Flüchtlings-IsolationsLager in Gerstungen
Im Lager Gerstungen ist ein Mann gestorben. Er war wohl krank. Seine Leiche wurde erst nach 10 Tagen entdeckt wahrscheinlich aus Liberia – das war alles, was bei einem Treffen von the VOICE Aktivist_innen in Jena durch Telefonate in Erfahrung gebracht werden konnte. Und – das ganze ist wohl schon vor ein paar Wochen passiert, nur zufällig ist die Information nach Jena gelangt. Ein Schock. „If a human dies, it needs to be public. – No one informed us, how can that be.” Sofort wird ein Besuch in Gerstungen geplant, so schnell wie möglich, um zu sehen was in diesem Lager los ist, wer der Mann war, wie er gestorben ist und wie es sein kann, dass niemand davon berichtet.
Der Betonbau bröckelt innen und außen, der Zaun begrenzt das deprimierende Gelände als wir vor dem Eingang stehen springt ein kleiner Junge aus dem Flur „langweilig!“ schreit er uns an. „Ich musste helfen den Leichnam herunter zu tragen.“ erzählt ein Mann, der nach unten gekommen ist „Der Afrikaner ist noch nicht lange im Lager gewesen, so ein bis zwei Monate“, er kannte ihn nicht, sieht besorgt aus, scheint darauf zu gewartet zu haben, dass ihn jemand danach fragt. „Die Polizei war hier, aber sie haben mit uns nicht gesprochen.“ Er hat gehört wie der Arzt gesagt hat, dass der Mann wohl schon mehr als eine Woche tot in seinem Zimmer gelegen hat. Nur wegen dem Gestank, hat jemand bei der Kontrolle das Zimmer aufgemacht. Dann sind sie rein gegangen mit Mundschutz. „Und jetzt versuchen sie uns davon abzulenken, damit wir nicht nachfragen, und wenn wir fragen ist die einzige Antwort, wir wissen es nicht.“ „Dazu wurde drei Tage danach ein Kinderfest veranstaltet“, sagt er, das kam ihm seltsam vor, „ vor drei Tagen wurde hier noch eine Leiche runter getragen und niemand sagt uns was genau passiert ist.“ Er war krank, aber er wurde vom Krankenhaus wieder zurück gebracht.
Im Zimmer neben dem des Toten.
„Wir wohnen ja neben ihm. Er hat die ganze zeit Selbstgespräche geführt. Er hat den Tag und die Nacht vertauscht. Er ist nachts auf dem Flur hin und hergelaufen. Wir hatten keinen Kontakt, er war immer nur in seinem Zimmer.“ Den Gestank haben sie gerochen, aber das scheint hier nicht ungewöhnlich zu sein. Es riecht nach Müll auf den Fluren, Wasserlachen auf dem Küchenboden der Gemeinschaftsküche, die verrosteten Rohre tropfen, verrußte Decke und Schimmel in den Zimmern. Seit das Landratsamt die Heimleitung übernommen hat, kommt keine Reinigungskraft mehr regelmäßig.
Nur ein Mann kann uns den Namen des Toten sagen, Michael Kelly hieß der, aus Liberia, er kannte ihn – wie man einen Menschen kennt, der mit niemandem wirklich redet –
He was so sick! When he came back form spain he was sick.
Why did he come from spain, he has a wife and a doughter in spain.
Er sagt, dass er es war, der zu der Heimleitung gegangen ist, um einen Krankenschein für Michael zu beantragen. Zusammen sind sie dann zu einem Arzt in Suhl gegangen. Der hat daraufhin angerufen und den Mann sofort ins Krankenhaus nach Jena geschickt. Nach drei Wochen, ist er allerdings zurückgebracht worden.
He did not allow anybody to go to his room
One day when he forgot to close the door I could see him his breast only bones, you could count the bones, and his chest ….. (er verzieht das Gesicht) when he saw me he covered himself quickly.
Alle dachten, dass der Tote nicht mehr im Heim ist
“He said, I have to leave this country to go to another.
