Oury Jalloh – Das war Mord! Zusammen-kaempfen.net >> https://thevoiceforum.org/node/1938
Tod eines Asylanten - Was geschah in Zelle Nr. 5?
dpa und Taz press 07.01.2011 19:47 Uhr
Von Margot Overath
Er habe sich selbst angezündet, sagt die Polizei. Aber wie sollte das gehen, gefesselt, ohne Feuerzeug?, fragen andere. Vor sechs Jahren starb Oury Jalloh, Asylbewerber aus Afrika. Wie es dazu kam, blieb ungeklärt – und wird nun neu verhandelt.
Der Vertreter der Landesregierung hatte sein Beileid ausgesprochen und war dabei zu gehen, als er Holz splittern hörte. Die Menschen in der Kirche versuchten, den Sarg zu öffnen.
„In dem Zusammenhang war dann Schreien zu hören“, sagt der Landesvertreter, ein Abteilungsleiter aus dem Innenministerium von Sachsen-Anhalt. Schreien vor Entsetzen. Denn der Tote im Sarg war vollkommen verkohlt. Das hatten sie nicht gewusst.
Der Tote: Oury Jalloh, geboren 1968 in Kabala, Sierra Leone. In der letzten Phase des Bürgerkriegs entschloss er sich zur Flucht nach Guinea. Die Eltern lebten schon dort. Sie schickten den Sohn Oury weiter nach Europa.
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Dafür legten sie Geld zusammen. Als Oury aus Deutschland anrief, freuten sie sich.
Oury Jalloh stellte einen Asylantrag und bekam ein Bett im Asylbewerberheim Roßlau, Sachsen-Anhalt. Sechs Jahre später, am 7. Januar 2005, ist er tot. Verbrannt in Zelle fünf des Polizeigewahrsams Dessau, bei lebendigem Leibe.
Er habe sich selbst angezündet, sagte die Polizei.
Zwei Polizisten standen wegen Oury Jallohs Tod in Dessau vor Gericht und wurden freigesprochen. Der Vorsitzende Richter sagte: „Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat, und Polizeibeamte, die in einem besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht.“
In der schriftlichen Urteilsbegründung fand sich von diesem Aufschrei nichts mehr. Fahrlässige Tötung gemäß Paragraf 222 Strafgesetzbuch sei nicht gegeben, stand da und: „Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Tod Oury Jallohs objektiv vermeidbar gewesen wäre.“
Staatsanwaltschaft und Nebenklage beantragten beim Bundesgerichtshof die Revision. Anfang 2010 hob der BGH den Freispruch auf. Die Begründung sei lückenhaft und die Würdigung der Beweismittel nicht nachvollziehbar. Ab Mittwoch soll der Tod von Oury Jalloh komplett neu verhandelt werden. Diesmal vor dem Landgericht Magdeburg mit neuer Beweisaufnahme, neuen Zeugenbefragungen, neuen Sachverständigen. Allein der Hauptangeklagte ist derselbe: Dienstgruppenleiter Andreas S., und die Frage: Was geschah am 7. Januar 2005?
War es ein Unglück — oder gab es, wie Gabriele Heinecke, die Rechtsanwältin von Oury Jallohs Mutter, fragt, „einen Vorsatz, einen Menschen zu töten?“
Polizeirevier Wolfgangstraße in Dessau. Die Gewahrsamszellen befinden sich im Keller, die Leitstelle ist in der ersten Etage. Von den Beamten, die an diesem Tag hier Dienst haben, war keiner an Jallohs Todestag dabei. Einer erzählt, was er weiß: „Vom Grundsachverhalt war es ja so, wir hatten draußen ein Ereignis, bei dem Oury Jalloh festgestellt worden ist, es gab, ein Notruf war’s wohl, ja? Dass dort Frauen belästigt worden sind, und daraufhin kam Polizei zum Einsatz und hat den Sachverhalt vor Ort geklärt.“
Der 7. Januar 2005 war ein Freitag. Ein milder Morgen. Oury Jalloh hatte die Nacht in einer Diskothek verbracht. Allein. Er war betrunken.
