*Trauer um toten Armenier
http://www3.ndr.de/sendungen/niedersachsen_1930/videos/ndsmag5620.html
*Demonstration: Abschiebehaft gehört abgeschafft
Wir trauern um Slawik - am 9. Juli in Hannover
http://thecaravan.org/node/2504
Keine Gnade für die Witwe
http://www.taz.de/1/nord/artikel/1/keine-gnade-fuer-die-witwe
* * *
Niedersachsen: Nach Suizid in Abschiebehaft - Keine Gnade für die Witwe
Auch nach dem Suizid des 58-jährigen Armeniers im Abschiebegefängnis Langenhagen bleibt der Landkreis Winsen/Luhe hart und besteht auf die Ausweisung seiner Ehefrau. Allein der 29-jährige Sohn darf bleiben. VON CHRISTIAN JAKOB
Eigentlich wäre der 58-jährige Slawik C. am heutigen Mittwoch bewacht von zwei Bundespolizisten von Frankfurt in die armenische Hauptstadt Eriwan geflogen. Hinter sich gelassen hätte er elf Jahre als "Geduldeter" in Deutschland, seine Frau und seinen 29-jährigen Sohn, die in Winsen an der Luhe bleiben sollten. Doch K. stoppte seine Abschiebung: Am Freitag erhängte er sich mit dem Kabel eines Wasserkochers im Abschiebegefängnis Langenhagen.
Die Polizei hatte letzte Woche in der Ausländerbehörde Winsen auf den Asylbewerber gewartet, als der seine Duldung verlängern lassen wollte. Dass man ihn verhaften würde, schwante ihm nicht. "Das Überraschende liegt hier in Natur der Sache", sagt die Sprecherin des Landkreises Winsen/Luhe, Birgit Behrens. Völlig überrumpelt brachte man C. zu einem Haftprüfungstermin. "Wir haben dem Antrag auf Abschiebehaft stattgegeben, weil er sich sich der Abschiebung möglicherweise entziehen könnte", sagt der Leiter des Amtsgerichts Winsen, Albert Paulisch. K. habe vor elf Jahren falsche Angaben zu seiner Identität gemacht und erklärt, nicht freiwillig nach Armenien ausreisen zu wollen.
Beim Landkreis Winsen heißt es, eine "freiwillige, gemeinsame Ausreise der Eheleute" sei "angedacht gewesen". Doch als man zuerst für den Mann ein "Passersatzpapier" von der armenischen Botschaft bekommen hatte, entschloss man sich, die Familie zu trennen. C. kam ins Gefängnis. Dort sei er "ausgerastet", in eine Arrestzelle gesperrt und offenbar mit Psychopharmaka ruhiggestellt worden, berichtet der Niedersächsische Flüchtlingsrat.
Abschiebehaft
Der Sinn der Abschiebehaft ist ähnlich wie bei der Untersuchungshaft nicht die Strafe. Sie soll vielmehr sicherstellen, dass anstehende Abschiebungen durchgesetzt werden können.
Rechtlich zulässig ist sie nur, wenn es einen begründeten Verdacht gibt, dass der Ausländer in die Illegalität abtauchen könnte. Dann können Ausländer bis zu 18 Monaten in Haft genommen werden.
Die Selbstmordrate unter Abschiebhäftlingen ist extrem hoch. Flüchtlingsorganisationen werten dies als starkes Indiz dafür, dass in vielen Fällen die Fluchtgründe, die abgelehnte Asylbewerber vorbringen, glaubhaft sind und ihnen folglich Asyl hätte gewährt werden müssen.
Die dreiköpfige Familie war 1999 aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen, machte geltend, dort als Angehörige der armenischen Minderheit verfolgt worden zu sein. Dem Sohn gestattete man, auf Dauer zu bleiben. Er ist nach Angaben des Flüchtlingsrats verheiratet und berufstätig. Den Eltern, denen wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt eingeräumt wurden, verweigerten die Behörden dies.
