etwa 200.000 Menschen leben als "geduldete Flüchtlinge" in Deutschland. Sie sind nicht als Asylbewerber anerkannt, können aber auch nicht in ihre Heimat zurückkehren, weil dort Krieg herrscht, sie Verfolgungen ausgesetzt wären. Ihre Duldung wird nur für einen kurzen Zeitraum verlängert: manchmal einen Monat, höchstens drei Jahre. Zirka 120.000 von ihnen leben schon mehr als fünf Jahre hier.
Vergangene Woche hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble große Hoffnungen bei geduldeten Ausländern geweckt: "Wenn die Menschen im Land sind und auch keine Chance besteht, sie aus dem Lande herauszubringen, wenn man sie vielleicht auch gar nicht abschieben kann, muss man Regelungen finden, damit umzugehen", sagte er am Rande eines Treffens mit europäischen Amtskollegen. Diese Nachricht ist umso wichtiger für die Flüchtlinge, seit die Organisation Pro Asyl bekannt gab, dass derzeit in den Bundesländern besondere Anstrengungen unternommen würden, bisher geduldete Ausländer abzuschieben.
Sechs Monate, so lautete im Januar 2006 die letzte Entscheidung für Babek, seine beiden Schwestern und seine Eltern. Im kommenden Juli müssen sie wieder zur Ausländerbehörde und auf den nächsten Stempel hoffen. Sicherheit gibt es nie. Ihr Asylantrag wurde zweimal abgelehnt. Das ist keine Ausnahme. Im Jahr 2005 wurden von 42.908 Asylanträgen nur 411 anerkannt - weniger als ein Prozent.
Seit 2001 organisieren sich junge Flüchtlinge. Mit dem Projekt "Hier geblieben!" machen sie auf sich aufmerksam und setzen sich gegen die Residenzpflicht, das Studienverbot und Abschiebungen ein. Babek ist nervös, als er mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock zum Büro des Beratungs- und Betreuungszentrums für junge Flüchtlinge (BBZ) im Berliner Stadtteil Moabit fährt. Gleichzeitig mit ihm treffen andere junge Männer und Frauen ein. Verschiedene Akzente begleiten die Begrüßungen, die auf Deutsch quer durch die Räume fliegen. Walid Chahrour kommt aus seinem Büro. Der große Mann mit dem Schnauzbart und dem offenen Blick ist der Projektleiter. Als er Babek sieht, streckt er ihm die Hand entgegen. "Bist du das erste Mal hier?", fragt er.
Etwa 25 Männer und Frauen versammeln sich in einem Raum, alles Flüchtlinge. Die Tagesordnungspunkte werden besprochen. "Wer schreibt Protokoll?", fragt ein junger Mann mit Brille. Er selbst übernimmt die Redeleitung. Ibrahim berichtet detailliert von den neuen Regelungen für Kosovo-Albaner. Jemand unterbricht ihn. "Ist es sicher, dass die Auflagen so bleiben?" Artan hört genau hin. Der 21-jährige Kosovo-Albaner kam vor sieben Jahren nach Deutschland. Allein. "Meine ganze Familie ist tot", sagt er. Sein Blick bleibt fest, doch die Augen zucken kurz. Bis er 18 wurde, lebte er in einem Heim mit anderen Flüchtlingen. Jetzt droht ihm die Abschiebung. "Ich habe keinen Kontakt mehr dorthin. Meine Freunde sind alle hier." Vor einem Jahr hat er seine vierte Ausbildung angefangen. Zum Bürokaufmann. Gerne würde er sie abschließen. "Wenn das klappt." Die vorherigen Ausbildungen musste er abbrechen, weil er keine Arbeitserlaubnis vorweisen konnte. Ein psychologisches Gutachten über seine traumatischen Erfahrungen liegt vor. Doch bisher hat er noch keine Antwort von der Härtefallkommission.
Auch Babeks Familie hat sich an die Kommission gewandt. Dort können Flüchtlinge in einer besonders schwierigen Lage ein Aufenthaltsrecht erhalten. Aber nur in Einzelfällen wird die Härtefallregelung, wie bei Babeks Familie, angewendet.
Im Januar 2006 wurde ihre Duldung in eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis umgewandelt. "Seit einem Monat dürfen wir endlich arbeiten", erzählt Babek, "und die Residenzpflicht wurde aufgehoben." Nach acht Jahren. Fast entschuldigend und optimistisch erklärt er: "Die Frau auf dem Amt hat gesagt, es geht alles Schritt für Schritt." Dabei sind es eher Trippelschritte, mit denen sich die deutsche Bürokratie den Asyl- und Aufnahmeverfahren widmet. Fast alle in der Initiative "Hier geblieben!" leben seit Jahren in der Unsicherheit, abgeschoben werden zu können.
