Von Regina Stötzel 27.10.2010 / Inland
Wer kontrolliert die Institution mit Gewaltmonopol?
http://www.neues-deutschland.de/artikel/182825.wer-kontrolliert-die-ins…
Fachkonferenz »Polizei und Menschenrechte« – Amnesty International will bessere Aufklärung von Misshandlungsfällen
Polizisten im Amt sollen gekennzeichnet sein. Und bei Vorwürfen des Gewaltmissbrauchs sollen unabhängige Untersuchungskommissionen ermitteln, verlangt Amnesty International.
Im Dessauer Polizeigewahrsam geschieht am 7. Januar 2005 schier Unmögliches. Die feuerfeste Matratze eines an Händen und Füßen gefesselten, stark angetrunkenen Mannes, der zuvor auf gefährliche Gegenstände abgesucht wurde, fängt Feuer. Trotz Gegensprechanlage und Feuermelder reagieren die diensthabenden Polizisten erst, als es zu spät ist. Oury Jalloh aus Sierra Leone stirbt.
Allein aus Sachsen-Anhalt wurden in der Vergangenheit mehrere Fälle bekannt, bei denen Polizisten, gelinde ausgedrückt, Fehlverhalten unterstellt wurde. Überall in der Republik wird Beamten bei Demonstrationen, Kontrollen und Festnahmen häufig eine unangemessene Anwendung von Gewalt vorgeworfen. So ermittelte die Staatsanwaltschaft im Jahr 2009 knapp 3000 Mal wegen Misshandlungsvorwürfen. Allerdings kommt es nur selten zu Anklagen gegen Polizisten. Eine Anfrage der LINKEN in Hamburg ergab im Frühling, dass in den Jahren 2003 bis 2008 über 98 Prozent der dortigen Fälle während der Ermittlungen eingestellt oder wegen »Geringfügigkeit« nicht weiter verfolgt wurden.
»Die Straflosigkeit von BeamtInnen ist eines der zentralen menschenrechtlichen Probleme in Europa«, schreibt Amnesty in einem Positionspapier. Mit der Fachkonferenz »Polizei und Menschenrechte« am Montag in der Berliner Landesvertretung von Sachsen-Anhalt setzte die Menschenrechtsorganisation ihre Kampagne für eine bessere Aufklärung von Misshandlungsfällen durch Polizisten fort. Wie brisant das Thema ist, zeigte sich schon daran, dass die Referate und Diskussionsbeiträge der versammelten Vertreter von Polizei und Menschenrechtsorganisationen, aus Wissenschaft und Politik nicht zitiert werden durften – um eine offene Diskussion zu ermöglichen, wie es hieß.
»Die Grenzen zwischen rechtmäßigem polizeilichem Gewaltgebrauch und Gewaltmissbrauch sind oft fließend«, lautet eine der schriftlich vorgelegten, zitierbaren Schlussfolgerungen von Udo Behrendes, dem Leiter des Leitungsstabs des Polizeipräsidiums in Köln. Dessen Aufgabe war es, eine Polizeiinspektion mit rund 350 Beamten neu zu strukturieren. Anlass war die interne Aufarbeitung des Todes von Stephan Neisius im Jahr 2002, den sechs Beamte der Wache Eigelstein misshandelt hatten. »Die Gesellschaft hat das Recht und die Pflicht, diejenige Institution, die in ihrem Auftrag das Gewaltmonopol ausübt, genau zu kontrollieren«, schreibt Behrendes, schlägt aber lediglich die »Einrichtung unabhängiger Schlichtungsinstanzen« für minderschwere Fälle und die Ernennung von »Polizeibeauftragten« vor.
Amnesty verlangt dagegen die individuelle Kennzeichnung von Polizisten durch Name oder Nummer, unabhängige Untersuchungsmechanismen, Videoaufzeichnungen in Polizeistationen und Menschenrechtsbildung für Polizisten.
Vor allem die ersten beiden Punkte stoßen bei den Staatsschützern auf Abwehr. »Es kann nur jemand ermitteln, der das Polizeihandwerk gelernt hat und an Recht und Gesetz gebunden ist«, sagte der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, Konrad Freiberg, dem »Amnesty Journal« – ungeachtet dessen, dass dadurch bisweilen Polizisten quasi gegen sich selbst ermitteln. Die individuelle Kennzeichnung wird als Gefahr für die Beamten betrachtet, obwohl Kennzahlen ausreichen würden.
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Prozess gegen Polizisten vertagt
Mahnwache für Ouri Jalloh
Eine Gedenkinitiative will am Montag mit einer Mahnwache und einer Demonstration in Magdeburg an den Brandtod des Afrikaners Oury Jalloh erinnern. Jalloh war am 7. Januar 2005 bei einem Brand in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers ums Leben gekommen. Der Asylbewerber war an seine Liege gefesselt.