Daran ändert auch der Suizid nichts: "Der Tod des Mannes ändert nichts an der Ausreisepflichtigkeit der Ehefrau", sagt Behrens. Ihr werde aber "angeboten, freiwillig auszureisen, damit das nicht so eskaliert". Ihr zu gestatten, bei ihrem Sohn zu bleiben, werde "nicht erwogen".
Der Fall heizt die Diskussion um die Vertretbarkeit von Abschiebehaft wieder an. Immer wieder bringen sich abgelehnte Asylbewerber aus Verzweiflung in Abschiebehaft um. In Hamburg erhängte sich im April die 34-jährige Indonesierin Yeni P., erst im März hatte sich dort auch der junge Georgier David M. erhängt. Hamburg lockerte daraufhin die Praxis der Abschiebehaft.
Einen ähnlichen Erlass hatte es in Niedersachsen bereits 1995 gegeben. Damals beschloss die SPD, dass Abschiebehaft nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden dürfe: Ein so schwerwiegender Grundrechtseingriff sei oft unverhältnismäßig, um eine Ausreise durchzusetzen. "Diesen Erlass hat der CDU-Innenminister Schünemann aufgehoben", sagt Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat. "Niedersachsen zieht Abschiebungen rabiat durch. Sie werden den Betroffenen nicht angekündigt, man nimmt sie rechtswidrig in Haft, nimmt auf Krankheiten keine Rücksicht und trennt Familien." Diese Politik sei verantwortlich dafür "dass es zu solchen verzweifelten Kurzschlussreaktionen kommt", sagt Weber.
Die Grüne Landtagsabgeordnete Filiz Polat sieht dies ähnlich. Sie hat das Innenministerium aufgefordert, den Rechtsausschuss des Landtages über die Hintergründe von Slawik C.s Suizid zu unterrichten. Wenn es nach ihr geht, soll die Abschiebehaft in Niedersachsen keine Zukunft haben: "In zwei Jahren läuft die Pacht für das zentrale Abschiebegefängnis Langenhagen aus. Dann muss man in eine ganz andere Richtung denken." Eine parlamentarische Initiative werde vorbereitet. Wir hoffen sehr, dass SPD und die FDP mitziehen." Angesichts des Todes von Slawik M. sei es "völlig unverständlich", dass die Behörden daran festhalten, seine Frau trotzdem abschieben und von ihrem Sohn trennen zu wollen. "Ein Bleiberecht für sie wäre das absolut Mindeste", sagt Polat.
Abschiebehaft
Der Sinn der Abschiebehaft ist ähnlich wie bei der Untersuchungshaft nicht die Strafe. Sie soll vielmehr sicherstellen, dass anstehende Abschiebungen durchgesetzt werden können.
Rechtlich zulässig ist sie nur, wenn es einen begründeten Verdacht gibt, dass der Ausländer in die Illegalität abtauchen könnte. Dann können Ausländer bis zu 18 Monaten in Haft genommen werden.
Die Selbstmordrate unter Abschiebhäftlingen ist extrem hoch. Flüchtlingsorganisationen werten dies als starkes Indiz dafür, dass in vielen Fällen die Fluchtgründe, die abgelehnte Asylbewerber vorbringen, glaubhaft sind und ihnen folglich Asyl hätte gewährt werden müssen.
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Niedersachsen:
Meinersen - Gifhorn: Asylbewerber greifen Kreisverwaltung an >>>> https://thevoiceforum.org/node/1678
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Armenier nimmt sich in Abschiebehaft das Leben
Von Rachel Wahba 8. Juli 2010, 06:00 Uhr
Jesteburg ist erschüttert über das Schicksal einer Nachbarfamilie
Jesteburg. In dem Garten des kleinen Doppelhauses in Jesteburg steckt eine Deutschland-Fahne in der Erde. Daneben in einem Gewächshaus wachsen Gemüse und Salat. Er habe seinen Garten über alles geliebt, Auberginen gezüchtet und habe mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mitgefiebert. Ein großartiger Musiker sei er gewesen. Wer ihn gekannt habe, habe ihn einfach gern gehabt, sagt einer der Männer, die auf der Terrasse des Hauses sitzen und sich leise unterhalten. Die Frauen sitzen im Haus. Die Jalousien sind heruntergelassen. Familie und Freunde trauern um den Freund, Ehemann, Vater und Großvater Slawik C., der sich in der Justizvollzugsanstalt Langenhagen in Hannover das Leben genommen hat.