Der Einsatzbefehl von 8 Uhr an die Funkstreife lautete: Fahren Sie in die Turmstraße, vier Frauen der Stadtreinigung fühlen sich von einem Afrikaner belästigt.
Als die Polizeistreife bei den Frauen der Stadtreinigung ankam, soll die vermeintliche Konfrontation schon beendet gewesen sein. Oury Jalloh stand einige Meter abseits und hielt sich an der Hauswand fest, erzählten die Frauen vor Gericht. Die Polizisten gingen auf ihn zu. „Ausweis“. Jalloh maulte. Dann: „Passport, Amigo“. Er wollte nicht. Sie nahmen ihn in den Schwitzkasten. Er trat um sich. Sie bugsierten ihn in den Pkw. Um 8 Uhr 30 kam die Funkstreife in der Wolfgangstraße an. Oury Jalloh wurde gleich in den Keller gebracht. Oben in der Leitstelle telefonierte Andreas S. mit dem Bereitschaftsarzt Dr. B.:
Polizei: „Wir bräuchten dich mal.“
Arzt: „Was haste denn?“
Polizei: „Na, eine Blutabnahme“
Arzt: „Na, dann mach ich das.“
Polizei: „Ja, pikste mal ’nen Schwarzafrikaner.“
Arzt: „Ach du Scheiße.“
Polizei: Lachen.
Arzt: „Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen.“
Polizei: „Na, bring doch ’ne Spezialkanüle mit.“
Arzt: „Mach ich.“
Im Arztzimmer nahm Dr. B. die Blutprobe. Das Ergebnis: Blutalkoholwert drei Promille. Zuvor hatten zwei Polizisten Oury Jalloh durchsucht. Udo S. tastete seinen Oberkörper ab, Hans-Ullrich M. aus der Funkstreife seinen Unterkörper. Er fand ein paar Münzen, ein Handy und Papiertaschentücher. Kein Feuerzeug.
Um 9 Uhr 30 trugen drei Männer Oury Jalloh in die Zelle fünf und legten ihn auf einen Betonsockel mit Matratze. Es handelt sich um eine Sicherheitsmatratze mit Kunstlederbezug, schwer entflammbar. Die ganze Zelle ist gefliest, auch der Betonsockel. Vier fest montierte Metallgriffe, seitlich und am Fußende. Daran fesselten sie seine Hände und Füße mit Handschellen. Angeblich zum Schutz vor Selbstverletzung. Er soll seinen Kopf gegen die Wand geschlagen haben.
Mehr oder weniger regelmäßig ging jemand runter in den Gewahrsamstrakt. Wer gerade Zeit hatte, sah nach ihm und trug seinen Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch ein. Über eine Gegensprechanlage zwischen Zelle und Leitstelle wurde Jalloh akustisch, der Flur vor den Zellen optisch überwacht. Zwei Kameras sendeten Bilder nach oben.
Wenn die Überwachung in Ordnung war, wieso ist er dann verbrannt?
Auch Lutz Becker hat versucht, diese Fragen im Kollegenkreis zu diskutieren. Lutz Becker ist ein Dessauer Polizist, der so nicht heißt, der seinen Namen nicht nennen will. Er hat Zweifel am Handeln der Kollegen. Fesselung sei unüblich, sagt er. Zumal bei einem Betrunkenen, er hätte sich erbrechen und daran ersticken können. Becker sagt: „Das Ganze ergibt keinen Sinn. Vielleicht waren Emotionen im Spiel. Wer weiß. Auf jeden Fall lief es nicht professionell ab. Und dann die Geschichte mit dem Feuerzeug. Als der Bürger durchsucht wurde, fand man keins. Wann hat man es gefunden? Drei Tage später. Ist das nicht merkwürdig?“
In der Leitstelle liegt ein Buch. Es ist das Tätigkeitsbuch, in dem alle Notrufe erstmal kurz mitgeschrieben werden.
