Bad Salzungen / Gerstungen:
Gleiche Rechte für alle statt interkultureller Heuchelei
Flüchtlinge aus Gerstungen unterbrechen Veranstaltung zur „Interkulturellen Woche“ in Bad Salzungen, um auf Schließung der maroden Gemeinschaftsunterkunft hinzuwirken.
Es sollte eine harmonische Saalveranstaltung im Rahmen der „Woche des ausländischen Mitbürgers“ werden, während derer sich die Staatsbediensteten und die ihnen loyalen Teile der Zivilgesellschaft gegenseitig auf die Schulter klopfen wollten - für den vermeintlichen Beitrag zur Integration von MigrantInnen. Als Sprecher waren unter anderem der Ausländerbeauftragte des Landkreises und der Innenminister Thüringens, Huber (CDU), vorgesehen. Um dem Begriff der „Interkulturalität“ gerecht zu werden, war eine portugiesische Band eingeladen und ein sogenannter „Migrantenvertreter“ aus Gerstungen sollte sprechen. Pikanterweise war dieser Vertreter weder Teil einer Organisation, noch den BewohnerInnen des Gerstunger Flüchtlingsheims bekannt.
Während also die VertreterInnen aus Politik, Behörden und dem gutsituierten Teil der Gesellschaft im 4-Sterne Kurhotel von Bad Salzungen ihrem Verständnis von Integration und „guten Ausländern“ Legitimität verleihen wollten, sollten die rund 80 Bewohner des Heims in Gerstungen – wohlgemerkt „interkultureller“ als so manche Stadt im Wartburgkreis - , still in ihrer von Schimmel, Zerfall und Einschüchterung durch die Heimleitung geprägten Ex-Kaserne sitzen.
Die Veranstaltung hatte bereits ihren Lauf genommen, als sich eine Gruppe von unerwarteten Gästen ihren Weg durch das Restaurant des Nobelhotels bahnte. Die engagierten Sicherheitskräfte wussten nichts so recht anzufangen mit den etwa 30 Flüchtlingen aus Gerstungen und den AktivistInnen von The VOICE Refugee Forum aus Jena, Apolda und Eisenach, die sich nicht wie erforderlich im Voraus angemeldet hatten, um Teil der illustren Gesellschaft zu sein. Es kamen Familien und Einzelpersonen, aus Syrien, Afghanistan, Aserbaidschan, Sierra Leone, Kosovo, Iran und vielen weiteren Ländern, die zum Teil seit acht oder mehr Jahren in der Isolation des baufälligen Heims in Gerstungen leben müssen – ohne jemals zur „Interkulturellen Woche“ eingeladen worden zu sein. Während der Ausländerbeauftragte als Erster sprach, ließ sich die Gruppe in den hinteren Reihen des holzvertäfelten Saals nieder. Das Publikum war geprägt von Abendgarderoben hier, Bundeswehruniformen dort. Auf die Anfrage, ob die aus Gerstungen Gekommenen Raum in der Veranstaltung bekämen, ein dringendes Anliegen vorzutragen, reagierte die Organisatorin des Tages ablehnend. Nach Ende des Programms wäre vielleicht Zeit dafür. Trotz eines Hinweises auf den Hintergrund der Flüchtlinge und den Zusammenhang der Veranstaltung wollte sie sich nicht auf einen Kompromiss einlassen.
Daraufhin begannen die AktivistInnen, Flugblätter zu den Zuständen in Gerstungen und zum sogenannten geladenen „Migrantenvertreter“ im Saal zu verteilen. Die ZuhörerInnen reagierten überrascht, begannen aber zugleich, die Mitteilung zu lesen.
Nach einer kurzen Musikeinlage betrat der Innenminister die Bühne und begann mit seiner Rede. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass dieser mit den Stimmen der großen Koalition in Thüringen erst kürzlich wieder das Fortbestehen der Residenzpflicht für AsylbewerberInnen bestätigt hat, konnten die HeimbewohnerInnen und The VOICE – AktivistInnen nicht still seinen Worten lauschen. Die gesamte Gruppe erhob sich und stellte sich zwischen Bühne und Publikum auf. Der Saal wurde etwas unruhig und niemand wusste, was vor sich ging. Von solcher Entschlossenheit überrascht, unterbrach der Innenminister seine Rede und überließ verunsichert den Flüchtlingen das Wort. Diese erklärten zunächst, woher sie kämen und dass sie aufgrund eines dringenden Anliegens gekommen wären. Dem Publikum wurde deutlich gemacht, dass es, wenn es Interkulturalität haben wolle, bitte nicht hier im Saal sitzen solle, sondern mal einen Blick nach Gerstungen werfen könne. Die Bedingungen, unter denen die Menschen dort jahrelang leben müssten, seien unmenschlich und isolierend. Außerdem sei der „Migrantenvertreter“ nicht aus ihren Reihen und würde somit nicht für sie sprechen.
Die Sprache langsam wiederfindend, reagierte der Innenminister mit beschwichtigenden Worten. Der geladene Ausländer sei tatsächlich einfach eine Einzelperson, die sich zum Thema Integration äußern würde, und bezüglich der Zustände in Gerstungen kündigte er an, innerhalb der nächsten sechs Wochen einmal vorbeizuschauen. Dass man derlei Versprechungen nicht brauche, dass es hier nicht kleine Renovierungen, um kosmetische Maßnahmen, gehe, die ohnehin nicht getan würden, machten die Bewohner des Heims deutlich. Es gehe vielmehr darum, dass sie dezentral in normalen Häusern leben wollten. Die ehemalige Kaserne außerhalb von Gerstungen sei sowohl baufällig als auch per se völlig isolierend.
Mit dieser Ansage ließen sie das Publikum hinter sich und der Innenminister setzte nach einer Pause seine Rede fort.
Auf der Terrasse des Hotels führten die Flüchtlinge und AktivistInnen noch Interviews mit einer Pressevertreterin. Diese berichtete, dass der Minister – nachdem die Gruppe aus Gerstungen den Saal verlassen hatte – noch gemeint hätte, sie könnten ja ruhig noch länger bleiben und an der Feier teilnehmen. Die Unterbrechung der Veranstaltung schien ein deutliches Legitimationsdefizit hinterlassen zu haben.
Die zentrale Forderung der Menschen aus der Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen bleibt die Schließung des Heims. Menschenwürdige Unterbringung für alle! Und dafür werden sie auch weiterhin kämpfen.
Mehre Info: Das Isolation - Flüchtlingslager im Gerstungen
Gerstungen/Thüringen: Hausverbot im Flüchtlingslager
https://thevoiceforum.org/node/1782
C.W
Refugee Network Support in Thueringen
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