Die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ präsentiert auf einer Pressekonferenz in Berlin die neuen Gutachten. Foto: dpa
Ein Tod und tausend offene Fragen
Von Bernhard Honnigfort, 01. November 2015
Die Staatsanwaltschaft Dessau will den Fall Oury Jalloh nicht zu den Akten legen - und der Wahrheit bis Ende des Jahres näher kommen. Unter welchen Umständen kam der 36-jährige Mann wirklich ums Leben?
„Es ist eine so unglaubliche Geschichte“, sagt Folker Bittmann. „Da werden wir das Buch auf keinen Fall zuklappen.“ Nein, man werde weitermachen, man werde alle Gutachter noch einmal befragen, die Brandexperten, die Mediziner. Bis zum Jahresende will er wissen, ob noch irgendjemand irgendeine Idee oder einen Hinweis hat, wie man der Wahrheit näher kommen könne.
Bittmann ist Leitender Oberstaatsanwalt in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt. Der unglaubliche Fall, der ihn seit Jahren bewegt, ist der mysteriöse Tod des Afrikaners Oury Jalloh 2005 auf der Dessauer Polizeiwache. Er hat Justiz und Öffentlichkeit beschäftigt wie kaum ein anderer Fall, aber ob man bei den Ermittlungen auch der Wahrheit nahegekommen ist, kann bis heute niemand beantworten.
Es gab zwei Gerichtsverfahren, eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, zahlreiche Gutachten – aber was am Morgen des 7. Januar 2005 auf der Wache in Dessau wirklich passierte, man weiß es bis heute nicht. Die Wahrheit? Je länger man bohrte, desto mehr Fragen tauchten auf.
An jenem Wintermorgen nimmt eine Polizeistreife Oury Jalloh in der Innenstadt von Dessau fest. Der 36-jährige Mann ist bekokst und angetrunken, zwei Frauen beschuldigen ihn, sie belästigt zu haben. Die Polizisten bringen den Asylbewerber aus Sierra Leone ins Revier und fesseln ihn in einer gefliesten Zelle an Händen und Füßen auf einer Liege.
Kurze Zeit danach bricht ein Feuer in der Zelle aus, doch Dienstgruppenleiter Andreas S. eine Etage höher stellt den Alarm zweimal ab. Als er zum dritten Mal ertönt, ist es zu spät: Der Afrikaner ist auf der Schaumstoffmatratze qualvoll verbrannt. Obwohl seine Hände von den Beamten mit Handschellen auf dem Rücken, seine Füße am unteren Ende der Liege fixiert worden waren. Wie konnte er ein Feuer legen und dabei umkommen? Erst bei einer zweiten Durchsuchung der Zelle Tage nach der Tragödie finden Beamte die Reste eines verkohlten Feuerzeuges.
Marathonlauf durch die Instanzen
Im ersten Prozess gegen Andreas S. vor dem Dessauer Landgericht, der am 8. Dezember 2008 mit Freispruch aus Mangel an Beweisen endete, spielten sich unglaubliche Szenen ab. Zeugen aus den Reihen der örtlichen Polizei hatten sich vor Gericht mehrfach widersprochen und offensichtlich auch gelogen. Der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff reagierte empört und sprach er von einer „Schande für den Rechtsstaat“. Seine Urteilsbegründung endete in wütendem Geschimpfe: „Ich habe keinen Bock mehr, zu diesem Scheiß noch irgendetwas zu sagen.“
Danach begann der bis heute andauernde Marathonlauf durch die juristischen Instanzen. 2010 hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf, Anfang 2011 begann der nächste Prozess gegen Andreas S..
Ende 2012 verurteilte ihn das Landgericht Magdeburg wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10 800 Euro. Ein Jahr später erstatteten Aktivisten einer Opferinitiative Anzeige beim Generalbundesanwalt wegen Mordes oder Totschlags, außerdem legten sie ein neues Brandgutachten vor. Wieder ein Jahr später beginnt Oberstaatsanwalt Bittmann deshalb mit einem neuen Todesermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Über das von der Opferinitiative angestrengte Gutachten sagte er damals, es enthalte „sehr ernste, überraschende und zum Teil erschreckende Informationen“.
Vergangene Woche stellte eine Initiative zum Gedenken an Jalloh in Berlin wieder neue Gutachten vor, die eine Beteiligung von Dritten für wahrscheinlicher halten als eine Selbsttötung. Wenig spreche dafür, dass der Brand von dem Opfer selbst gelegt wurde, sagten mehrere ausländische Brandexperten.
Die Gutachter, zwei Brandsachverständige, ein Rechtsmediziner und ein Experte für Giftstoffe, fanden in den Unterlagen allerdings auch keine Beweise für einen Mord. Andererseits sei es wenig nachvollziehbar, dass das später gefundene Feuerzeug während des Brandes unter dem Opfer in der Zelle gelegen haben soll. Dann hätten Spuren von Gewebe oder Haut daran kleben müssen, sagten sie. Verlauf und Stärke des Feuers deuteten auf Brandbeschleuniger wie Benzin hin, auch wenn keine Überreste gefunden worden seien.
Auch die neuen Gutachten fließen nun ein in Bittmanns Todesermittlungsverfahren. Nichts ist zu Ende, nichts ist geklärt. Im neuen Jahr wird nach der Befragung aller Experten entschieden, ob und wenn ja, wie es weitergehen soll. „Wir mühen uns, der Wahrheit so nahe zu kommen wie irgend möglich“, sagt der Oberstaatsanwalt.
AUTOR Bernhard Honnigfort
Politik-Autor
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