Bis zwölf Uhr soll alles mehr oder weniger normal gelaufen sein, dann schlug der Brandmelder an. Feuer im Gewahrsam? Der zuständige Dienstgruppenleiter Andreas S. drückte das Signal mehrmals weg. Beate H., seine Kollegin, hörte über die Gegensprechanlage Jalloh nach Hilfe rufen. Minuten vergingen, dann schlug auch der Alarmmelder für die Zellenbelüftung an. Aus der Gegensprechanlage war ein lautes Geräusch zu hören, das Geräusch von lodernden Flammen. Trotz Feueralarm glaubte Andreas S. jedoch, einen Wasserrohrbruch zu hören. Beate H. forderte ihn zum Kontrollgang auf: „Nun geh endlich, beweg dich mal.“
Um 9 Minuten nach 12 gingen der Dienstgruppenleiter Andreas S. mit dem Kollegen Gerhard M., weil der zufällig gerade frei war, runter. Um 11 Minuten nach 12 öffnete Gerhard M. die Tür von Zelle fünf. Da lag Jalloh brennend auf der Matratze. M. konnte ihn nicht raus ziehen, weil er die Fesselschlüssel nicht dabei hatte. Andreas S. soll zurückgelaufen sein, die Schlüssel holen. Als er kam, war es zu spät. Gerhard M. versuchte, die Flammen mit einer Wolldecke zu ersticken, aber da war die Zelle schon so verraucht, dass die Rettungsversuche eingestellt werden mussten.
Zwischen dem ersten Alarm in der Leitstelle und dem Öffnen der Zellentür waren elf Minuten vergangen, rechnete der Staatsanwalt aus. Die Strecke zwischen Obergeschoss und Keller ist sonst in weniger als einer Minute zu bewältigen.
Andreas S. sei als Dienstgruppenleiter gar nicht für den Gewahrsamsinsassen verantwortlich gewesen, sagt Lutz Becker. „Der Dienstgruppenleiter ist der Vorgesetzte, er soll die Dienstschicht ‚führen’, er trägt die Gesamtverantwortung. Wird ein Bürger von einer Streife hereingebracht, wird ein Kollege abgestellt, gewissermaßen als Wachdienst. Er ist dann der Gewahrsamsbeamte. Von dem Moment an ist der für ihn zuständig und dafür unterschreibt er auch. Wenn kein Beamter frei ist, muss einer angefordert werden.“
Hatte Oury Jalloh keinen Gewahrsambeamten? Oder gab es einen, von dem keiner weiß?
Von 12 Uhr 20 bis 5 nach halb 1 waren die Feuerwehrmänner mit Löscharbeiten beschäftigt. Um 13 Uhr 45 wurde die Tatortgruppe der Polizeidirektion Stendal nach Dessau gerufen. Die Beamten trafen um 15 Uhr 30 im Revier ein, ließen sich informieren und betraten mit einer Videokamera den Gewahrsamsbereich. Jallohs Leiche lag noch dort. Der Mann mit der Videokamera sagte während der Aufnahme in das Mikrofon, der Gefangene in der Zelle habe sich selbst angezündet. Das war mehr, als er wissen konnte. Dann wurde die Leiche von den Fesseln gelöst. Von den Fingern und Zehen waren schon die Kuppen abgebrannt. Später wird man sie im Brandschutt finden, der zusammengefegt und zur Vorbereitung der Untersuchung in Stendal auf drei Tüten verteilt wurde. Die Kamera war dabei, nahm alles auf.
Noch am Nachmittag des 7. Januar begannen die Beamten der Polizeidirektion Stendal mit ihren Verhören. Zur wichtigsten Zeugin wurde Beate H., der aufgefallen war, dass der Dienstgruppenleiter mehrmals den Feueralarm weggedrückt hatte. Beate H. berichtete auch von einem Geräusch etwa eine halbe Stunde vor dem Alarm, also gegen halb zwölf. Wie von einem klappernden Schlüsselbund. Sie hörte Kollegen mit Oury Jalloh reden, konnte die Stimmen aber nicht zuordnen. Danach sei auch keiner raufgekommen, um den Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch einzutragen. Eine Viertelstunde später hätte sie unten nachgesehen, aber da war niemand.
Außerdem berichtete Beate H. von einer Lache aus klarer Flüssigkeit, die sie auf dem Fußboden von Zelle fünf gesehen habe. Zwei andere Kollegen erinnern sich in dieser Vernehmungsphase auch daran. Vielleicht Urin? Oury Jalloh war gefesselt, er konnte nicht zur Toilette gehen. Nein, sagen alle drei unabhängig voneinander, das war kein Urin. Kontrollieren ließen sie die Flüssigkeit aber nicht.