For one week, I always thought he was no more in the country
I was so shocked.”
Auf unsere Frage, ob ein Arzt bei ihm gewesen ist, sagt er, „nobody came to visit him, they gave him some tablettes. They told him, you have to see the doctor but he refused to go.” Er hatte keine psychologische Betreuung.
“I gave him my television and when he told me that he has to leave the country, I said he should give me back my television again before he goes and at the day before he was gone I found a paper under my door “come and take it” – he put the television outside on the floor
And so I thought he was gone.”
Das Zimmer ist verschlossen, seine Kleider, seine Sachen sind in blauen Plastiktüten, von Mitarbeitern der Ausländerbehörde wegtransportiert worden, das Zimmer sterilisiert. Aber was ist mit dem Rest des Gebäudes, dem Gemeinschaftsbad, den Toiletten?
Draußen, zwei Frauen mit ihren Kindern, hier ist einer gestorben, sagen sie, der hat gehustet die ganze Zeit, alles ist schmutzig hier, sie will, dass ich mitkomme um ihr Zimmer zu filmen, Mein Sohn hustet immer, die Ärzte sagen das ist Astma, sie zeigt mir den ärtzlichen Bescheid darin steht die dringende Empfehlung für subkultane Hyposensibilisierung mit Milbenlösung, was normalerweise nur bei sehr gefährlichen Asthmaerkrankungen verordnet wird. Die Mutter zeigt mir verzweifelt wo sie und ihre Kinder schlafen, Schimmel, bröckelnder Putz und alte Mauern – staubige Betten – ich habe Angst, dass mein Sohn erstickt, sagt sie.
Sie will, dass ich das Bad filme, als ich die Tür öffne mache ich schnell die Kamera aus, eine Frau duscht hinter einem durchsichtigen Vorhang. In keinem der Stockwerke kann man die Duschen abschließen.
Mein Sohn ist in Deutschland geboren und hat überall Ausschlag – Allergie, sagt die andere Frau, das Kind auf ihrem arm ist übersät mit kleinen, roten Flecken im Gesicht.
Eine andere Frau bekommt im Monat 40 euro dafür dass sie die Toiletten und die Duschen putzt und den Müll runter bringt, aber wenn ich das nicht mache, habe ich gar nichts, sagt sie
Als wir die Leute zu der Demonstration am 22. Oktober einladen, um gegen genau das alles zu demonstrieren erzählen sie, dass es schwierig ist zum Bahnhof zu gehen, vor ein paar Tagen wurde ein Junge von Nazis verprügelt, nein, er hat das nicht angezeigt. Wir geben eine Nummer weiter, die er anrufen kann um sich beraten zu lassen. Die Angst hat hier um sich gegriffen, die Rechtlosigkeit und die Depression.
Beim Abschied Augen, die nach einem Ausweg aus der Angst, dem Leben, das seit fünf, acht, fünfzehn Jahren wartet, schläft, in alten staubigen Betten – Lebensmittel von Penny aufwärmt in einer stinkenden Küche – jeden Morgen kontrolliert wird ob es auch anwesend ist, hinter dem Zaun geblieben, nur sterben kann man hier unbemerkt, bis die Leiche anfängt zu stinken, oder unbemerkt bleiben heißt sterben….Was bleibt ist die unbedingte Forderung diese Verwahrlosung nicht mehr zu akzeptieren.
Protokoll
Vor ca. 2 Wochen wurde in Gerstungen ein Afrikaner (wahrscheinlich Liberia) tot aufgefunden. Erst nach 10 Tagen wurde seine Leiche gefunden. Der Verwesungsgeruch veranlasste eine Frau, die für die Registrierung und Anwesenheitskontrolle der Flüchtlinge verantwortlich war, die Tür zu seinem Zimmer mit dem für alle Sozialarbeiter zugänglichen Generalschlüssel zu öffnen.