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Hamburger Abendblatt
Die Gesetze sind manchmal gnadenlos
Beamte fanden den 58 Jahre alten armenischen Abschiebehäftling, der seit fast elf Jahren mit seiner Familie in Jesteburg lebte, am Abend des 2. Juli tot in seiner Einzelzelle. Slawik hatte sich mit dem Kabel eines Wasserkochers am Gitter des Zellenfensters erhängt. Das Flugzeug, das ihn gestern um 15 Uhr von Fuhlsbüttel nach Frankfurt und anschließend nach Armenien bringen sollte, ist ohne ihn geflogen.
Seine Familie in Jesteburg steht unter Schock, Freunde und Nachbarn, Armenier wie Jesteburger sind erschüttert. Alle befürchten, dass Slawiks Frau die nächste sein wird, die von der Polizei im Auftrag der Ausländerbehörde des Landkreises Harburg verhaftet und abgeschoben werden soll. Die Asylanträge, die Slawik und seine Frau 1999 eingereicht hatten, waren abgelehnt worden. Der Sohn darf auf unbefristete Zeit in Deutschland bleiben. Die Familie stammt aus dem Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan, in dem ein Grenzkonflikt die Menschen zermürbte. Die Familie floh mit ihrem Sohn nach Deutschland, um hier in Frieden leben zu können. Die Ausländerbehörde sah nicht, dass "Leib und Leben von Slawik und seiner Frau in ihrer Heimat durch staatliche Organe bedroht" seien, so heißt es im Amtsdeutsch. Seitdem werden sie in Deutschland nur noch geduldet.
Am 28. Juni war Slawik zur Ausländerbehörde ins Kreishaus einbestellt worden, wie so oft in den Jahren davor. Der Mann, für den Jesteburg zur Heimat geworden war, wollte sich seine Duldungserlaubnis wieder verlängern lassen. Aber er sollte seine Familie nie wiedersehen. Nach seiner Verhaftung im Kreishaus wurde er in Abschiebehaft nach Langenhagen übergeführt. "Slawik hat hier in Jesteburg in der Kleiderkammer und beim Bauhof jede ehrenamtliche Arbeit übernommen und war überall beliebt. Er und seine Frau haben uns das Christentum vorgelebt", so die Grünen-Kreistagsabgeordnete und Freundin der Familie, Elisabeth Meinhold-Engbers. "Dieses Vorgehen ist menschenverachtend, das hätte nie passieren dürfen", sagt ein Freund der Familie. "Meine Mutter, meine Freundin und mein kleiner Sohn waren dabei, als er im Kreishaus von der Polizei abgeführt wurde. Meiner Mutter sagten sie, sie solle ihm seine Waschsachen bringen, alles sei in Ordnung. Warum trennt man eine Familie so brutal?" Auch er fühle sich nicht mehr sicher, sagt der junge Mann, der vier Tage bevor sein Vater verhaftet wurde, seinen Gesellenbrief als Maler und Lackierer bekam, früher im VfL Fußball gespielt und hier seine eigene Familie gegründet hat.
"Ich bin erschüttert und wütend darüber, dass die Schergen gnadenlos das Ausländergesetz umsetzen, ohne den Menschen zu sehen. Das steht im krassen Gegensatz zu den Worten unseres Bundespräsidenten Christian Wulff, das Ausländergesetz müsse verbessert werden", sagt Jesteburgs Bürgermeister Udo Heitmann (SPD), der am Dienstag der Familie sein Beileid ausgesprochen hat. Landrat Joachim Bordt verteidigt das Vorgehen seiner Behörde, gleichwohl sei er erschüttert über diesen tragischen Fall und spreche der Witwe sein Beileid aus. "Herr C. hat im Mai die Androhung der Abschiebung erhalten. Wir haben beiden die freiwillige Ausreise und unsere finanzielle Unterstützung angeboten. Das wurde abgelehnt von der Familie. Trotzdem müssen wir uns anlässlich dieser Tragödie natürlich fragen, ob die Umsetzung unseres Ausländergesetzes so in Ordnung ist", sagt Bordt.