Kurz nach dem Tod von Jalloh wurde Beate H. in eine andere Dienststelle versetzt. Es kam zu einem Gespräch zwischen ihr, Andreas S. und seinen Strafverteidigern. Danach zog sie ihre Aussage zurück. Fünf Wochen nach dem 7. Januar ließ sie sich wegen psychischer Probleme krankschreiben und begab sich in Behandlung. Auch der Mann mit der Videokamera ließ sich für zwei Monate krankschreiben. Noch am gleichen Nachmittag, im Anschluss an die Tatortbesichtigung. Wegen einer Allergie.
Wahrscheinlich hat Beate H. über die Gegensprechanlage Oury Jallohs Schreie gehört, meint Lutz Becker. „Das bleibt im Gedächtnis“, sagt er, „für immer.“ Vielleicht habe sie auch runtergehen wollen und jemand habe sie gehindert, sagt er. „Die Frage muss gestellt werden.“
Die Zelle ist inzwischen repariert. Wieder instand gesetzt. Auch die Metallbügel, an denen Insassen gefesselt werden. Meist nur an den Armen. In Ausnahmefällen auch an den Beinen. Warum Jallohs Füße angekettet wurden, darüber diskutierten Polizisten im Internet.
Die Staatsanwaltschaft ließ ein einfaches Röntgenbild von Jallohs Leichnam machen, aber keine Spezialaufnahme im Kernspintomografen. Die „intensiv geführten Ermittlungen“ hätten „eindeutig und zweifelsfrei“ „nicht den geringsten Anlass für Misshandlungen und knöcherne Verletzungen des Oury Jalloh ergeben“, steht in der Presseerklärung der Staatsanwaltschaft vom 24. März 2005. Die Familie traute dem nicht und schickte die Leiche des Sohnes im Zinksarg auf eigene Kosten zur Uniklinik Frankfurt am Main. Sie wurde in die MRT-Röhre geschoben. Man fand „knöcherne Verletzungen“ am Kopf, darunter einen Nasenbeinbruch.
Oury Jalloh muss furchtbare Schmerzen erlitten haben. Er muss mit den Handschellen gescheppert, gerufen und geschrien haben. Dabei hat er Ruß verschluckt. Die Gerichtsmediziner fanden Rußpartikel in Lunge und Magen, außerdem viel Adrenalin. Ein Beweis für Panik, für höchste Erregung in Todesangst.
In der Leitstelle war davon nichts zu hören? Alle technischen Einrichtungen waren in Ordnung laut Untersuchungsbericht der Polizei Stendal.
Nachdem der Brand gelöscht war und der Mann mit der Videokamera fertig gefilmt hatte, wurde der Brandschutt zusammengefegt, auf drei Tüten verteilt und durchgesehen. Ein Feuerzeug oder Reste eines Feuerzeugs sind niemandem aufgefallen. Man fand das Feuerzeug drei Tage später, am 10. Januar, in einer Teilmenge des Brandschutts, die in einem Spezialofen auf Brandbeschleuniger untersucht wurde. Nach der Untersuchung wurde der Inhalt der Tüte ausgeschüttet und inmitten des Schutts tauchte ein rotes Plastikfeuerzeug auf.
Das Feuerzeug war nur verschmort, nicht explodiert – obwohl der Brand 800 Grad erreicht hatte. Sogar der Markenname war noch zu erkennen: Tokai.
Eine ganze Stunde lang war gefilmt worden, doch die Bildspur der Aufnahme ist fast leer, nur die ersten vier Minuten und elf Sekunden sind zu sehen. Als der Kameramann in der Zelle filmen will, bricht der Film ab. Außerdem verschwunden sind: ein Verzeichnis mit den Namen aller 70 Personen, die an jenem Morgen im Revier waren. Und die Bilder der Flurüberwachung, die nach oben zum Monitor in der Leitstelle gesendet wurden.
Eine Flüssigkeitslache in der Zelle, die nicht untersucht wurde.
