19.06.2010 / Inland / Seite 8Inhalt
»Die Menschen werden gefesselt und geschlagen«
Eine Dokumentation der Antirassistischen Initiative belegt: Die BRD geht unmenschlich mit Flüchtlingen um. Ein Gespräch mit Ute Kurzbein
Interview: Gitta Düperthal
Ute Kurzbein ist ehrenamtliche Mitarbeiterin der Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative in Berlin-Kreuzberg
Die Antirassistische Initiative (ARI) in Berlin hat als Broschüre und CD-Rom eine Dokumentation über rund 5000 Einzelschicksale von Flüchtlingen herausgegeben. Darin geht es um Todesfälle, Verletzungen, Selbsttötungen sowie um Mißhandlungen während und nach Deportationen. Sind die Lebensbedingungen der Flüchtlinge härter geworden?
Zu bemerken ist zunächst, daß der lange Kampf um ihren Aufenthalt für viele Flüchtlinge eine nervenaufreibende Tortur ist, die krank macht. Ganze Familien sind traumatisiert, da sie diesen Zustand über viele Jahre, einige 15 oder 20 Jahre lang, aushalten müssen. Selbst Kinder und Enkel haben keine Ruhe. Das Leben in der Warteschleife bedeutet erheblichen Streß: Sie leiden unter eigens für Flüchtlinge gemachten Sondergesetzen, die ihnen den Aufenthalt in Deutschland so unangenehm wie möglich gestalten sollen. Sie dürfen nicht arbeiten, keine Ausbildung machen, ihre Bewegungsfreiheit ist durch die Residenzpflicht eingeschränkt. Unsere Dokumentation umfaßt das staatliche Gewaltsystem, dem Flüchtlinge alltäglich ausgesetzt sind – Polizeibeamte wie Mitarbeiter in Ausländerbehörden und Sozialämtern wirken daran mit. Genauso wie manche Hausmeister in Flüchtlingslagern, die den Bewohnerinnen und Bewohnern das Leben gewaltig schwer machen, indem sie ihre Kontrollaufgaben exzessiv ausüben – und beispielsweise deren nächtliche Anwesenheit überprüfen.
Hat sich die Praxis der Deportationen verändert?
Abschiebungen sind immer brutal. Todesfälle gab es in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren allerdings nicht mehr. Die Behörden sind vorsichtiger geworden, weil Skandale international durch die Presse gingen: Das war z.b. der Fall des nigerianischen herzkranken Flüchtling Kola Bankole, der 1994 im Flugzeug geknebelt zu Tode kam. Oder der des Sudanesen Amir Ageeb, der 1999 von Bundesgrenzschutzbeamten während des Fluges mit einem Motorradhelm fixiert und durch rabiates Niederdrücken erstickt wurde. Unter Druck geraten, hatte der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) ein Knebelverbot erlassen. Bezeichnend ist, daß die Täter freigesprochen oder nur zu geringen Haftstrafen – und das noch auf Bewährung – verurteilt wurden. So funktioniert das System; als wollte man signalisieren, daß das Leben der Flüchtlinge keinen Pfifferling wert ist.
Wie sieht Gewalt gegen Flüchtlinge heute aus?
Die Menschen werden gefesselt und geschlagen, wenn sie sich gegen ihre Abschiebung wehren. Einige werden mit Medikamenten »ruhiggespritzt« – auch das ist Körperverletzung. Der Einsatz der Beruhigungsspritze dient mitunter als Drohmittel gegenüber Flüchtlingen, die ankündigen, Widerstand leisten zu wollen. Im Sommer 2009 eskalierte die Gewalt zufolge unseren Recherchen bei der Abschiebung von Felix Otto aus Kamerun. Seine Anwältin erstattete Anzeige gegen Beamte der Haftanstalt Suhl wegen des Verdachts auf gefährliche Körperverletzung. Vor seiner Abschiebung kam er in Hand- und Fußfesseln in eine videoüberwachte Zelle; seine Bekleidung hatte er wegen angeblicher Suizidgefährdung abgeben müssen. Er schreibt, daß er von mehreren Beamten mit Fäusten traktiert worden sei. Skandalös ist auch, wenn 20 Polizeibeamte eine Flüchtlingsfamilie aus dem Schlaf reißen, gewaltsam in ihre Wohnung eindringen, ihr keine Zeit lassen, ihre Sachen zu packen, so daß sie eventuell lebenswichtige Medikamente nicht mitnehmen können – oder wenn die Polizei kranke Leute aus der Klinik holt, um sie abzuschieben.
Wie recherchieren Sie?
Das ist nicht einfach. Unsere Quellen sind Presseartikel, aber wir recherchieren selber weiter; befragen Flüchtlinge, ihre Unterstützer oder andere Zeugen. Ruhigstellungen sind mitunter nur von mitreisenden Flugpassagieren überliefert. Die sagen beispielsweise aus, beobachtet zu haben, wie ein Flüchtling im Flugzeug mit einer Decke verdeckt wurde. Dann sei ein Mann mit einem Koffer gekommen, woraufhin der sich zuvor heftig wehrende Flüchtling plötzlich ruhig wurde. Wir wollen, daß möglichst viele erfahren, was Menschen hierzulande angetan wird. Flüchtlingsorganisationen, politische Gruppen und interessierte Personen können mit unserer Fallsammlung arbeiten, um ihre Forderungen nach gleichen Rechten für alle zu untermauern.