Gehörlose Mutter kämpft: Gebt mir mein Kind zurück!
STEPHANIE LAMPRECHT
Es war ein trauriges Weihnachtsfest für Annette S. (42): Sie durfte ihren Sohn Antonio (7) nicht sehen. Das Jugendamt des Bezirks Wandsbek hat der gehörlosen Frau vor zwei Jahren das Sorgerecht für ihr einziges Kind entzogen. Jetzt kämpft ein Menschenrechtsanwalt aus Straßburg für die kleine Familie.
David Schneider-Addae-Mensah (39) sieht die Gehörlosigkeit seiner Mandantin als Hauptgrund für den Sorgerechtsentzug und prangert das Verhalten der Hamburger Behörde als diskriminierend an.
Annette S., Tochter eines Vaters aus Benin und einer deutschen Mutter, ist seit ihrer Geburt gehörlos, als Einzige in ihrer Familie. Sie ist gelernte Hauswirtschafterin, arbeitete in einem Hotel. Sie spricht mit ihren Händen, Gebärdensprache. In Hamburg leben ungefähr 2000 gehörlose Menschen. Viele von ihnen haben Kinder, auch hörende Kinder, wie Antonio. Diese Kinder wachsen zweisprachig auf, lernen Lautsprache in der Frühförderung und Gebärdensprache von ihren Eltern. Auch Antonio lernte beide Sprachen.
Als Annette S., alleinerziehend, 2008 das Jugendamt um eine Familienhelferin bittet, eskaliert die Situation: Im Oktober 2008 kommt Antonio zu einer Pflegefamilie. Es gebe "Kommunikationsprobleme" zwischen hörendem Kind und gehörloser Mutter, so die Behörde. Der Fünfjährige sei verhaltensauffällig, zeige "unerklärliche Wutausbrüche" gegen seine Mutter, respektiere sie nicht, weigere sich zu gebärden.
Annette S. kämpft vor Gericht um das Sorgerecht, scheitert. im April 2010 bestätigt das Amtsgericht Barmbek: Antonio bleibt in der Pflegefamilie. Die Richter stützen sich auf eine Gutachterin, die Gehörlose offenbar generell für schlechtere Eltern hält: "Ihr Weltwissen ist eingeschränkter als das von Hörenden", schreibt die Diplom-Sozialpädagogin. Und: "Das Erziehungsverhalten gehörloser Eltern ist dem Entwicklungsalter des Kindes wenig angepasst."
Für Rechtsanwalt Schneider ein Skandal: "Das Gutachten ist eine Ansammlung beleidigender Unterstellungen." Er hat einen Eilantrag an das Hanseatische Oberlandesgericht gestellt: Antonios Tante Aretha Apethy (39), Erziehungswissenschaftlerin, hörend und Mutter eines Fünfjährigen, möchte ihren Neffen zu sich nehmen, bis er wieder zu seiner Mutter zurückkann. Am 6. Januar wollen die Richter sie anhören.
Antonio lebt inzwischen in einem Heim, die Sprache seiner Mutter hat er fast verlernt: "Sie entfremden mir mein Kind", gebärdet Annette S., und der Schmerz darüber steht ihr ins Gesicht geschrieben. Zu Weihnachten durfte sie ihm nur eine E-Mail schreiben.