http://www.abendblatt.de/region/harburg/article1560263/Armenier-nimmt-s…
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Suizid in der JVA
paid Slawik C. - Er wollte so gern ein Deutscher sein
Von Volker ter Haseborg /21. Juli 2010, 07:54 Uhr Hamburger Abendblatt
online/
Binnen kurzer Zeit begingen in Norddeutschland drei Abschiebehäftlinge
Selbstmord. Einer war der Armenier Slawik C. Elf Jahre lebte er in
Jesteburg.
Ein Foto von Slawik C. im Wohnzimmer der Familie. Wenige Tage vor seiner
Abschiebung hatte sich der 58-jähriger Armenier in seiner Zelle erhängt.
Ein Foto von Slawik C. im Wohnzimmer der Familie. Wenige Tage vor seiner
Abschiebung hatte sich der 58-jähriger Armenier in seiner Zelle erhängt.
Foto: Marcelo Hernandez Marcelo Hernan
/Hamburg. /Am Abend, gegen 18.50 Uhr, hat die Gefängnisleiterin noch mit
ihm gesprochen. "Machen Sie keine Dummheiten", sagte sie zu ihm. "Nein,
ich will leben. Ich habe doch eine Enkeltochter", antwortete er,
lächelte und ging auf seine Zelle.
Fünf Tage später sollte Slawik C. nach Frankfurt gebracht werden. Dort
hätte man ihn in ein Flugzeug nach Moskau gesetzt. Auch den
Anschlussflug in die armenische Hauptstadt Eriwan hatten die deutschen
Behörden für Slawik C. gebucht.
Slawik C. ist nie nach Eriwan gestartet. Am Abend des 2. Juli hat er
sich mit dem Stromkabel eines Wasserkochers am Fenstergitter seiner
Zelle erhängt. Es war schon der dritte Suizid von Abschiebehäftlingen
aus der Metropolregion Hamburg in diesem Jahr. Im März hatte sich im
Gefängniskrankenhaus am Holstenglacis ein Georgier erhängt, im April
eine Indonesierin in der JVA Hahnöfersand.
Slawik C. wurde 58 Jahre alt. Er hinterlässt seine 55-jährige Frau
Asmik, seinen 28-jährigen Sohn Samwell, der verheiratet ist und eine
zweijährige Tochter hat.
Die Familie C. bewohnt eine Doppelhaushälfte aus Backstein in Jesteburg
einem Ort mit Fachwerkhäusern und verträumten Alleen. Von außen
betrachtet, sieht die Lebenswelt der Familie aus wie die einer typisch
deutschen Familie im Hamburger Speckgürtel. Im Garten, vor dem
Gewächshaus, flattert eine Deutschland-Fahne im Wind.
Die Gardinen im Wohnzimmer sind zugezogen. Asmik C. hat dunkle Ringe
unter den Augen. Sie trägt auch zwei Wochen nach dem Tod ihres Mannes
schwarze Kleidung. Sie erzählt, wie sehr ihr Slawik Deutschland geliebt
hat. "Wenn er beim Essen einen Toast aussprach, hat er immer gesagt:
,Ich trinke auf Deutschland'", sagt sie und weint. Sie schaut auf das
Porträtbild neben dem Sofa: Slawik C. trägt auf dem Foto einen grauen
Anzug und eine dunkelgelbe Krawatte, er lächelt. Sein Sohn Samwell hat
die Augen seines Vaters. Die zweijährige Enkeltochter spielt im
Wohnzimmer, sie lacht, schreit fröhlich. Sie versteht noch nicht, dass
ihr Opa nicht mehr lebt.
Am 15. August 1999 waren Slawik, Asmik und Samwell C. illegal auf einem
Lkw nach Deutschland eingereist. Sie kamen aus Aserbaidschan, sagt
Samwell C., sie gehörten dort zur verfolgten armenischen Minderheit.
"Dort herrscht Krieg. Immer noch", sagt Samwell C.