Michael Kelley
Ein Freund, Bewohner des Lagers, erklärte uns, dass er erst nach zehn Tagen gefunden wurde. Vorgeschichte: Vor ein paar Wochen wechselte der Betreiber des Heims. Nun ist das Landratsamt (Wartburgkreis) zuständiger Betreiber. Mit diesem Wechsel kamen auch neue Sozialarbeiter. Das neue „Regime“ führte unter anderem ein, dass am Wochenende keine Putzfrau mehr kommt um die sanitären Anlagen instand zu halten. Dazu an anderer Stelle mehr. Ebenfalls neu ist, dass nun regelmäßig Kontrollen durchgeführt werden. Beinahe jeden Tag (da gibt es von den Heimbewohnern unterschiedliche Angaben) wird früh am morgen an die Tür geklopft und kontrolliert, ob man auch wirklich da ist. Ein Heimbewohner äußerte, dass es bei „zu häufigem Fehlen“ keine Gutscheine mehr gibt, beziehungsweise, nur Gutscheine mit einem geringeren Warenwert. Trotz dieser Neuerung ist aber zehn Tage lang niemandem aufgefallen, dass jemand tot, verwesend in seinem Zimmer liegt. Unser Freund und weitere der Heimbewohner halfen dabei den in einer Schutzhülle verpackten Leichnam in den Krankenwagen zu transportieren. Noch mal: Sie haben ihn aus dem zweiten Stock bis hinunter in den Krankenwagen getragen. Ärzte und Sozialarbeiter rannten nur mit Mundschutz rum, stellten fest, da ist jemand gestorben, ein Heimbewohner, und sie ließen dann die im Heim lebenden Flüchtlinge einen Leichnam, einen Toten, den sie kannten, aus einem nach Verwesung riechendem Raum hinaus, durch das Heim, über die Flure, bis hinunter in den Krankenwagen schleppen. Unser Freund erklärte uns, dass er nicht wisse, was mit dem Leichnam passieren würde. Er vermutet, dass man ihn wohl verbrennen wird.
Eine Familienmutter erzählte uns, dass Michael direkt neben ihnen gewohnt hätte und sie den Geruch sehr früh bemerkt hätten. Außerdem berichteten sie, dass er chronisch krank gewesen sei. Er hätte immerzu gehustet. Zudem war er wohl psychisch angegriffen. Er soll einen verkehrten Tagesrhythmus gehabt haben, Selbstgespräche führend in den Fluren auf und ab gegangen sein, kaum jemals mit jemandem anderen als einem anderen aus Afrika stammenden Flüchtling gesprochen haben und völlig krank und abgemagert gewesen sein. Sie hätte, wie eigentlich alle im Lager, gedacht, dass er zurück ins Krankenhaus geschafft worden wäre. Im Gespräch erfuhren wir, dass Michael wohl wirklich sehr krank gewesen sei. Er habe permanent gehustet. Einmal sei sein Freund (nach dem Krankenhausaufenthalt) in Michaels Zimmer gekommen, hat ihn überrascht. Michael lag röchelnd in seinem Bett, den Oberkörper wohl etwas durchgebogen. Man hatte, so erzählte der Freund, jede Rippe sehen können: „You could have counted every bone!“ Michael sei augenblicklich zusammengeschreckt und habe sich die Bettdecke bis unters Kinn gezogen. Jener Freund war es auch, der einige Wochen zuvor veranlasste, dass Michael in ein Krankenhaus gebracht wurde. Michael kam zunächst nach Suhl, von wo aus man ihn nach Jena verlegte, wo er drei/ vier Wochen lang behandelt wurde. Nach seiner Entlassung wurde er, nach Aussage des Freundes allerdings nicht mehr ärztlich betreut. Er hatte Tabletten bekommen, mehr nicht. Die (neuen, von den meisten Bewohnern gering geschätzten) Sozialarbeiter hätten ihn zwar einige Male darauf hingewiesen, dass er nach Suhl gehen solle um sich untersuchen zu lassen. Jedoch taten sie das offensichtlich nicht mit dem dringend notwendig gewesenen Nachdruck. Insgesamt sei es Michael nach dem Krankenhausaufenthalt besser gegangen, allerdings war er nach Meinung von seinem Freund bei weitem nicht gesund.