http://archiv.mopo.de/archiv/2010/20101229/hamburg/panorama/gehoerlose_…
29.12.2010
ARCHIV: JUGENDAMT
Pressemitteilung für Faxprotest: Wie Jugendamtsmitarbeiter einer gehörlosen Mutter ihr Kind wegnehmen (siehe Musterbrief unten) https://thevoiceforum.org/node/1910
Kindeswohl - Bei Anruf Kind weg
Einer gehörlosen Mutter wird ihr hörendes Kind weggenommen. Sie könnten nicht ausreichend kommunizieren, so das Jugendamt. Das Oberlandesgericht soll jetzt entscheiden, ob der Junge zur Tante kommt. VON EMILIA SMECHOWSKI
Leidet unter der Trennung von ihrem siebenjährigen Sohn Antonio: Annette S. mit Gebärden-Dolmetscherin. Foto: Ulrike Schmidt
Annette S. durfte ihrem Sohn Antonio zu Weihnachten eine E-Mail schreiben, mit ihm feiern konnte sie nicht. Sie weiß nicht, wie es ihm geht, nur, dass der Siebenjährige seit acht Tagen in einem Kinderheim irgendwo in Schleswig-Holstein wohnt. Annette S., 42 Jahre und Hauswirtschafterin in Hamburg, ist gehörlos, ihr Sohn hörend. Seit zwei Jahren schon wohnt er nicht mehr bei ihr, das Jugendamt Hamburg-Wandsbek hatte Antonio eines Oktobertages 2008 in eine Pflegefamilie gebracht. Begründung: Kommunikation und Interaktion zwischen Mutter und Sohn seien stark gestört und das Kindeswohl somit gefährdet. Die Mutter sei psychisch labil und könne ihren Sohn deshalb nicht behalten, schreibt das Jugendamt weiter. "Psychische Probleme habe ich, weil Antonio mir weggenommen wurde", sagt Annette S. "Das würde jeder Mutter so gehen." Nach sechs Monaten fällt das Amtsgericht Barmbek die Entscheidung: Es entzieht Annette S. das Sorgerecht für ihren Sohn vollständig.
Doch bei der Pflegefamilie läuft es nicht gut mit Antonio. Die Pflegemutter sei mit dem Kind überfordert und fühle sich vom Jugendamt überhaupt nicht unterstützt, behaupten zumindest Antonios Tante Aretha S.-Apithy und der Anwalt der Familie, David Schneider-Addae-Mensah. Die Pflegefamilie selbst war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Fest steht: Antonio musste jetzt, nach zwei Jahren, ins Heim.
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Gegen den Beschluss des Amtsgerichts von 2008 ist eine Beschwerde der Mutter anhängig, der Fall soll jetzt im Januar vor dem Oberlandesgericht (OLG) verhandelt werden. Die Forderung, Antonio wieder der Obhut seiner Mutter zu überlassen, wurde jedoch bereits abgelehnt. Geprüft werden soll lediglich, ob der Junge zu seiner Tante Aretha S.-Apithy ziehen kann. Sie ist Pädagogin und lernt die Gebärdenspräche, wohnt jedoch in Berlin. Dennoch wäre Annette S. mit dieser Übergangsregelung einverstanden - bis Antonio wieder zu ihr ziehen kann.
Sorgerechtsregelung
Das Recht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, sind im Grundgesetz verankert.
Eingeschränkt gilt das Recht, wenn das Kindeswohl gefährdet ist.
Worin das Kindeswohl genau besteht, entscheidet von Fall zu Fall das Familiengericht.
Das gängige Prozedere: Das Jugendamt beobachtet und hilft der Familie. Eine amtliche Kindesentziehung bedarf eines vorherigen Gerichtsbeschlusses.
Bei Gefahr im Verzug dürfen Behörden sofort handeln.
Um etwa 50 Prozent gestiegen ist die Zahl der Fälle von Sorgerechtsentzug seit 1991. 2009 wurde in 12.000 Fällen das Sorgerecht vollständig oder teilweise entzogen, so das Statistische Bundesamt.
"Natürlich war die Kommunikation zwischen Antonio und mir nicht immer einfach", sagt sie weiter. "Aber genau deshalb wollte ich mir doch vom Jugendamt helfen lassen!" Sie hatte aus freien Stücken Familienhilfe beantragt und bat um Unterstützung beim Gebärdenunterricht für Antonio. Nun fühlt sie sich betrogen, weil das Jugendamt ihr stattdessen das Kind weggenommen hat. Heute sieht sie Antonio alle zwei Wochen, für zwei Stunden. Ob auf dem Spielplatz, im Schwimmbad oder beim Eis-Essen - eine Mitarbeiterin vom Jugendamt ist immer dabei. "Es ist fast nicht zu ertragen, dass ich nie mit meinem Kind allein sein kann", sagt sie. Bis zu diesem Moment hat Annette S. ruhig und gefasst ihre Geschichte erzählt. Jetzt fließen ihr die Tränen übers Gesicht. "Mein Sohn entfernt sich immer mehr von mir", sagt sie. Jetzt sei die Kommunikation tatsächlich gestört: Antonio gebärdet kaum noch.