Ein Kontrollgang, der nicht eingetragen wurde.
Ein Feuerzeug, das erst nach drei Tagen entdeckt wurde.
Eine Videokamera, die nach vier Minuten aufhörte zu filmen.
Überwachungskameras, deren Bilder nicht sichergestellt wurden.
Im März 2005 erschien als „Hausmitteilung“ des Polizeireviers eine, wie es hieß, „objektive“ Darstellung der Ereignisse vom 7. Januar. Angefertigt hatte sie ein Vorgesetzter aus dem Polizeirevier. Er hatte alle Aussagen redaktionell bearbeitet und neu zusammengestellt. Damit wollte er das Wissen seiner Beamten auf den gleichen Stand bringen, gibt er als Zeuge im Prozess an.
Marco Steckel leitet die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt in Dessau, Wittenberg und Anhalt-Bitterfeld. Mit seinem Team hat er jeden der 60 Verhandlungstage des Dessauer Landgerichts beobachtet, protokolliert und ins Internet gestellt. „Von Anfang an hatte ich immer das Gefühl, dass da gemauert wird und man die Öffentlichkeit sozusagen nicht gerne informiert, sondern nur auf Druck“, sagt Steckel.
Erst fünf Wochen nach dem Ereignis bestätigte die Polizeiführung, dass Oury Jalloh gefesselt und fixiert war.
In der schriftlichen Urteilsbegründung sind keine Informationen darüber zu finden, wie das Feuer entstanden ist. Gutachter hatten versucht, den Brand nachzustellen. Sie mussten dazu erst den Bezug der Matratze aufschneiden – sie hatte doppelte Nähte – den Schaumstoffkern herausholen, der sich dann anzünden ließ. Daraus folgerte der Richter, Jalloh habe mit dem Feuerzeug die Naht des Kunstlederbezugs der Matratze verschmort, um den Bezug öffnen zu können. Den Inhalt habe er dann herausgezogen und angezündet. Oder er habe eine schadhafte Stelle an der Matratze entdeckt, die Flamme darauf gerichtet und so den Schaumstoff durch den Kunstlederbezug hindurch in Brand gesetzt.
Aber war Oury Jalloh im Vollrausch fähig, das Feuerzeug so lange und zielgerichtet auf eine Stelle zu halten, ohne sich die Hand zu verbrennen? Diese Frage hat am 7. Januar 2010 die Richterin des Bundesgerichtshofs gestellt, die den Freispruch aufhob. Wer sich weh tut, wirft das Feuerzeug spontan weg. Es passiert einfach, ein Reflex. Außerdem: Brennt eine Flamme nicht immer von unten nach oben? Wie kann jemand eine Matratze anzünden, auf der er liegt? Gefesselt liegt. Es soll ein Plastikfeuerzeug gewesen sein, kein Hochleistungsbrenner.
Lutz Becker sagt, diese Fragen hätten sie auch im Kollegenkreis gestellt. Aber sie seien dann jedes Mal verstummt. Weil jeder dasselbe denke. Dass da jemand Feuerzeugbenzin drauf geschüttet hat. Er sagt: „Stellen Sie sich vor, jetzt käme raus, da hat die Person X nachgeholfen und das hätten wir schon vor Jahren wissen können. Dann müsste gefragt werden, wer hat das vermasselt und warum wurde das nicht geprüft. Dann käme jemand sehr stark in Erklärungsnot. Der Schaden wäre immens, auch intern.“ Er sagt, die ganze Hierarchie käme ins Wanken. Er sagt, es wäre ein Desaster.
Die Autorin erhielt für ihr MDR-Radiofeature „Verbrannt in Polizeizelle Nr. 5“ den Bremer Hörkino-Preis 2011.
dpa press 07.01.2011 19:47 Uhr
Von Margot Overath
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/was-geschah-in-zelle-nr-5/369288…
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Prozess im Fall Oury Jalloh
Das Schweigen der Beamten
Der Asylbewerber Oury Jalloh verbrannte gefesselt in einer Zelle, ein Polizist ignorierte den Feueralarm. Jetzt wird der Fall neu verhandelt. VON MICHAEL BARTSCH
Der "Korpsgeist" der Polizei hat eine Aufklärung des Falls Oury Jalloh bislang verhindert - nun wird der Prozess neu aufgerollt. Foto: dpa
Es wird nicht nur um Oury Jalloh gehen, am Mittwoch am Landgericht in Magdeburg, sondern mindestens so sehr um Andreas S. Er ist ehemaliger Dienstgruppenleiter des Polizeireviers Dessau. Und auch wenn die Richter darüber kein Urteil fällen können: Es wird auch um die Mauer aus Schweigen gehen, die S. schützt. Und damit um das Verhalten der Polizei in Sachsen-Anhalt.
Sechs Jahre ist es her, dass Oury Jalloh, Asylbewerber aus Sierra Leone, an einem Freitagmittag im Januar in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte. Ab Mittwoch kommt der Fall noch einmal vor Gericht, in Magdeburg wird er neu verhandelt. Der Bundesgerichtshof hatte den Freispruch gegen Dienstgruppenleiter Andreas S. wegen Lücken in der Beweisführung aufgehoben.
Anzeige
Am mangelnden Aufklärungswillen der Angeklagten war der erste Prozess vor dem Landgericht Dessau-Roßlau gescheitert. Das sahen nach dem Freispruch im Dezember 2008 nicht nur Menschenrechtsinitiativen und Oury Jallohs Freund Mouctar Bah so. "Der Fall strotzt vor Versäumnissen und Schlamperei", sagte der damalige Richter Manfred Steinhoff schon kurz nach Prozessbeginn. Nebenklageanwalt Felix Isensee fand in seinem Plädoyer ein Wort für das, was viele beklagten. "Korpsgeist der Polizei", nannte er es. "Die Zeugen haben gelogen und gemauert."
Die Landesregierung verbreitete nach dem Urteil eine ungewöhnliche Erklärung: Sie erwarte von ihren Beamten, "dass sie zur Wahrheitsfindung beitragen und helfen, Schaden vom Land Sachsen-Anhalt abzuwenden", stand darin. Und Ministerpräsident Wolfgang Böhmer äußerte Verständnis für die Empörung über die Freisprüche.
Tod in der Zelle
Der Termin: Am Mittwoch beginnt vor dem Magdeburger Landgericht das Revisionsverfahren um den Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh. Andreas S., damals Dienstgruppenleiter des Dessauer Polizeireviers, wird Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen.
Der Fall: Oury Jalloh aus Sierra Leone starb 7. Januar 2005 durch einen Brand in einer Dessauer Polizeizelle. Der erste Prozess um seinen Tod endete 2008 mit Freisprüchen für die Angeklagten. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf.
Die Aktion: Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh ruft für Mittwoch um 9 Uhr zu einer Mahnwache vor dem Landgericht auf.
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Was aber musste vertuscht werden? Nach den bisherigen Aussagen stellt sich der Fall wie folgt dar: Am Morgen des 7. Januar 2005 wird Oury Jalloh in das Polizeirevier eingeliefert. Er hat zwei Promille Alkohol im Blut und Frauen haben sich von ihm belästigt gefühlt. Weil er sich wehrt, wird er an Händen und Füßen gefesselt und in eine geflieste Zelle im Keller gebracht, in der sich nur eine Liege mit einer schwer entflammbaren Matratze befindet. Etwa zweieinhalb Stunden lang gibt es keine Auffälligkeiten.
Um die Mittagszeit schlägt der Rauchmelder der Zelle an. Der Dienstgruppenleiter ignoriert ihn - und auch einen zweiten Alarm. Es habe schon des Öfteren Fehlalarm gegeben. Erst nachdem über eine Wechselsprechanlage Hilferufe von Jalloh zu hören sind, alarmiert eine Beamtin das übrige Revier. Versuche, in die Zelle einzudringen, scheitern am vielen Rauch. Rettungskräfte können später nur noch den Tod von Oury Jalloh feststellen. Er starb an einem Hitzeschock.