Nach ihrer Ankunft stellten sie ihren Asylantrag, der Antrag wurde vom
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unbegründet abgelehnt. Die
Familie klagte vergeblich dagegen, seit 2003 war sie rechtlich dazu
verpflichtet, Deutschland zu verlassen. Doch solange ihre Identität
nicht geklärt war, mussten sie geduldet werden. Sie habe keine Pässe,
weil sie als Verfolgte in Aserbaidschan keine bekommen hätten, sagt die
Familie. Sie hätten keinen Pass, weil sie ihre Identität verschleiern
wollten, um sich länger in Deutschland aufzuhalten, sagten die deutschen
Behörden und stellten Strafanzeige gegen Slawik und Asmik C.
Abgelehnte Asylbewerber können nur abgeschoben werden, wenn das
Heimatland die Identität der Geflüchteten bestätigt und ein
Reisepassersatz angefertigt werden kann.
Das Verfahren zog sich hin, als geduldete Flüchtlinge
http://www.abendblatt.de/region/article1558478/Gruene-fordern-Konsequen…
bekamen sie die Doppelhaushälfte in Jesteburg als Unterkunft, dazu ein
wenig Taschengeld, Lebensmittelmarken. Die Familie integrierte sich
schnell: Alle drei lernten Deutsch, Samwell machte den
Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss, eine Ausbildung zum Maler
und Lackierer. Im August tritt Samwell seine erste Stelle an. Er hat
eine Niederlassungserlaubnis bekommen, die ihn vor der Abschiebung
schützt. Die Behörde erklärt das damit, dass ein Bruder von Samwell von
der aserbaidschanischen Armee zwangsrekrutiert worden und dort unter
mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Es sei zu befürchten, dass
Samwell dasselbe Schicksal drohe.
Slawik C. war in seiner Nachbarschaft beliebt. Weil er so fleißig war
und jedem half. Er machte sich im Garten der Nachbarn nützlich, er
spielte Gitarre in der Kirchengemeinde, er half ehrenamtlich in der
Jesteburger Kleiderkammer und baute Gartenzäune vor Gemeindewohnungen.
Er wollte etwas tun, denn eine Arbeitsstelle war ihm verwehrt: kein
Pass, keine Arbeitserlaubnis. In seinem Garten steht das Gewächshaus, in
dem er Tomaten züchtete. Daneben hat er die Deutschland-Fahne angebracht.
Doch dieses Land wollte ihn nicht. Monat für Monat musste das Ehepaar C.
im Kreishaus von Winsen erscheinen und sich in Gebäude A den
Duldungsstatus verlängern lassen.
So auch am 28. Juni 2010, es war ein Montag. Gemeinsam ging das Ehepaar
C. zur Ausländerbehörde. Die Verlängerung fand immer im Erdgeschoss
statt. "Aber an diesem Tag hieß es: ,Sie sollen nach oben'", sagt Asmik
C. In dem Zimmer wurde Slawik C. eröffnet, dass Armenien seine
Staatsbürgerschaft bestätigt habe, dass es einen Passersatz gebe und
dass er jetzt abgeschoben werde. Polizisten nahmen ihn mit, er wurde
nach Langenhagen gebracht, in Abschiebehaft.
Die JVA Langenhagen liegt direkt neben der Start- und Landebahn des
Hannoveraner Flughafens und besteht aus drei ehemaligen
Kasernengebäuden. "Welcome to Hanover" steht auf dem Aufkleber am
Besucher-Eingang. Und: "Germany Land of ideas". Deutschland, das Land
der Ideen.
Grazyna Brüschke passt nicht zu dem Stacheldraht, den Gittern und den
Alarmanlagen hier. Sie trägt eine rosa Bluse, eine randlose Brille,
einen Rock, eine elegante Halskette. Die 58-Jährige kam vor 30 Jahren
als Spätaussiedlerin aus Polen nach Deutschland, sie studierte hier,
heiratete einen Deutschen, wurde Sozialpädagogin und schließlich Chefin
der JVA Langenhagen. Sie sagt über die Abschiebehäftlinge: "Ich kann
ihre Situation verstehen. Aber verändern kann ich sie nicht."