Besonders überraschend war, dass dieser sagte, Michael habe einen spanischen Pass gehabt, da er dort eine Familie hatte. Frau und Kind. Mehrmals habe er nachgefragt, wieso Michael hier in einem Heim lebte, wo er als Inhaber eines spanischen Passes bedeutend besser hätte wohnen und leben können. Dieser sei ihm jedoch ausgewichen. Auch die gesundheitliche Versorgung wäre vermutlich besser ausgefallen hätte Michael angegeben, diesen Pass zu haben. Man kann dann nur vermuten, ob das strenge Schweigen der Behörden zu diesem Fall irgendetwas damit zu tun hat, dass Michael EU-Bürger war. Es gilt unbedingt herauszufinden welche Krankheiten (auch psychisch) Michael hatte, welche Umstände ihn zu der Rückkehr nach Deutschland veranlasst haben. Ebenfalls interessant war, dass Michaels Freund erzählt hat, dass Michael Deutschland habe verlassen wollen. Er hätte ihm einen Zettel hinterlassen, indem er darauf hinwies, dass er seinen Fernseher und die Sattelitenschüssel vor das Zimmer stellen würde, bevor er geht. Der Freund könne sich seine Sachen dann abholen. Das tat er auch und nun macht er sich Vorwürfe, weil er ernsthaft angenommen hat, dass Michael fort gegangen sei. Aus diesem Grund habe er auch nicht bemerkt, dass er tot in seinem Bett, in seinem Zimmer liegt. Eine Vermutung kann man ob dieser Umstände nicht vollständig ausschließen: Suizid.
Insgesamt schienen die Bewohner des Heimes ziemlich schockiert und traumatisiert zu sein. In viel stärkerem Ausmaß als in den bisher (von mir) besuchten anderen Lagern hatte man hier den Eindruck, dass die Flüchtlinge eingeschüchtert oder in sich gedrängt waren. Die Repression, die Zustände, das strenge Regime der Zuständigen und die immerwährende Angst vor Ausweisung und Abschiebung, die krasse Umgebung, die Eintönigkeit und Isolation verschließen die Flüchtlinge generell, hier in Gerstungen allerdings nach meinem Gefühl, noch stärker. Alle hatten einen beinahe flüchtigen Blick, waren schüchtern, verhalten und viel zu zurückhaltend.
03.10.2011
Break Isolation Netzwerk
The VOICE Refugee Forum Jena - Info Zum Flüchtlings-IsolationsLager in Gerstungen https://thevoiceforum.org/search/node/gerstungen
end
###
Flüchtlingsheim Gerstungen: Leiche erst nach Tagen entdeckt
"Wir stehen hier alle unter Schock"
OTZ Press: Nassan Hussein (46) ist wie viele Flüchtlinge in Gerstungen ratlos und wütend über das Schweigen. Foto: Marco Kneise
Im Flüchtlingsheim Gerstungen starb unbemerkt ein Mann, dessen Leiche erst Tage später aufgefunden wurde. Die Menschen im Heim sind wütend, weil sie von den Behörden mit ihren Ängsten alleingelassen werden.
Gerstungen. Ein Mann ist gestorben. Michael Kelly, 37 Jahre alt. Und niemand hat es bemerkt.
Am 20. September, es war ein Dienstag, öffnete eine Angestellte der Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen mit ihrem Generalschlüssel das von innen verschlossene Zimmer 213. Es war, hieß es , der Geruch.
Man brachte seine Leiche ins Klinikum Jena, die zuständige Staatsanwaltschaft Meiningen ordnete eine Obduktion an. Michael Kelly war ein kranker Mann. Er starb, ergab die Untersuchung, an den Folgen einer schweren Lungenentzündung und einer vorausgegangenen schweren Immunschwäche. Einen genauen Todeszeitpunkt nennt der vorläufige Obduktionsbericht nicht.
Ein Fremdverschulden wurde ausgeschlossen, Michael Kelly starb eines natürlichen Todes. Für die Staatsanwaltschaft ist der Fall im Grunde abgeschlossen.
