„So sieht ein Ghetto mitten im Dorf aus!“
Eine restriktive Gesetzgebung, die ausgeführt wird durch eine Verwaltung, die mit dem falschen Personal arbeitet, führt zu verfassungswidrigen Handlungen, zur Verschwendung von Steuergeld und mündet in unnötigem menschlichen Leid. Der deutsche Staat und das Bundesverfassungsgericht sehen keinen Handlungsbedarf, denn sie selbst definieren die Gesetze. Die Menschenwürde wird tagtäglich verletzt und die Grundrechte weiter beschnitten. Das Leben der Flüchtlinge in diesem Land zeigt, dass die „Menschenwürde“ entgegen dem Artikel eins der Verfassung der Bundesrepublik antastbar ist. Die Wirklichkeit entwertet somit die Verfassung bis zur Wertlosigkeit und stellt ihre Bedeutung in Frage. Am Beispiel der täglichen Erfahrungen von Flüchtlingen in Gerstungen wollen wir diese Verletzungen der Würde veranschaulichen.
Bei einem Besuch erzählte uns einer der aserischen Flüchtlinge, dass er sein Kind gerne besuchen wolle, dass ihm aber dies von der Ausländerbehörde aufgrund der Residenzpflicht verweigert wird. Als eine der zwei Sozialarbeiterinnen vom Heim aus die Ausländerbehörde anrief, um das Problem zu schildern, sagte die Ausländerbehörde des Landkreises Wartburg: „Ist mir doch piepsegal, ob er ein Kind hat, er soll doch abgeschoben werden.“ Zwei weitere junge aserische Männer erzählen uns, dass sie bei Rewe in Obersuhl einkaufen waren. Dort wurden sie vor dem Supermarkt von Polizeibeamten kontrolliert. Jedem droht jetzt eine Strafe von 40 Euro. Jeder von ihnen hat einen Brief von der Polizei Eisenach erhalten. Später berichtet uns ein Familienvater, Kurde aus Syrien, dass er bereits zweimal wegen Residenzpflicht Geldstrafen zahlen musste. Das erste Mal 40 Euro und beim zweiten Mal 95 Euro. Die Residenzpflicht ist eines der Hauptprobleme in Gerstungen. Da es direkt an der Grenze zu Hessen liegt, haben die Flüchtlinge des Isolationsheims in Untersuhl, Gerstungen nach Norden, Westen und Süden einen Bewegungsradius von 1000 Metern. Im Norden ist die Autobahn A4, im Süden die Bahngleise, deren Überschreiten verboten ist. Praktisch können sie sich nur nach Untersuhl, Gerstungen und nach Osten bewegen. Diese Einschränkung in einem kleinen Landkreis ist besonders absurd in einem vereinten Europa ohne Grenzen und macht deutlich, dass nach dem Gesetz zwei Klassen von Menschen in Europa existieren. Für die einen gibt es keine Grenzen, für die anderen wird jeder Landkreis zu einer Hürde und schränkt sie in ihrer Freiheit ein. Felix Otto aus Kamerun saß in Thüringen für sein natürliches Recht auf Freiheit der Bewegung mehrere Monate hinter Gittern.
Die Residenzpflicht hat außer der Freiheitseinschränkung weitere materielle, gesundheitliche und aufenthaltsrechtliche Folgen für die Flüchtlinge aus Untersuhl. Da sie nicht nach Obersuhl einkaufen gehen können, müssen sie manchmal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu den nächsten Ortschaften fahren und 4 Euro zusätzlich zahlen von dem wenigen Geld, was ihnen im Monat zur Verfügung steht. Der Zahnarzt in Gerstungen verweigert die Behandlung der Flüchtlinge, weil das Sozialamt für die Behandlung der Flüchtlinge nicht genügend zahle. In Gerstungen und Untersuhl existieren keine Flüchtlingsberatungsstellen, an die sich die Flüchtlinge wenden können.
Während wir uns gerade im Gespräch befanden, kam eine Bedienstete des „Heims“ ins Zimmer:
„Wer sind Sie denn bitte?! Was machen Sie hier?“
„Wir unterhalten uns mit unseren Freunden.“
„Haben Sie eine vom Landratsamt genehmigte Anmeldung?“
Eine kurze, zwecklose Diskussion. Später hatten wir auch schon ein mündliches Hausverbot ausgesprochen bekommen. Mit Unterstützung der zweiten Angestellten wurden wir unter Drohungen herausgedrängt.
„Wenn Sie einen Termin haben, können Sie gerne wiederkommen.“
„Wenn wir einen Termin haben, beantworten Sie uns dann auch die Frage, warum die Toilette im ersten Stock von Schimmel überzogen ist?“
„Schimmel?! Hier? Im Leben nicht!“
„Ach so? Und beantworten Sie uns dann auch, warum ein Erblindeter unter diesen Umständen hier ohne Hilfe leben muss?“
„Holen Sie sich einen Termin beim Landratsamt! Und wenn sie jetzt nicht sofort gehen, hole ich die Polizei!“
Mit den knappen Beträgen der Gutscheine können die Flüchtlinge nur beim vergleichsweise teuren Tegut einkaufen – alles außer Fleischprodukten. Die sind mit Gutscheinen nicht erhältlich.