Grazyna Brüschke will ihr Abschiebegefängnis
http://www.abendblatt.de/region/article1559834/Abschiebehaeftling-wurde…
zeigen. Sie will deutlich machen, dass es nicht an den Bedingungen in
ihrem Zuständigkeitsbereich lag, dass sich Slawik C. das Leben nahm. Sie
ist schockiert, sagt immer wieder. "Es ist mir ein Rätsel."
Männliche Abschiebehäftlinge sind im Gebäude L1 untergebracht. "Die
Gefangenen können sich in ihrem Trakt tagsüber frei bewegen und werden
nur nachts eingeschlossen", sagt sie. Von 7 Uhr morgens bis 19 Uhr
werden die Zellen geöffnet, die Insassen können miteinander reden,
kochen, lesen, Tischtennis spielen, sie dürfen telefonieren. Brüschke
tritt auf den Gang, in dem die 35 männlichen Häftlinge untergebracht
sind. Mit vielen kann sie Russisch sprechen. Sofort kommen einige Männer
auf sie zu, reden vertraut mit ihr. Sie wirkt eher wie eine Mutter als
wie eine Knastchefin. Aber sie sagt auch diesen Satz über ihre
Gefangenen: "Sie sind hier nicht zur Strafe. Sie sind hier, weil sie
Deutschland zu verlassen haben."
Slawik C. saß in Zelle 58, zusammen mit zwei Vietnamesen. Die Zellen
sehen alle gleich aus: ein Tisch in der Mitte, links und rechts davon
Hochbetten.
"Er war nett, freundlich, angenehm. Er sprach sehr gut Deutsch", sagt
Brüschke über ihn. Aber er misstraute den Behörden.
7 Uhr Wecken, 7.30 Frühstück - Brot, Margarine, Marmelade, 12 Uhr
Mittagessen, eine Stunde Hofgang am Nachmittag, 17 Uhr Abendessen -
Käse, Wurst, Brot, 19 Uhr Nachteinschluss, danach Fernsehen. Das war
Slawiks Alltag in der JVA Langenhagen.
Am Mittwoch, 30. Juni, kam es zu einem Zwischenfall. Slawik C. sei
ausgerastet, sagt die Gefängnisleiterin. "Er stellte sich ans Fenster
und brüllte: Polizei! Polizei!" Als Vollzugsbeamte herbeikamen, habe C.
um sich geschlagen. Er schlug gegen die Wände, die Gitter und auch nach
Menschen. Zu fünft mussten sie ihn "fixieren" und in einen Haftraum mit
Videoüberwachung bringen. Doch so schnell, wie er ausgerastet sei, habe
er sich auch wieder beruhigt, sagt Brüschke. "Er hat sich entschuldigt."
Am nächsten Morgen durfte er wieder auf seine Zelle, die er fortan
allein bewohnte. Die beiden Vietnamesen waren abgeschoben worden.
Am Donnerstag, den 1. Juli durfte Slawik C. Besuch empfangen. Es kamen:
ein Freund der Familie, sein Sohn Samwell und die Enkeltochter. Mehr als
drei Besucher sind im Besucherraum der JVA nicht erlaubt, seine Frau
Asmik musste draußen vor dem Stacheldrahtzaun bleiben.
"Er hatte Wunden an der Hand und an der Schulter", sagt Samwell C. "Die
haben mir kein Telefon gegeben", habe sein Vater zu ihm als Begründung
für den Ausraster gesagt. Und: "Ist aber nicht so schlimm. Du brauchst
dir keine Sorgen zu machen. Alles ist in Ordnung hier. Wir werden
tagsüber nicht eingesperrt." Samwell holte seinem Vater Süßigkeiten,
Kaffee und Cola. Und sie verabredeten, dass Samwell am Dienstag, den 6.
Juli wiederkommen sollte. "Bringst du mir ein paar leichte T-Shirts
mit?", habe sein Vater noch gefragt. Er sei völlig normal gewesen,
überhaupt nicht deprimiert, sagt der Sohn.