Wie in einem nahezu brandsicheren Raum ein Feuer ausbrechen konnte, wurde trotz einer aufwendigen Simulation nie geklärt. Experten bauten die Zelle nach, machten Brandversuche mit den Materialien - ohne Ergebnis. Der Verdacht, ein im ersten Prozess ebenfalls angeklagter Polizist habe Oury Jalloh ungenügend kontrolliert, sodass er ein Feuerzeug in die Zelle schmuggeln konnte, wurde fallen gelassen. In der Zelle waren Reste eines Feuerzeugs gefunden worden. Aber Jalloh war gefesselt und der Bezug der Matratze flammensicher.
Das Aufsehen, das der Fall erregte, entsprang aber nicht allein den vielen Ungereimtheiten und der Tatsache, dass Jalloh bei rechtzeitigem Eingreifen hätte gerettet werden können. Gerade die Haltung der Angeklagten erregte. Etwa das Protokoll eines Telefonats zwischen dem Dienstgruppenleiter Andreas S. und einem Arzt, der Jalloh untersuchen sollte. S. fragte: "Ja, piekste mal nen Schwarzafrikaner?" - "Ach du Scheiße, da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen." S. antwortete: "Na bring doch ne Spezialkanüle mit." Sogar in einer Führungskräfteberatung der früheren Polizeidirektion Halle fiel der Satz "Schwarze brennen eben mal länger".
Ohne sein Unbehagen zu verbergen verkündete Richter Steinhoff am Ende den Freispruch, nachdem Bemühungen zur Einstellung des Verfahrens gescheitert waren. Ebenso klar war aber auch, dass die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage Revision beantragen würden. Genau am fünften Todestag Jallohs hob der BGH das Dessauer Urteil auf.
Ob der neue Prozess wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung auch neue Ergebnisse bringt, hängt davon ab, ob die wesentlichen Zeugen aus dem Polizeirevier dieses Mal offener sprechen. Es ist die Frage dieses Prozesses: Hat sich etwas an der Einstellung des Angeklagten oder seiner Kollegen geändert?
Was die Polizei in Sachsen-Anhalt angeht, hatte der Fall Konsequenzen. Selbst Linken-Innenpolitikerin Gudrun Tiedge sagt, dass sich "etwas tut in der Ära Hövelmann". Es gibt Versuche, das Schweigen zu brechen.
Der SPD-Politiker Holger Hövelmann ist seit 2006 Innenminister von Sachsen-Anhalt. Er hat die Vorgaben verschärft, wie mit Menschen in Polizeigewahrsam umgegangen werden muss, etwa wann Fesseln angelegt werden dürfen. Als Behörden Statistiken rechter Straftaten fälschten, trat der Chef des Landeskriminalamts zurück. Ein Polizeiuntersuchungsausschuss des Landtags beschäftigt sich mit insgesamt sechs Fällen von möglicher Verharmlosung rechter Straftaten. Im Februar soll ein Abschlussbericht erscheinen. Seit 2009 gibt es in Sachsen-Anhalt außerdem eine Polizeibeschwerdestelle für Bürger. Allerdings nicht unabhängig, sondern beim Innenministerium angesiedelt, wie Linke und Grüne kritisieren.
In Dessau gab es jüngst zwei Gespräche zwischen der Deutsch-Afrikanischen Initiative und der Polizei. Vorausgegangen war dem allerdings ein rüder Polizeieinsatz im Dezember 2009 in einem Dessauer Telecafé. Er wurde mit dem Verdacht auf Drogenhandel begründet. Dabei räumte selbst die Polizei später ein, Betreiber und Mitarbeiter des Cafés selbst hätten sie früh auf die Drogenszene in der Straße aufmerksam gemacht. Das Café leitet Mouctar Bah, Oury Jallohs Freund.