Anwalt Schneider-Addae-Mensah beanstandet das vom Amtsgericht eingeholte Gutachten. "Die Sachverständige beherrscht keine Gebärdensprache und war somit nicht kompetent genug", sagt er. Sie hatte festgestellt, dass Annette S. sich als Opfer fühle, da sie "schwarz und gehörlos" sei, sie misstraue der hörenden Welt. Ihre Kommunikation mit ihrem Sohn sei geprägt außerdem von zwei gegensätzlichen Kulturen. "Ihr Weltwissen ist eingeschränkter als das von Hörenden", schrieb die Gutachterin. Deshalb könne sie Antonio nicht erziehen.
Das kann Cornelia Tsirigotis nicht bestätigen. Kinder gehörloser Eltern dürfe man nicht ihrer Zweisprachigkeit entziehen, sagt die Familientherapeutin und Leiterin einer Hörgeschädigten-Schule. "Grundsätzlich sollte man einer gehörlosen Mutter Hilfe an die Seite stellen, ohne ihr das Kind wegzunehmen", sagt sie. So könne die Mutter-Kind-Interaktion weiter bestehen bleiben. "Gehörlose Eltern sind nicht zwangsläufig schlechte Eltern."
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Kommentar Gescheiterte Familienhilfe
Vom Amt übers Ohr gehauen
Das Jugendamt äußert sich aus Datenschutz-Gründen nicht zu dem Fall, ebenso wie das Kinderheim. Die Schwester Aretha S.-Apithy und der Anwalt haben jetzt eine Welle an öffentlicher Aufmerksamkeit für Antonios Fall losgetreten. Sie schrieben Gehörlosen-Foren an, den Afrikarat und wollen im Notfall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Anwalt Schneider-Addae-Mensah hat sogar seinen alten Jura-Kommilitonen, Hamburgs Ersten Bürgermeister Christoph Ahlhaus, persönlich angeschrieben. Der reichte den Brief an die Justizbehörde weiter. Eine Antwort kam bisher noch nicht.
* 28.12.2010
http://www.taz.de/1/nord/artikel/1/bei-anruf-kind-weg/
Das Jugendamt zerstört das Vertrauen vieler Eltern
Vom Amt übers Ohr gehauen
KOMMENTAR VON EMILIA SMECHOWSKI
Annette S. hat einen großen Fehler begangen. Sie hat bei der Behörde, die sich auf die Fahnen schreibt, Eltern und Kindern zu helfen, tatsächlich um Hilfe gebeten. Da sie selbst gehörlos, ihr Sohn aber hörend ist, war sie vorausschauend genug, die Kommunikation mit ihrem Kind nicht zum Problem werden zu lassen - und ging freiwillig zum Jugendamt.
Sie tat das, was eine gewissenhafte Mutter ausmacht: Die eigenen Schwächen erkennen und danach handeln. Die Ironie der Geschichte: Wäre Annette S. schön zu Hause geblieben und hätte die Kommunikationsprobleme mit ihrem Sohn einfach unter den Teppich gekehrt, würde dieser wahrscheinlich heute noch bei ihr leben. Sie hat der Behörde vertraut. Und dieses Vertrauen wurde ihr zum Verhängnis.
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Auch wenn die Akte einer gehörlosen Mutter nicht alle Tage auf dem Schreibtisch eines Mitarbeiters landet - die Gangart wird beim Jugendamt in vielen Fällen eine ähnliche sein: Sobald ein konkretes Familienproblem bekannt wird, droht der Familie automatisch der Verlust des Sorgerechts. Unter diesen Umständen wird kein Elternteil mehr ehrlich Schwierigkeiten bei der Erziehung einräumen wollen - verständlicherweise. Das Jugendamt wird immer öfter auf Informationen von Dritten angewiesen sein. Es zerstört so das Vertrauen vieler Eltern und gefährdet seine eigene Arbeit.
http://www.taz.de/1/nord/artikel/1/vom-amt-uebers-ohr-gehauen/
END
Sechsfacher Familienvater abgeschoben -Recht auf Familie nicht für Menschen mit Duldung?
https://thevoiceforum.org/node/1923