Asmik C. konnte ihren Mann nicht sehen, aber hören. Als die Besuchszeit
an jenem Tag zu Ende war und ihr Sohn Samwell mit seiner Tochter wieder
aus dem Besucherraum ins Freie trat, rief Slawik aus dem Zellenfenster,
sagt sie. Und er lachte. "Ich habe ihn gefragt, ob er auch gut isst."
Und er habe Scherze über das Essen im Knast gemacht. Dann streckte er
seine Arme aus dem Gitterfenster und winkte ihr zu. Sein letztes
Lebenszeichen an sie.
Am Freitag, den 2. Juli, untersuchte ein Arzt den Abschiebehäftling C.
Alles sei in Ordnung gewesen, sagt Grazyna Brüschke. Dreieinhalb Stunden
später war Slawik C. tot. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief.
"Ich möchte nur wissen: Wieso haben die meinen Vater festgenommen? Wieso
ist das passiert?", sagt sein Sohn Samwell. "Nach elf Jahren in
Deutschland, das geht doch nicht!", ruft er immer wieder. Die Familie
hat den Schuldigen schon ausgemacht: das Landkreisamt Harburg.
Unterstützung bekommt Familie C. vom niedersächsischen Flüchtlingsrat.
Slawik C. sei freiwillig zur Ausländerbehörde gegangen und habe sich
nicht der Abschiebung widersetzt, sagt der Geschäftsführer des
Flüchtlingsrats, Kai Weber: "Der Haftbeschluss war rechtswidrig." Und
auch das Passersatzpapier, das die Ausländerbehörde zur Abschiebung von
Slawik C. beschafft habe, sei zweifelhaft. Der Slawik C. darauf sei ein
anderer. "Die Ausländerbehörde hat getrickst", sagt Weber, getrickst mit
einem Namensvetter. So erkläre sich Weber auch, dass die Frau von Slawik
C. nicht mit abgeschoben wurde.
Die Pressesprecherin des Landkreises Harburg erklärt: "Die
Ausländerbehörde hat die gesetzliche Pflicht, die von einer
Bundesbehörde (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) unanfechtbar
getroffene Entscheidung zu vollziehen." Herr C. sei ein rechtskräftig
abgelehnter Asylbewerber gewesen. Es habe der begründete Verdacht
bestanden, "dass sich Herr C. der Haft entziehen würde", deshalb die
Festnahme. Den Vorwurf, eine falsche Identität zur Abschiebung genutzt
zu haben, bestreitet die Pressesprecherin. "Das Passersatzpapier wurde
ausschließlich auf Grundlage der von Herrn C. gemachten Angaben beantragt."
Doch der Landrat des Kreises Harburg, Joachim Bordt, ist nachdenklich
geworden. Er frage sich, ob die Umsetzung des Ausländergesetzes so in
Ordnung sei, sagt er. Die Verfahren dauerten viele Jahre, "in dieser
Zeit sind sehr unterschiedliche Integrationsstufen festzustellen", sagt
der FDP-Politiker. "Da es sich immer um Einzelfallentscheidungen mit
gravierenden persönlichen Folgen handelt, sollte das Ausländerrecht
diesen unterschiedlichen Integrationsverläufen Rechnung tragen können."
Bordt spricht von Integration am Wohnort oder ehrenamtlichem Engagement.
Er sagt es nicht, aber er meint es: Slawik C., der in Jesteburg
integriert und beliebt war, hätte nicht abgeschoben werden dürfen.
Unterdessen droht auch Slawiks Witwe Asmik C. die Abschiebung, in den
Akten heißt es, sie sei "ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtig". Das
Landratsamt erklärt: "Ob angesichts der tragischen und außergewöhnlichen
Umstände dieses Falls ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht ausgesprochen
werden kann, ist mit der zuständigen Landesbehörde zu klären."
Warum hat sich Slawik C. umgebracht? Wollte er sich für seine Frau
"opfern", damit sie durch seinen Tod in Deutschland bleiben kann?
-------- Original-Nachricht --------
Betreff: [Fluechtlingsraete] Fw: Abendblatt Artikel zu Suiziden in A-Haft
Datum: Wed, 21 Jul 2010 21:48:22 +0200
Von: Conni Gunsser
An: