jungewelt.de: 28.07.2010 / Schwerpunkt / Seite 3Inhalt
»Ein zynisches Spiel mit unseren Rechten«
Landesparlamente wollen Sondergesetze für Flüchtlinge nur zum Teil ändern. Ein Gespräch mit Osaren Igbinoba
Interview: Gitta Düperthal
http://www.jungewelt.de/2010/07-28/035.php
Osaren Igbinoba ist Mitbegründer der Initiative »The Voice Refugee Forum« und Aktivist der Dachorganisation »Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten«
Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten und The Voice Refugee Forum hatten lange darum gekämpft, daß sich Flüchtlinge in Deutschland frei bewegen können. »Lockerungen« im Flüchtlingsrecht hat die brandenburgische Landesregierung angekündigt, auch in Nordrhein-Westfalen stehen sie auf der Tagesordnung. Die Residenzpflicht für Flüchtlinge soll teilweise aufgehoben werden. Sie werten das aber nicht als Erfolg?
Natürlich sind wir froh – selbst wenn nur einzelne Landtage die sogenannte Residenzpflicht in Frage stellen. Seit dem Jahr 2000 führt The Voice den politischen Kampf dagegen, daß in Deutschland die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen eingeschränkt und unser Recht auf ein selbstbestimmtes Leben vielfach verletzt wird. Unsere Kampagne dagegen hat im Flüchtlingswohnheim im Thüringer Wald begonnen – erst jetzt, zehn Jahre später, tut sich etwas. Vor allem aber kritisieren wir, in welcher Weise sie dieses Gesetz abändern wollen und wie sie dies selbstgerecht bejubeln. Tatsache ist: Fortschrittliche Landesparlamente, in denen SPD, Grüne und Die Linke die Mehrheit haben, wollen nicht das ganze rassistische System der Sondergesetze für Flüchtlinge und Migranten abschaffen, sondern nur einzelne Teile reformieren. Aus unserer Sicht: ein zynisches Spiel der Deutschen mit unseren Rechten! In Brandenburg soll die Freizügigkeit zunächst nur für 1100 Flüchtlinge gelten, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Geduldete sind weiterhin ungeschützt den Schikanen der Ausländerbehörden ausgesetzt. Die Aufteilung zwischen Menschen, die ihre Rechte bekommen, und anderen, denen man sie verweigert, wird also weiter betrieben – sie gehört zu einem rassistischen Denkmuster, das wir bekämpfen müssen.
Sie werfen einigen deutschen linken Flüchtlingsaktivisten vor, diese Reformen als Fortschritt zu feiern…
Wir brauchen dringend eine öffentliche Debatte darüber, daß solche Ansätze von Heuchelei geprägt sind. Sie stellen die Residenzpflicht nicht grundsätzlich in Frage – es gibt aber keine Kompromisse, wenn es um die Einhaltung von Menschenrechten geht. Die Anerkennung der Bewegungsfreiheit eines jeden Menschen in Deutschland und Europa steht noch aus. Es zeugt von latentem Rassismus und versteckter Unterstützung der Apartheid, wenn Menschen sich so verhalten: Wir Deutschen sind so feine, tolle Menschen; wir bestimmen mal eben, wem wir die Menschenrechte gewähren und wem nicht! Wir machen Gesetze, wer sich unter welchen Bedingungen in unserem Land frei bewegen darf. Natürlich sind wir linken Aktivisten dankbar, daß sie uns geholfen haben, unsere Kampagne auf die Beine zu stellen – aber wir sind enttäuscht, wenn sie nicht erkennen, daß solche Reförmchen an Sondergesetzen ein Hohn sind.
Was genau macht Sie wütend?
