Protestierende Flüchtlinge machen versuchtem Geheiminspektion des Innenministers zum Spießrutenlauf
FOTOS: Besuch des Innenministers im Lager Gerstungen . . .
Das Lager in Gerstungen kommt nicht zur Ruhe. Jede Woche erscheinen neue Berichte zur inakzeptablen Situation, in der die dort untergebrachten Flüchtlinge leben müssen. Abseits des medialen Lärms berichten die Flüchtlinge aber auch von ganz alltäglichem Krach: „Ständig wecken uns morgens ab 6 Uhr die Handwerker. Aber was haben sie in all den Wochen geschafft? Die eckigen Lampen wurden gegen runde ausgetauscht. Wohin das viele Geld für die Renovierungen bisher geflossen sein soll, kann ich mir nicht erklären.“
Für neue Aufregung sorgte eine Pressemitteilung der NPD, die im üblichen populistisch-rassistischen Tonfall auf das Lager Bezug nahm und einen Besuch für Freitag, den 5. November ankündigte. Ungewiss blieb dabei sowohl die Zeit des Auftauchens als auch die tatsächliche Intention. Angesichts des starken medialen Echos der Flüchtlingsproteste war anzunehmen, dass es den Vertretern der neofaschistischen Partei bloß darum ging, ein wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen. Nichtsdestotrotz bereiteten sich die in Gerstungen Lebenden sowie Unterstützkreise darauf vor, den Faschisten eine deutliche Absage zu erteilen.
Als dann um die Mittagszeit in Begleitung eines Streifenwagens die Nazis tatsächlich anrückten, bewahrheitete sich die Vermutung, dass auf eine Pressemitteilung um ihrer selbst Willen keine ernstzunehmende Aktion folgen konnte: In ihren Parteijacken standen Patrick Wieschke und Tobias Kammler etwa eine halbe Stunde am Bahndamm und verteilten ein einziges ihrer Flugblätter. Dessen Inhalt sorgte unter den Flüchtlingen für Erheiterung, da die Nazis offenbar mithilfe eines Internetdienstes versucht hatten, ihre platte Nachricht mehrsprachig zu verfassen. Mit mäßigem Erfolg.
Nachdem diese wieder verschwunden waren, blieben die aus Thüringen und Sachsen-Anhalt angereisten AktivistInnen aus dem The VOICE- und NoLager-Netzwerk noch einige Zeit im Lager, da es an diesem Freitag noch ein weiteres Mal politischen Besuch zu empfangen galt.
Zunächst kamen zwei in zivil gekleidete Erfurter Kriminalbeamte ins Lager, um die Situation zu erkunden. Gemeinsam mit bald nachgerückter Verstärkung versuchten diese, die anwesenden AktivistInnen vor die Tür zu setzen. Dabei setzten die Beamten mit Hilfe der Lagerleitung darauf, „Mitglieder“ der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen bzw. von The VOICE Refugee Forum auszumachen. Solche hätten angeblich Hausverbot. Während also auf die AktivistInnen eingeredet wurde, eine solche „Mitgliedschaft“ zu gestehen, wurde jedoch auch den Flüchtlingen gegenüber mit Sanktionen gedroht: Jenen, die Vertreter der oben genannten Initiativen empfangen würden, stünde eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch ins Haus.
Zur gleichen Zeit fuhren draußen zwei weitere schwarze Limousinen vor – die hintere mit getönten Scheiben und dem Kennzeichen der Thüringer Landesregierung. Bevor sie jedoch ihre Fahrt auf den Innenhof des Lagers fortsetzten, drehten sie angesichts des am Tor wartenden Empfangskomitees von The VOICE jedoch wieder ab und fuhren den Bahndamm zurück.