Ouri Jalloh Gedenken
Verschiebung wegen Krankheit des Angeklagten
Das Landgericht Dessau-Roßlau hatte im Dezember 2008 die beiden Beamten des Polizeireviers vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochen. Nachdem der Bundesgerichtshof der Berufung von Staatsanwaltschaft und den Familienangehörigen des Opfers stattgegeben hatte, muss sich der damalige Dienstgruppenleiter nun erneut vor Gericht verantworten. Der Freispruch für den anderen Beamten ist dagegen bereits rechtskräftig. Wegen einer Erkrankung des Angeklagten hat das Landgericht Magdeburg den für Montag geplanten Prozessauftakt aber bereits auf den 12. Januar 2011 verschoben. Laut einem ärztlichen Gutachten leidet der 50-Jährige an einer schweren physischen Erkrankung.
Demonstration und einem Marsch erinnern an Oury Jalloh
Mit einer Demonstration im Januar dieses Jahres wurde an Oury Jalloh erinnert.
Kritik von Antirassistischer Initiative
Antirassistische Organisationen kritisieren die Verschiebung des Prozessauftaktes. Um zu verhindern, dass der Fall in der Öffentlichkeit in Vergessenheit geriet, organisierte eine Initiative am Montag eine Mahnwache vor dem Landgericht Magdeburg. "Wir fordern, dass die Prozesseröffnung zugesichert und es nun lückenlose Aufklärung gibt", forderte Mouctar Bah, ein Mitbegründer der Initiative, dem "Neuen Deutschland". Der erste Prozess sei "eine Farce" gewesen mit "Vertuschungen und Falschaussagen der Polizisten". Das Gericht müsse u.a. klären, woher der Nasenbeinbruch und die Ohrenverletzung kamen, die später bei Jalloh festgestellt wurden.
BGH: Todesumstände nicht eindeutig geklärt
Dem nun erneut angeklagten Polizisten wird vorgeworfen, dass er das Alarmsignal des Rauchmelders in der Zelle mehrfach abgestellt habe und erst mit Verzögerung zur Zelle geeilt sei. Laut Anklageschrift wäre eine Rettung möglich gewesen, wenn der Beamte rechtzeitig und richtig reagiert hätte. Zudem muss das Landgericht Magdeburg klären, wie Jalloh, obwohl er an seine Liege gefesselt war, das Feuer selbst entzünden konnte. Nach Darstellung der Polizei soll er den Brand selbst ausgelöst haben. Der Bundesgerichtshof sah hier die näheren Umstände dagegen als nicht eindeutig geklärt an.
http://www.mdr.de/sachsen-anhalt/7803100.html
Hintergrund
Chronologie im Fall Jalloh
Der Prozess um den Feuertod des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle muss neu aufgerollt werden. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag in Karlsruhe entschieden. Eine Chronologie zu dem Fall:
7. Januar 2005
Oury Jalloh kommt bei einem Brand in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers ums Leben. Der Mann aus Sierra Leone war in Gewahrsam, weil er mehrere Frauen belästigt und Widerstand gegen die Polizei geleistet haben soll. Die Staatsanwaltschaft schließt technische Ursachen für den Brand aus.
28. Mai 2005
Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen zwei Polizisten. Ein Dienstgruppenleiter soll den Rauchmelder aus der Zelle ignoriert haben. Ihm wird Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen. Der zweite Beamte wird wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, weil er ein Feuerzeug in der Hose Jallohs übersehen haben soll.
27. Oktober 2005
Das Landgericht Dessau lässt die Anklage zunächst nicht zu und ordnet weitere Ermittlungen an.
18. Juli 2006
Gutachter kommen zu dem Schluss, dass der angeklagte Dienstgruppenleiter am 7. Januar 2005 falsch reagiert hat. Nach Einschätzung der Experten des Instituts der Feuerwehr Sachsen- Anhalt wäre der Jalloh "bei rechtzeitigem und sachgerechtem Handeln" des Polizisten zu retten gewesen.
2. Januar 2007
Das Landgericht lässt die Anklage gegen den Dienstgruppenleiter wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu.
1. Februar 2007
Nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft lässt das Oberlandesgericht Naumburg auch die Anklage gegen den zweiten Beamten wegen fahrlässiger Tötung zu.
27. März 2007
Begleitet von strengen Sicherheitsvorkehrungen beginnt am Landgericht der Prozess gegen die beiden Polizisten. Sie bestreiten die Vorwürfe im Wesentlichen. Die in Guinea lebende Mutter Jallohs tritt als Nebenklägerin auf.
4. September 2008
Weil das Gericht mit bisherigen Angaben von Gutachtern zum Brandverlauf nicht zufrieden ist, wird angeordnet, dass der Brand nochmals nachgestellt wird.
5. September 2008
Ein Rechtsmediziner aus Halle ist der Meinung, dass Jalloh innerhalb kurzer Zeit starb, nachdem er in Kontakt mit extrem heißen Brandgasen gekommen war.
8. Dezember 2008
Das Gericht spricht die beiden angeklagten Polizisten frei.
7. Januar 2010
Der BGH in Karlsruhe entscheidet, dass der Prozess gegen den 47-jährigen Dienstgruppenleiter neu aufgerollt werden muss.
(Quelle: dpa)
Zuletzt aktualisiert: 07. Januar 2010, 13:28 Uhr
http://www.mdr.de/sachsen-anhalt/6944295-hintergrund-7803100.html