Die Lagerunterbringung, das Gutscheinsystem, die Abschiebehaft und die Residenzpflicht sind mit der bewußten Absicht geschaffen, Flüchtlingen das Leben zu erschweren und ihre Deportation zurück in Lebensgefahr zu ermöglichen. Wir haben gegen diese rassistischen Gesetze die Strategie des zivilen Ungehorsams gesetzt. Einige Aktivisten von uns sind im Gefängnis gelandet und für andere besteht bereits ein Haftbefehl. Felix Otto wurde sechs Monate inhaftiert und danach nach Kamerun abgeschoben, wo er jetzt leidet. Deshalb macht es uns wütend, daß andere jetzt Kompromisse machen und über »Lockerung« in einem Bundesland jubeln. Man darf nicht vergessen, daß Deutschland während der Nazi-Ära bereits eine ähnliche Verordnung hatte. Die Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 1938 enthielt viele der aktuell gültigen Grausamkeiten.
Wie werden Die Karawane und The Voice ihren Widerstand fortsetzen?
Wir fordern weiterhin alle betroffenen Flüchtlinge zu zivilem Ungehorsam gegen die Residenzpflicht auf und bitten die deutschen Aktivisten, uns im Kampf für die sofortige Abschaffung aller Sondergesetze zu unterstützen!
http://www.jungewelt.de/2010/07-28/036.php
28.07.2010 / Schwerpunkt / Seite 3Inhalt
Hintergrund: Residenzpflicht
Seit 1982 unterliegen Asylsuchende, deren Anträge noch bearbeitet werden, einer Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz Paragraph 56 (»Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.«) – die sogenannte Residenzpflicht. Derzeit unterliegen ihr über 120000 Menschen. Im Extremfall ist ein Flüchtling bis zu zehn Jahre an sie gebunden. Eine Genehmigung für eine kleine Reise zu erhalten, kostet häufig Gebühren. Die Sondergesetze geben der Polizei immer wieder Anlaß, ausländisch aussehende Menschen zu kontrollieren.
Die Ausländerbehörden entscheiden – oft von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich –, wohin ein Asylsuchender reisen darf, wie oft er einen Freund besuchen darf, wann er Verwandte sehen kann und ob er auf ein politisches Treffen fahren darf. Die Residenzpflicht bedeutet damit Einschränkung der Reisefreiheit, der Versammlungs- und Meinungsfreiheit und oft auch der Religionsfreiheit. Bei mehrmaligen Verstößen gegen die Residenzpflicht droht eine Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr, eine Geldstrafe bis zu 2500 Euro oder der Ausweisungsbescheid. Rund 40 Prozent aller Flüchtlinge werden pro Jahr mit Strafen wegen Verstößen gegen die Residenzpflicht belegt. 2008 saßen mindestens 200 Flüchtlinge deswegen in Haft.
Die Residenzpflicht existiert in der EU nur innerhalb der Bundesrepublik. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) kritisiert seit den 80er Jahren die »einzigartigen Abschreckungsmaßnahmen gegen Asylbewerber«. Die Flüchtlingsorganisationen The Voice und die Brandenburger Flüchtlingsinitiative vergleichen die Residenzpflicht mit den Paßgesetzen des südafrikanischen Apartheidsystems: »Auch Deutschland hat seine ›Paßgesetze‹.« Derzeit klagen zwei Mitglieder von Flüchtlingsselbsthilfeorganisationen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Residenzpflicht, die ihnen auferlegt wurde.
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PM Von The VOICE - Anläßlich der Auflockerung der Residenzpflicht für Asylbewerber in Brandenburg
https://thevoiceforum.org/node/1687
English: PressRelease from THE VOICE Refugee Forum on Brandenburg State intention to loosen the residence restriction for Asylum seekers.>> https://thevoiceforum.org/node/1692
French: Communiqué de presse: The VOICE sur l'annonce du gouvernement du Brandebourg d'abolir les restrictions de résidence pour les demandeurs d'asile. >> https://thevoiceforum.org/node/1693
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The VOICE Online Links on Residenzpflicht und Asylbewerber-Isolationslager in Thueringen und Deutschland
https://thevoiceforum.org/search/node/Residenzpflicht+Asylbewerber+thue…
Deutschland: https://thevoiceforum.org/search/node/residenzpflicht
"Die Leute hier sind fix und fertig" - Lagerverwaltung Gerstungen will Elend im Flüchtlingslager vor der Öffentlichkeit verbergen https://thevoiceforum.org/node/1616