Warum starb Michael Kelly allein im abgeschlossenen Zimmer der Flüchtlingsheims? Hat er vielleicht Hilfe verweigert oder hätte er durch rechtzeitige Hilfe gerettet werden können? In welcher Verantwortung steht dabei die Leitung des Hauses und dessen Träger, das Landratsamt des Wartburgkreises?
Wie kann es sein, dass die Leitung des Hauses das Fehlen eines offensichtlich schwer kranken, allein lebenden Mannes erst nach Tagen bemerkt? Und das nur, weil sich ein Geruch ausbreitet?
Fragen, die in den Akten der Staatsanwaltschaft nicht beantwortet werden, weil sie niemand gestellt hat.
Einsames Sterben im abgeschlossenen Zimmer
Fragen, die auch die Bewohner des Heims bewegen. Vor allem die Frage, warum sich keine Behörde veranlasst sah, mit ihnen daüber zu sprechen. Niemand, der sich ihre Fragen angehört hat, niemand, der auf ihre Verunsicherung und ihre Ängste eingegangen ist.
Sie haben gesehen, wie die Polizei kam, der Arzt. Wie der Tote im Plastiksack durch das Haus nach draußen getragen wurde. Sie haben gesehen, wie das Personal mit Mundschutz das Zimmer desinfiziert hat und spürten den Geruch des Todes, der über die Flure kroch.
Dann fuhren die Wagen weg, es begann das Schweigen.
"Was glauben die, wie es uns hier damit geht? Warum spricht niemand mit uns? Es gibt hier keinen Respekt für Menschen wie uns." Ali Rexha, ein Familienvater aus dem Kosovo, kann seine Wut nicht zügeln. Er holt eine Zeitung mit der mageren Verlautbarung des Landratsamtes aus dem Schrank und knallt sie auf den Tisch. Michael Kelly, heißt es, wurde am 16. September das letzte Mal lebend gesehen. Ein Freitag. Am folgenden Dienstag fanden sie ihn.
Ali Rexha will das nicht glauben. Seit zwei Wochen, sagt er, hat ihn niemand gesehen. Er hat im Treppenhaus gewartet, nachdem sie den Toten fanden. Drei Stunden, sagt er, hat es gedauert bis die Polizei kam. Drei Stunden! Er habe, sagt er, den Arzt sagen hören, der Mann sei seit zwei Wochen tot.
Das Zimmer 213 liegt ganz am Ende des Flures, neben dem Fenster mit der Brandschutztreppe. Vor der Tür liegen noch ein paar blaue Schutzhüllen für die Schuhe.
"Wir stehen hier alle unter Schock"
Schräg gegenüber öffnet eine junge Frau die Tür. Am Tisch kritzelt ihre kleine Tochter in einem Heftchen. Die Frau kommt aus dem Kaukasus, spricht nur Russisch. Wir stehen, sagt sie, alle unter Schock. Wir wohnen hier mit zwei Kindern. Dort gegenüber ist ein Mann gestorben und niemand wusste es. Wenn er so krank war, warum hat ihm niemand geholfen?
Ob sie gefragt hat? Wissen Sie, hier stellt man solche Fragen nicht. Ein bitteres Lächeln liegt auf den Lippen. Man bekommt sowieso keine Antwort. Er hat vielleicht Hilfe gebraucht, sagt sie noch.
Michael Kelly war ein scheuer Mensch. Kaum einer im Heim kennt ihn näher. Er war noch kein halbes Jahr hier. Es heißt, er stammt aus Liberia. Er hat nicht viel geredet, erinnert sich Mohsen Azadbakht, ein Mitbewohner. Traurig wirkte er, und sehr krank, hustete stark und hatte kaum Kraft. Einmal hat er ihn angesprochen, draußen im Hof. Es brennt so in der Brust, sagte Michael Kelly. Du musst ins Krankenhaus, hatte er ihm geantwortet.
Als sie seine Leiche aus dem Haus zum Auto brachten, hat er mitgetragen.