Taz: 07.01.2011
http://www.taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/das-schweigen-der-beamten/
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Dessau-Roßlau
Gedenken an Tod von Oury Jalloh
VON Andrea Hentschel, 07.01.11, 07:38h, aktualisiert 07.01.11, 14:28h
Demonstranten mit Plakat für Oury Jalloh
Dessau-Roßlau gedenkt am Freitag des Asylbewerbers Oury Jalloh. (FOTO: DPA/ARCHIV)
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Dessau-Roßlau/afp. Warum musste Oury Jalloh sterben? Die Umstände, die vor sechs Jahren zum grausamen Feuertod des Asylbewerbers aus Sierra Leone in einer Polizeizelle führten, beschäftigen erneut die Justiz. Vor dem Landgericht Magdeburg wird am kommenden Mittwoch der Prozess gegen einen Polizisten neu aufgerollt. Der Beamte war im Dezember 2008 vom Landgericht Dessau vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochen worden - diesen Freispruch hob der Bundesgerichtshof (BGH) vor einem Jahr wieder auf. Die Richter in Magdeburg müssen sich deshalb erneut mit der Frage befassen, ob der Polizist eine Mitschuld am Tod des Asylbewerbers trägt.
Was genau auf der Polizeiwache in Dessau an jenem 7. Januar 2005 geschah, ist immer noch größtenteils ungeklärt. Jalloh war festgenommen worden, weil sich Frauen von dem alkoholisierten Mann belästigt fühlten. Weil er sich den Beamten nach deren Angaben widersetzte, wurde er in einer Gewahrsamszelle an eine Pritsche gefesselt - später ging die Matratze, auf der er lag, in Flammen auf. Trotz der Fesselung an Händen und Füßen soll er mit einem Feuerzeug den Brand selbst ausgelöst haben. Jalloh starb binnen zwei Minuten durch die heißen Rauchgase an einem sogenannten Inhalationshitzeschock.
Das Landgericht Dessau versuchte in einem zähen, fast 60 Tage währenden Verfahren, die genauen Abläufe an jenem Januartag aufzuklären, was nicht restlos gelang. Der Prozess endete mit Freisprüchen für den angeklagten Dienstgruppenleiter des Polizeireviers und einen weiteren Beamten. Nach Auffassung des Gerichts konnte ihnen keine Mitschuld am Tod von Jalloh nachgewiesen werden. Der damalige Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff sprach von einem gescheiterten Verfahren und bezichtigte Polizeibeamte, die als Zeugen ausgesagt hatten, der Falschaussage. Das Urteil sorgte für Empörung und heftige Proteste.
Nach Revision von Staatsanwaltschaft und Nebenklage hob der BGH den Freispruch gegen den angeklagten Dienstgruppenleiter Andreas S. auf. Zu viele Fragen seien ungeklärt, befand der BGH und verwies auf Lücken in der Beweiskette. So sei unklar, wie es dem gefesselten Jalloh möglich gewesen sein soll, den Bezug seiner Matratze mit einem Feuerzeug anzuschmoren, ohne sich die Hand zu verbrennen und Schmerzenslaute von sich zu geben. Dies aber, so der BGH, hätte der Polizist über die Gegensprechanlage hören müssen.
Der BGH kritisierte überdies, dass das Dessauer Landgericht dem Polizisten ein «pflichtgemäßes Verhalten» zubilligte, obwohl dieser den Alarm zunächst wegdrückte, dann mit seinem Vorgesetzten telefonierte und auf dem Weg zur Zelle nochmals umkehrte, weil er den Schlüssel für die Fußfessel vergessen hatte.
Eine wichtige Rolle in dem Verfahren vor dem Landgericht Magdeburg wird daher unter anderem die Frage spielen, wann der Rauchmelder in der Zelle ansprang und ob der angeklagte Polizist danach Jallohs Tod hätte verhindern können. Für den Prozess, der unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen stattfindet, sind zunächst 21 Verhandlungstag bis Ende Mai terminiert.
Initiativen zum Gedenken an den Tod von Oury Jalloh, Menschenrechtler und nicht zuletzt die Hinterbliebenen hoffen, dass durch den Prozess in Magdeburg doch noch Licht in das Dunkel kommt. Wie schon in Dessau wollen sie das Verfahren auch diesmal kritisch beobachten. Für Mittwoch ist eine Mahnwache vor dem Gericht geplant. Bereits an diesem Freitag erinnerten in Dessau zahlreiche Bürger auf einer Gedenkveranstaltung an den Tod von Oury Jalloh vor sechs Jahren.
http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksA…
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Die 6. Gedenkproteste für Oury Jalloh in Dessau - Wir kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit! - The VOICE Refugee Forum >> https://thevoiceforum.org/node/1929