Die Ausländerbehörde ist von Gerstungen 40 km weit weg. Fahrtgeld wird nicht zurückerstattet. Die Flüchtlinge berichten, dass sie auf der Behörde nicht einmal begrüßt werden, sondern ihnen nur wortlos der provisorische Ausweis aus der Hand genommen wird und das Prozedere seinen Lauf nimmt. Übersetzung gibt es ohnehin nicht. „Urlaubsscheine“, provisorische Genehmigungen zum Verlassen des Landkreises, werden nur in Fällen wie Hochzeiten oder Todesfällen in der Familie ausgestellt. Für andere Gelegenheiten nicht.
Im Angesicht seiner 15jährigen Erfahrung mit dem umfassenden System aus Isolation und Schikane ist der resignierende, manchmal zynische Tonfall unseres Freundes aus Kambodscha nachvollziehbar. Als er einen Zigarettenstummel wegwirft, sagt er einmal etwas impulsiver: „Wir haben hier keine Möglichkeit in unserem Leben irgendwas zu bewegen!“.
Wie rigide die schikanöse Residenzpflicht in Gerstungen greift, veranschaulicht er uns an einem Beispiel. Er zeigt geradeaus über die Bahnschienen:
„Seht ihr da drüben? Das ist Hessen. Das ist nicht mehr unser Landkreis. Als ich einmal da drüben langgelaufen bin, wurde ich von der Polizei kontrolliert. 45 Euro Strafe musste ich zahlen! Von welchem Geld?! Dabei bin ich bloß 700m von dem Heim entfernt gewesen!“
Sein Sohn hat nach seinem Schulabschluss eine Berufsschule in Eisenach begonnen. Das Geld für die täglichen Zugfahrten bekommt er von der Behörde zurückerstattet – im Nachhinein. Da aber seine Familie nicht genügend Bargeld bekommt und die Rückerstattungen oft sechs oder mehr Wochen dauerten, konnte er das Geld für die Fahrten nicht mehr auslegen und musste die Berufsschule abbrechen.
Auf die Frage, wie viel Kontakt er mit der Bevölkerung aus Gerstungen habe, antwortet er knapp:
„Kontakt in Gerstungen? Wir brauchen nicht noch mehr Probleme.“
Diese Haltung wird von einem anderen Freund bestätigt:
„Es gibt halt immer mal wieder diese Sprüche von wegen 'scheiß Ausländer'. Aber ich kümmere mich nicht darum, ich guck runter und mache, dass ich weiter komme.“
Nach diesen Eindrücken aus Gerstungen machten wir uns auf in Richtung Sömmerda, um im abgelegenen Dorf Gangloffsömmern einige Menschen in dem dortigen Isolationslager zu besuchen.
Am Ortsausgang von Sömmerda steht ein Schild mit „Auf Wiedersehen“ in 15 verschiedenen Sprachen. Wohin führt uns die Fahrt?
Nachdem wir zwei Stockwerke durchlaufen haben, sind die ersten Menschen, auf die wir treffen, die „Heim“-Vorsteher. Sie fragen nach einer Anmeldung mit Personalausweis und dem Namen der Person, die wir besuchen. Dem kommen wir nicht nach. Als ein Teil unserer Gruppe gerade bei einem Flüchtling aus Dagestan zum Tee ins Zimmer gebeten wird, kommt die Ankündigung, dass wir Hausfriedensbruch begehen würden und die Polizei bereits alarmiert wäre. Äußerst erregt sind die Bediensteten vor allem darüber, „dass hier irgendwer unerlaubt Fotos gemacht hat!“, den sie unter uns aber nicht ausmachen können.
Bevor sie uns erbost bis zur Tür folgen, prüfen sie noch schnell, bei welchem Bewohner wir im Zimmer gewesen waren.
Weil aus unserer Gruppe zwei Menschen von Residenzpflicht-Restriktionen betroffen sind, zogen wir es vor, nicht auf Konfrontation zu setzen und das Lager zu verlassen.
Ein Asylbewerber aus West Africa
A West African Refugee, Bamkale Konateh who became blind in the Gerstungen Refugee Isolation camp in Thueringen, he lost his right eye in 2004 in the hands of brutal police control in the city of Düsseldorf. He became completely blind in 2009 when he was serving 10 months imprisonment, since then he has been left alone in the isolated refugee camp without any rehabilitation. The attempt to deport him was rejected by the Doctor, because of medical reasons at that time
.http://www.thevoiceforum.org/node/1760
Kontakt Person:
The VOICE Refugee Forum
Koordinationsburö, Jena
Tel.; 0049 (0) 17624568988
Press und Mehrer Infos:
"Ich lebe nicht in Deutschland, sondern im Lager" - Isolation statt Integration in Gerstungen
Das Asylbewerberheim im thüringischen Gerstungen hat einen schlechten Ruf. Zu Recht. Hier werden unerwünschte Zuwanderer von der ersten Sekunde an gezielt ausgegliedert: Isolation statt Integration. Ein Besuch.
Spiegel Online, 15.10.2010, Von Annette Langer
https://thevoiceforum.org/node/1804
https://thevoiceforum.org/Der Widerstand in den Flüchtlingslagern braucht Unterstützung und kostet Geld!