Delegations-Report der Tour von The Voice durch Flüchtlingsheime in Thüringen – Ausführlichere Fassung der Junge Welt-Autorin Gitta Düperthal jw edition
Langeweile und Angst
„Für dich gilt Paragraph 1. Du musst hier verschwinden“, müssen sich Flüchtlinge von Behördenmitarbeitern in Thüringen anhören. Ortsbesuch in Gangloffsömmern, Breitenworbis, Gerstungen, Zella-Mehlis.
Von Gitta Düperthal
„Jeden Tag das Gleiche, Langeweile und Angst bestimmen unser Leben“, sagt der Iraner Chassem Hyati. „Aufstehen, Kaffee trinken, Zigarette rauchen, warten auf Abschiebung.“ Wie alle anderen im Lager Gangloffsömmern leidet er darunter, keine Arbeitserlaubnis zu haben. Wer in das gottverlassene Kaff im Thüringer Wald kommt, wähnt sich am Ende der Welt: Weder Supermarkt noch Kneipe; im zwei Kilometer entfernten Nachbarort Schilfa ebenso keine Einkaufsmöglichkeit. Fündig wird man erst im mehr als 4 Kilometer entfernten Straußfurth. Für die etwa 45 dort lebenden Männer bedeutet das mehr als acht Kilometer Fußmarsch. Der Bus hin und zurück kostet 2,80 Euro Fahrgeld. Das kann sich vom monatlichen Gutschein von 126 Euro, plus 41 Euro Bargeld keiner leisten. Letzteres wird selten vollständig ausgezahlt. Im zuständigen Landratsamt der Kreisstadt Sömmerda sieht man darin kein Problem: Wer seinen Pass nicht abgebe, erhalte nur zehn Euro statt 40. In unmittelbarer Nachbarschaft des Flüchtlingslagers gibt es ein „Kulturhaus“ für Vereine des Dorfes. Auf Nachfrage von Junge Welt, ob Flüchtlinge hierher kommen, erstauntes Kopfschütteln. Auf die weitere Frage, ob Dorfbewohner schon zu Besuch im Heim gewesen seien, beeilen sich drei Frauen zu bestätigen: Beschwerden über „die Ausländer“ gebe es nicht. „Bei denen da oben“ werde jährlich ein Fest mit Bratwüsten gefeiert – gewesen seien sie dort nicht. Flüchtlinge erzählen, beim Oktoberfest sei „Ausländern“ Zutritt zum Kulturhaus verwehrt worden. „Entgegen ständiger Kritik Außenstehender“ beharrt man im Landratsamt: „Der Integrierung der Flüchtlinge in das Alltags- und öffentliche Leben steht nichts entgegen.“
Die Flüchtlingsorganisation „The voice“ hat eine Kampagne gestartet und wirkt darauf hin, alle isoliert gelegenen und baufälligen Gemeinschaftsunterkünfte in Thüringen zu schließen. Osaren Igbinoba, Sprecher der Organisation, hatte Junge Welt gebeten, die Zustände der Lager in Gangloffsömmern, Breitenworbis, Gerstungen und Zella-Mehlis und Ängste der dort lebenden Flüchtlinge zu dokumentieren. Deshalb unternahm eine Delegation von Aktivisten vergangene Woche in journalistischer Begleitung eine Tour durch die Heime.
In Gangloffsömmern trauen sich zunächst wenige Flüchtlinge offen zu sprechen. Erst als auf Nachfrage von Junge Welt ein Raum des Kulturhauses zur Verfügung steht, kommen immer mehr Männer dorthin und ergreifen das Wort. Frauen gibt es im Lager nicht. Von Willkür, Geldkürzungen und rüdem Umgang im Amt ist die Rede. In diesem Zusammenhang wird ein Herr Milka erwähnt, der sie demütige, wie mehrere Flüchtlinge übereinstimmend sagten. Äußerungen wie „Du bist kein Tourist, sondern hast Asyl. Wir haben Dich in unser Land nicht eingeladen“ oder auch „Für dich gilt Paragraph 1. Du musst hier verschwinden“ müssten sie sich von ihm anhören. Als Jw das zuständige Landratsamt damit konfrontiert, heißt es: „Asylantragsteller werden in unserem Amt stets respektvoll behandelt“.