Ein wenig später schien den Zivilbeamten klargeworden zu sein, dass sie weder praktisch noch rechtlich eine Handhabe hatten, das Lager von unabhängigen BeobachterInnen zu räumen. So rollten nach Anbruch der Dunkelheit auch der Landrat des Wartburgkreises und der Thüringer Innenminister auf den Hof der maroden Ex-Kaserne. Eskortiert von Leibwächtern bahnte sich die Delegation ihren Weg ins Lagerinnere. Vom dortigen Protest der Anwesenden konfrontiert, sagte Innenminister Huber etwas zerknirscht zu, später auch noch den Flüchtlingen Gehör zu schenken, zunächst wolle er jedoch „ungestört“ das Lager begutachten. Bei dem bisher dürftigen Renovierungsstand und den offensichtlichen Widrigkeiten des baufälligen Gebäudes wunderten sich die BewohnerInnen, was die Lagerleitung dem Minister hier präsentieren wolle. Sein von Sprechchören „Das Lager muss weg!“ unterlegter Rundgang fiel dementsprechend kurz aus.
Zu der darauffolgenden Diskussion wurde ein Raum im untersten Stockwerk ausgewählt. Zunächst verkündete der Minister, bloß mit BewohnerInnen sprechen zu wollen. Somit wurde ein Spalier aus Zivilbeamten gebildet, durch das – unter Kontrolle der Lagerleitung – nur in Gerstungen angemeldete Flüchtlinge gelassen wurden. Allerdings auch nur so viele, wie der kleine Raum fassen konnte. Es kam zu Drängeleien und lauten Bekundungen von Unverständnis gegenüber dieser selektiven „Diskussion“.
Einer Frau mit ihrem Kind, deren Mann bereits in den auserwählten Raum gelassen wurde, verweigerten die Beamten den Durchlass mit den Worten „Ja klar, jetzt schnappen sie sich alle Kinder und wollen durch!“ Ein anderer Flüchtling, der gerade vom Einkaufen wiederkam, konnte nicht zu seinem Zimmer gehen. „Was machen Sie da?“ fragte er verwundert die Beamten, die den Flur blockierten. „Ich stehe hier.“
Beim späteren Verlassen des Gebäudes musste Innenminister Huber sich noch einigen Fragen der Ausgeschlossenen stellen. Seine erste Gegenfrage lautete jedoch: „Sind Sie von der Presse?“ Auf den Hinweis hin, dass das hoffentlich keinen Unterschied machen würde, besann er sich und versuchte, das Gespräch mit den Flüchtlingen als seine gütige Initiative darzustellen. Hinsichtlich des Sicherheitsaufgebots und der eilig improvisierten und willkürlich exklusiv gehaltenen „Diskussion“ konnten weder die Flüchtlinge noch die unterstützenden AktivistInnen ihm einen guten Willen dahinter abnehmen. Vielmehr beurteilten sie dies als eine Geste der Unsicherheit gegenüber dem lauten und entschiedenen Protest, der an jenem Freitag noch entschlossener ausfiel, als die frühere Intervention von Flüchtlingen in Bad Salzungen (25.9.2010). Seine geringe Bereitschaft, sich mit den Belangen von Flüchtlingen auseinanderzusetzen, bestätigte der Innenminister, indem er - trotz der deutlichen Artikulation von Flüchtlingen in der vorangegangenen Stunde - betreffend des Lagers verkündete: „Hier gibt es keine Isolation!“
Nachdem die VertreterInnen der Ausländerbehörde Bad Salzungen, des Landratsamts Wartburgkreis und der Thüringer Landesregierung mitsamt ihrer Leibwächter und schwarzen Limousinen in der Dunkelheit verschwunden waren, blieben noch viele Flüchtlinge in lebendigen Diskussionen zurück. Mit seinem diskret gehaltenen Besuch und dem unsicheren, restriktiven Auftreten schien der Innenminister entscheidend dazu beigetragen haben, dass sich die BewohnerInnen des Lagers untereinander solidarisierten und bestätigt sahen in der Forderung, endgültig in normalen Wohnungen untergebracht zu werden.
Episode: Flüchtlingslager Gerstungen bei Eisenach (Serie 191: Corax-Widerhall)
NPD und Innenminister im FlüchtlingsLager Gerstungen/Thür von No lager halle
Das System Zermürbung – ein Jahrzehnt Duldung im Lager von The VOICE Update zu Gerstungen:
DEUTSCH: Aufruf zur Spende für die Flüchtlingscommunitys in den Lagern: Brecht die Isolation! Alle Lager schließen!
ENGLISH: Make Donation for the Refugee Community in the lagers! - Break the Isolation! Close all lagers!
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