Babek redet nicht gerne darüber. Heute fühlt er sich als Deutscher und hier zu Hause. Mit seinen Eltern spricht er Deutsch und Aserbaidschanisch. "Ich will meinen Eltern die Sprache beibringen", erzählt er. Wieder nach Aserbaidschan zu müssen kann und will er sich nicht vorstellen. Babek ist begeistert von Deutschland. "Hier ist alles so friedlich", sagt er.
Der nächste Tagesordnungspunkt der Flüchtlinge ist die Konferenz der Innenminister, die im Mai 2006 stattfindet. Darin setzen sie ihre Hoffnung. Die Initiative "Hier geblieben!" will die Konferenz mit Aktionen begleiten und auf ihre Situation aufmerksam machen. Geplant ist ein Fußballspiel zwischen Flüchtlingen und den Innenministern. Der Hamburger Fußballverein St. Pauli soll die Schirmherrschaft übernehmen. Außerdem suchen sie noch einen Trainer. Dafür wollen sie Bundestrainer Jürgen Klinsmann ansprechen. "Fair Play - auch in der Zuwanderungspolitik!" - so das Motto.
Nazliye schreibt die wichtigsten Punkte der Besprechung auf. Die 19-Jährige macht eine Ausbildung zur Arzthelferin. Als Nazliye ein Jahr alt war, kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Kurden mussten aus der Türkei fliehen. Heute, über 17 Jahre später, sollen ihre Mutter und der Bruder abgeschoben werden. Der Härtefallkommission reicht der schlecht bezahlte Arbeitsplatz der Mutter in einer Bäckerei und als Putzfrau nicht aus. Nazliyes Bruder ist seit eineinhalb Monaten im Krankenhaus. Mit Depressionen. Er ist suizidgefährdet.
"Mich ärgert es, dass sie einen Jugendlichen in ein Land schicken wollen, das er nicht kennt", sagt Nazliye. "Das finde ich respektlos." Ihre Eltern sind getrennt. Der Vater wurde vor sechs Jahren abgeschoben. Nazliye darf bleiben, vorerst. Sie hat eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. "Ich habe immer gekämpft", sagt sie energisch. "Ich fühle mich wie eine Deutsche, auch wenn ich nicht so aussehe."
Auch Babeks Familie muss immer wieder neu ihr Engagement und ihre Entschlossenheit, hier zu bleiben, beweisen. Um das zu dokumentieren, haben alle eine große Sammlung angelegt: Bescheinigungen von Babeks Judowettkämpfen, Belege von den sozialen Diensten der Eltern, die Schulzeugnisse der Kinder, die Urkunde vom Modewettbewerb der jüngeren Schwester haben sie bei der Ausländerbehörde eingereicht. Das Archiv dieser Dokumente ist ihre wertvollste Habe. Von solchen Nachweisen und von viel Glück hängt die Eintrittskarte nach Deutschland ab, die nur selten an Flüchtlinge vergeben wird.
Neben Babek sitzt Minh. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und lacht viel. Wenn man nichts davon wüsste, würde man ihm seine schwierige Situation nicht anmerken. "Ich kann nicht hier bleiben, und ich kann nicht zurück", sagt er. Der 23-Jährige zieht ein grünes Papier aus seinem Portemonnaie. "Hier steht: Studieren nicht gestattet, Arbeiten nicht gestattet. Jeden Tag starre ich auf meinen Pass und weiß nicht weiter. Vielleicht gibt es ja im Paradies einen Platz für mich. Hier jedenfalls gibt es keinen." Minh ist vor fünf Jahren allein aus Nordvietnam nach Deutschland gekommen. Er will Politik studieren.
Rukiya und Menice halten sich während der Besprechung zurück. Sie sind noch nicht lange bei der Initiative. Die beiden Schwestern mit den langen, schwarzen Haaren besuchen die neunte und zehnte Klasse. Vor zehn Jahren sind sie nach Deutschland gekommen. "Seitdem sitzt mein Vater zu Hause. Er hat keine Arbeitserlaubnis. Da muss man ja verrückt werden, wenn man zehn Jahre nicht arbeiten darf", sagt Rukiya kopfschüttelnd.
Der Asylantrag ihrer Familie wurde abgelehnt, und jetzt hat auch die Härtefallkommission ihren Antrag zurückgewiesen. Ihnen droht die Abschiebung. Untereinander sprechen die beiden Deutsch. Mit ihren Eltern meist Kurdisch. "Ich will nicht in die Türkei zurück", sagt Menice, die Jüngere der beiden. "Das ist ein fremdes Land, und ich kann kein Türkisch."
INGA RAHMSDORF, 27, lebt als freie Autorin und Politikwissenschaftlerin in Berlin
taz Magazin vom 1.4.2006, S. V, 287 Z. (TAZ-Bericht), INGA RAHMSDORF
http://www.taz.de/pt/2006/04/01/a0017.1/text
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