Um der bedrückenden Atmosphäre zumindest kurzzeitig zu entrinnen, brauchen Flüchtlinge Urlaubsscheine. Die werden jedoch mitunter verweigert oder kosteten 20 Euro, sagen die Flüchtlinge. Die „Verlassenserlaubnis“ werde nur bei öffentlichem Interesse, aus zwingenden Gründen oder wenn unbillige Härte vorliege, erteilt, sei aber gebührenfrei, heißt es beim Amt. Als öffentliches Interesse gilt dort allerdings „Dokumentenbeschaffung“ – nicht etwa dass Flüchtlinge ausgehen oder politische Versammlungen wahrnehmen können!
Die Zustände in all diesen Einrichtungen sind unzumutbar. Besuch empfängt dort niemand gern, die meisten schämen sich für ihre Bleibe: Toiletten und Duschen in miserablem hygienischem Zustand: Keine Toilettenbrillen, keine Seifenschalen, keine Seife, keine Handtücher, keine Badezimmerschränke; nur sporadisch warmes Wasser, die Heizung häufig kalt. In der Küche rostige und alte Kochherde, alles komplett unwohnlich. Als wir gehen, geben uns die Flüchtlinge mit auf den Weg: „Selbst wenn das Heim renoviert wird, in dieser Einöde kann keiner leben.“ Lange sei es her, dass sie sich mal ganz normal mit Frauen hätten unterhalten können.
In Breitenworbis kommt die Delegation im Dunkeln an. Beleuchtung gibt es nicht. Im ehemaligen Schlachthof sind 90 Flüchtlinge untergebracht. Hier sollen gar Ratten gesichtet worden sein. Im Hof befindet sich eine Müllhalde; gegenüber ein Schweinestall, aus dem im Sommer üble Gerüche strömten, berichten Flüchtlinge. Der Bus zum nächstgrößeren Ort, Worbis, fährt am Wochenende nur morgens um sieben und nachmittags um 16 Uhr. Deutschunterricht gibt es wöchentlich zwei Stunden. Einige Flüchtlinge wirken verschreckt und verängstigt – trotz unübersehbarer Missstände behaupten sie, alles sei perfekt und neu gemacht. Werden sie unter Druck gesetzt? Darauf hat die zuständige Heiligenstädter Sozialamtsleiterin Monika Fromm keine Antwort, sie beharrt, ohne auf Vorhaltungen einzugehen, alles sei in bester Ordnung. Das Landesverwaltungsamt habe Infrastruktur und gute soziale Betreuung gelobt.
Davon ist allerdings nichts zu merken. Besonders problematisch ist die beengte Wohnsituation für die Familie von Ilham Celilov mit drei Kindern. Eine Bombe hat das Bein des Mannes aus Aserbaidschan weggerissen, zur Dusche über den kalten Flur muss er auf einem Bein hüpfen. Dass Kinder seinen mittlerweile vollständig schwarzen Beinstumpf in der Gemeinschaftsdusche sehen, ist ihm peinlich. Nichts ist behindertengerecht. Zum einkaufen muss er – wie alle anderen – kilometerweit laufen. Am schlechten Zustand seines Beins sei eine schlechte Prothese schuld, berichten Flüchtlinge – die Kosten für eine neue habe das Sozialamt nicht übernommen, genauso wenig wie für die notwendige Operation. Seine Kinder werden zwei Stunden täglich im Heim betreut. Alles in Ordnung?
Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen: Obgleich diese seit längerem in der öffentlichen Kritik steht, finden Friedrich Krauser, Kreisbeigeordneter des Wartburgkreises und die Sozialdezernentin Claudia Döring (beide CDU) für übelste Schikanen und Schrecken aufbauende Worte. Krauser konstatiert etwa, die iranische Familie Memar Barshee habe „freiwillig“ ihre Sachen für die Abschiebung gepackt, als die Ausländerbehörde am 26.10.2010 um 5.30 „an die Tür klopfte“. Im Morgengrauen seien sie aus dem Bett gerissen worden, schildern Flüchtlinge. „Seitdem schlafen alle hier nur noch mit einem Auge, mit dem anderen sind sie wach.“ Zum Fall des 34-jährigen algerischen Flüchtlings Karim Meghraoui, der über eineinhalb Jahre keinen einzigen Cent erhielt und deshalb andere Flüchtlinge anpumpen musste, meint Döring: Dieser habe erst sein Vermögen aufbrauchen müssen – Mitbewohner bestätigen hingegen, er habe keins besessen. Erstaunlicherweise soll es just jetzt aufgebraucht sein, so Döring auf Nachfrage von Junge Welt. Ab November erhalte er wieder Gutscheine.
Polizeikontrolle um Flüchtlinge einzuschüchtern
Unhaltbare Zustände im Lager in Zella-Mehlis. Im Landratsamt in Meiningen steht jetzt „das gesamte Betreiberregime“ auf dem Prüfstand
Vorm Flüchtlingslager in Zella-Mehlis um die Mittagszeit fangen am Donnerstag vergangener Woche mehrere Polizisten eine Delegation der Organisation „The voice“ ab, die Flüchtlinge besuchen will. Ausweiskontrolle! Einem Aktivisten aus einem Nachbarort will man Strafe aufbrummen, weil er die Residenzpflicht nicht eingehalten hat. Das wird mehr als ein monatliches „Taschengeld“ von 41 Euro kosten. Nach dem Zücken des Presseausweises der Journalistin von Junge Welt ist die Polizeimaßnahme beendet. Die Kontrolle der Besucher wirkt einschüchternd auf die dort lebenden Flüchtlinge. Doch als sie die ermutigenden Worte des Sprechers von The voice, Osaren Igbinoba, hören, ist alles fast wieder vergessen. Er fordert die Flüchtlinge auf, füreinander einzustehen. Die Unterkunft ist baufällig, die Heizung funktioniert nur sporadisch, warmes Wasser gibt es kaum. Doch etwas unterscheidet sich hier von anderen Lagern: Im Landratsbüro Meiningen, einer Hochburg der Linken, wird auf Nachfrage von Junge Welt nicht versucht, zu rechtfertigen oder schönzureden. Ob der Peinlichkeit hat die Antwortmail niemand unterzeichen wollen. Nur soviel: Detaillierte Auskünfte wolle man nicht geben. Das gesamte Betreiberregime stehe auf dem Prüfstand. Kurzfristig werde es ein Treffen mit dem Landesverwaltungsamt und dem Mitglied des Thüringer Landtags Ina Leukefeld (Die Linke) geben.