Er soll eine Frau und einen Sohn in Spanien haben, fügt Nassan Hussein, ein Kurde aus Syrien, hinzu. Auch er hat gehört, dass der Mann schon länger als eine Woche tot im Zimmer lag. Im Krankenhaus in Jena war er. Als er zurückkam, wirkte er etwas erholt. Manchmal sah er ihn auf dem Flur. Dann hat er schweigend aus dem Fenster mit der Brandschutzleiter gestarrt. Warum hat er allein geschlafen, wo er doch so krank war?
Nassan Hussein zieht langsam an seiner Zigarette, schweigt, als lausche er seinen Zweifeln hinterher. Eigentlich gab es hier nur einen, mit dem er manchmal länger sprach. Ein Mann aus Afrika, wie er.
Aber dieser Mann will nicht reden. Er öffnet seine Tür nur einen Spalt. Kein Wort, bitte, ich möge entschuldigen.
Er hat Angst, sagt Mohsen Azadbakht.
Er ist enttäuscht und wütend, sagt Hassan Siami. Er weiß es, mit ihm hat er über Michael Kelly geredet. Über die Einsamkeit, die Scheu mit anderen zu sprechen, die hastige Vorsicht, niemanden in sein Zimmer zu lassen.
Aber niemand von den Behörden hat ihn danach gefragt. Niemand hat sich für Michael Kellys Leben in diesem Haus interessiert, bevor er hier seinen einsamen Tod starb.
Hassan Siami lebt in Jena und gehört zu Unterstützern von "The Voice", einem Netzwerk für Flüchtlinge. Dessen Aktivisten fordern eine lückenlose Aufklärung. Auch der Thüringer Flüchtlingsrat fordert das.
Wie ein Mensch unbemerkt sterben kann in einem Haus, in dem regelmäßig die Anwesenheit kontrolliert wird. Um sicherzugehen, dass die Flüchtlinge ihrer Residenzpflicht nachkommen. Längere Abwesenheit wird mit der Kürzung der Gutscheine bestraft.
"Nur sterben kann man hier unbemerkt", konstatiert bitter "The Voice".
Nach Informationen dieser Zeitung litt Michael Kelly an einer fortgeschrittenen HIV-Erkrankung.
Das Heim Gerstungen hat einen schlechten Ruf
Aus dem Landratsamt heißt es, man möge von einem Besuch in Gerstungen absehen. Fragen werden schriftlich beantwortet. Tägliche Kontrollgänge durch die Zimmer, heißt es, seien abgeschafft. Michael Kelly habe sich in medizinischer Behandlung befunden.
Das Universitätsklinikum Jena bestätigt, dass Michael Kelly dort vom 29. 6. 2011 bis zum 7. 7. stationär behandelt wurde. Man habe eine Therapie gegen die Immunschwäche eingeleitet, der Patient habe sie gut vertragen. Allerdings habe man sich sehr um die regelmäßige Medikamenteneinahme bemühen müssen. Als er entlassen wurde, sei er in einem guten und stabilen Allgemeinzustand gewesen. Das Angebot einer Betreuung in einer regelmäßigen Sondersprechstunde des Klinikums habe er leider nicht angenommen.
Michael Kelly sei zuletzt am 16. September 2011 gesehen worden, sagt das Landratsamt. Im Heim erzählen es die Bewohner anders. Man möge bedenken, heißt es in der zuständigen Polizeidirektion Gotha, dass in einer solchen Situation schnell Gerüchte entstehen.
Aber ja doch.
Das Heim, eine ehemalige heruntergekommene Kaserne, liegt isoliert am Ortsrand. Das eiserne Tor steht offen, aber wohin soll man gehen, außer zum benachbarten Pennymarkt, um Gutscheine gegen Lebensmittel einzutauschen. Eine Gemeinschaftsküche, je ein Bad für Männer und Frauen auf einer Etage. Es gibt kaum Intimsphäre, dafür Schimmel in den Zimmern, der penetrante Geruch nach altem Fett und Öl in jedem Winkel.
77 Flüchtlinge leben hier, viele schon seit Jahren. Nassan Hussein, der Kurde aus Syrien, seit zehn. Der Iraner Mohsen Azadbakht, der in seiner Heimat den Tod fürchtet, seit sechs. So lange wie Ali Rexha, der Kosovare. Seine Tochter hat hier die Schule beendet, spricht kaum Albanisch, aber fließend Deutsch und würde gern eine Ausbildung machen. Das darf sie aber nicht, weil sie nur eine Duldung hat.
Das ganze Haus ist voll solcher Geschichten.
Ein Leben im Abseits. Ein Leben im Leerlauf, ein Leben, dass aus Warten besteht. Nur der Fernseher läuft.
Dann stirbt hier unbemerkt ein Mann.
Und niemand hält es für nötig, auf die Menschen einzugehen, in deren Lebensumfeld das geschah.
Natürlich entstehen da Gerüchte. Und Angst, und das Gefühl von Hilflosigkeit, von Isolation, von Missachtung auch.
Möglich, der Tod von Michael Kelly war eine unausweichliche Folge von Krankheit und tragischer Umstände.
Möglich, die Angestellten im Haus und die zuständigen Behörden haben sich genau an die Vorschriften gehalten.
Aber es gibt auch einen Umgang mit diesem Tod, der liegt im menschlichen Ermessen.
Man erarbeite derzeit, heißt es aus dem Landratsamt, eine zweisprachige Information für die Bewohner.
Elena Rauch / 15.10.11 / TA
http://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Fluechtlingsheim-Gerstun…
Pressemitteilung von The VOICE Refugee Forum Jena & Break Isolation!‐Bündnis
BREAK ISOLATION! Kundgebung & Demonstration am 22. Oktober 2011 in Erfurt
*Alle Flüchtlingslager schließen! Residenzpflicht abschaffen!
*Tod von Michael Kelley in Gerstungen – Lager gefährden Leben
https://thevoiceforum.org/node/2283
###
Press tlz:
Asylbewerber in Gerstungen tot aufgefunden
Gerstungen. Wie erst am gestrigen Donnerstag bekannt wurde, ist am 20. September im Asylbewerberheim in Gerstungen ein 37 Jahre alter Afrikaner tot aufgefunden worden.
Der Mann war bereits drei Tage tot, bevor er entdeckt wurde. Das bestätigte Katrin Volk, Pressesprecherin des zuständigen Landratsamtes. Der Mann aus Liberia habe sich seit geraumer Zeit in haus- und fachärztlicher sowie stationärer Behandlung befunden, so Volk.
Die Behörde widerspricht damit deutlich einer Erklärung des Thüringer Flüchtlingsrats, wonach der 37-Jährige zehn Tage unentdeckt in der Unterkunft gelegen haben soll.
Offensichtlich war der Afrikaner am 16. September - das war ein Freitag - das letzte Mal gesehen worden. Gleich am Montagvormittag habe man jedoch nach dem Mann geschaut, hieß es. Da sei er tot gewesen.
Nach Informationen aus dem Landesverwaltungsamt in Weimar habe der 37-Jährige an einer Immunschwächekrankheit und einer Lungenentzündung gelitten. Dies sei auch die Todesursache, hieß es.
Öffentlich gemacht hat den Fall jedoch erst der Flüchtlingsrat, der nun eine Aufklärung des Vorfalls fordert. Das Innenministerium will heute im zuständigen Ausschuss zu dem Fall berichten. Laut Landratsamt seien die persönlichen Dinge des Afrikaners von den zuständigen Mitarbeitern im Landratsamt und der Heimleitung sichergestellt worden. "Sie werden aufbewahrt", so Volk. Die Bestattung werde durch das Ordnungsamt in Gerstungen veranlasst. Derzeit leben rund 80 Personen verschiedener Nationen in dem Heim.
http://www.thueringer-allgemeine.de/startseite/detail/-/specific/Asylbe…
Katja Schmidberger / 07.10.11 / TA