Zu all den Ungeheuerlichkeiten also zunächst kein Wort: Nicht zum Schicksal der 25-jährigen Nama Selo aus dem Irak, die hier ihre Schwangerschaft hat getrennt vom Kindesvater in Köln verbringen müssen – und der man obendrein den Barbetrag von jeweils 41 Euro in den vergangenen vier Monaten vorenthielt. Oder zur rüden Begründung eines Behördenmitarbeiters, sie werde ja sowieso abgeschoben. Nama Selo hat am Sonntag in der Klinik in Suhl ein Mädchen zur Welt gebracht. Auch zu Zeitun Teromerows Problemen, die seit sieben Jahren mit ihren vier Kindern im Lager leben musste, kein Kommentar. Drei der Kinder aus Aserbaidschan, im Alter von 13, 15 und 18 Jahren, hätten in einem Zimmer leben müssen. Zwei Monate lang habe es kein Licht gegeben; Wasser laufe durch die Decke. Keine Reaktion aus dem Amt zu den Sorgen des 40-jährigen Polat Ahmedov aus Aserbaidschan: Obgleich er seine Aufenthaltsgestattung seit zwei Jahren hat, erhält er keine Arbeitserlaubnis. Ein Angebot, in Hamburg auf einem Schiff zu arbeiten, habe er ablehnen müssen. Keine Stellungnahme zum Skandal, daß Flüchtlinge stundenweise auf Ein-Euro-Job-Basis Reinigungsarbeiten im Heim übernehmen »dürfen«, jedoch keine reguläre Arbeitserlaubnis erhalten. Keine Antwort auch auf den Vorwurf von Flüchtlingen, insbesondere die Mitarbeiterin Mandy Hessler lasse Willkür walten. »Sie kickt uns wie einen Fußball«, sagen sie. Einem Vater, der sein krankes Kind in die Klinik gebracht hat, soll sie das Taxi-Geld für den Rückweg verweigert haben, obwohl nachts kein Bus mehr fuhr. Auch zum kürzlichen Versuch einer Abschiebung mitten in der Nacht, die alle Flüchtlinge in Angst und Schrecken versetzte, weil zuvor nicht mal der Anwalt verständigt wurde, wird zunächst geschwiegen. Osaren Igbinoba sieht in Deportationen ein Mittel, Flüchtlinge, die für ihre Rechte kämpfen, zu demoralisieren.
Gitta Düperthal
Konferenz zum Kampf der Flüchtlinge
Unter dem Motto „Isolation brechen – Lager schließen“ werden Aktivisten von „The Voice“ und „Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten“ am Wochenende eine Konferenz in Berlin veranstalten. Diskutiert wird über den Kampf der Flüchtlinge in den Lagern Gerstungen, Breitenworbis, Gangloffsömmern, Zella-Mehlis in Thüringen. Als Ergebnis von Besuchen von Aktivisten und Journalistinnen entstehen Interviews und Filme mit Bewohnern. Auch in Lagern in Sachsen-Anhalt (Möhlau) und Baden-Württemberg (Biberach) kämpfen Flüchtlinge gemeinsam gegen soziale Ausgrenzung. Um die Kämpfe weiterführen zu können, braucht die Organisation Unterstützung und Geld. Ziel ist, regelmäßigen Kontakt der Flüchtlinge untereinander – auch in verschiedenen Heimen – zu gewährleisten. Neben der Intensivierung der Presse- und Online-Arbeit seien Ausstellungen in und über die Heime, sowie Kunstprojekte geplant, so der Sprecher, Osaren Igbinoba. Dazu sei eine hochwertige technische Ausstattung nötig, um effektiv arbeiten zu können. Weiterhin seien Sachspenden wie eine gute Computer- oder Filmausstattung oder Surfsticks für Flüchtlingsheime wichtig. Der Organisation sind Autos zur Verfügung gestellt worden. Für Besuche in abgelegenen Flüchtlingsheimen sind sie wichtig. Hauptaktivisten benötigen eine Bahncard. (düp)
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Eingeschränkte Rechte von jw
Gegenwind aus dem Lager - Geheiminspektion des Innenministers zum Spießrutenlauf in Gerstungen
"Ich lebe nicht in Deutschland, sondern im Lager" - Isolation statt Integration in Gerstungen (spiegel Online, 15.10.2010)
DEUTSCH: Aufruf zur Spende für die Flüchtlingscommunitys in den Lagern: Brecht die Isolation! Alle Lager schließen!
ENGLISH: Make Donation for the Refugee Community in the lagers! - Break the Isolation! Close all lagers!
Aufruf zur Spende für die Flüchtlingscommunitys in den Lagern: Brecht die Isolation! Alle Lager schließen!
Spendenkonto: Förderverein The VOICE e.V., Sparkasse Göttingen, Kontonummer 127829, BLZ: 260 500 01