Solidarität, kein Paternalismus
Kommentar von Sunny Omwenyeke, The Voice Refugee Forum
Kein Zweifel: Die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hohe Zahl an Asylbewerber_innen in Deutschland in den letzten zwei Jahren und die vorgeblich freundliche, großzügige Öffnung der Grenzen durch Kanzlerin Angela Merkel haben das Bild dieses Landes verändert. Vielen Flüchtlingen, die vor Krieg und Unsicherheit fliehen, gilt es nun als einladende Oase. Die Bilder der deutschen Bürgerinnen, die an den Bahnhöfen standen, um die neuen Flüchtlinge mit Wasserflaschen und Snacks zu begrüßen, haben dieses Bild des „Will-kommenseins“ verstärkt.
Gleichzeitig sind im Inland unzählige lokale „Refugees Welcome“ Initiativen entstanden. In na-hezu allen Städten und Gemeinden unterstützen sie heute die neuen Flüchtlinge. Wirtschaftsführer drängten die Regierung, die Grenzen weiter für Flüchtlinge offenzuhalten. Selbst konservative Politiker, die traditionell gegen Flüchtlinge sind, konnten sich der „Refugees Welcome“-Faszination nicht entziehen. Auch sie begannen Willkommenslieder zu singen – es war einfach zu verlockend. In Fußballstadien haben „Refugees Welcome“-Banner plötzlich die oft rassistischen, machohaften und homophoben Gesänge ersetzt. Es schien, als habe der plötzliche Drang, Flücht-linge willkommen zu heißen, das ganze Land ver-ändert.
Doch gleichzeitig blieb ein harter Kern der Bevölkerung bei seinen alten Überzeugungen: Die einen griffen im ganzen Land Flüchtlingsheime an und legten Brände, die anderen applaudierten diesem Tun. Dies ist das Rätsel, das das neue Deutschland mit seiner neuen „Willkommenskultur“ aufgibt. Was für eine Veränderung!
Um es klar zu sagen: Natürlich ziehe ich diese am-bivalente Willkommenskultur der vorherrschenden „Ausländer raus“-Stimmung der frühen 1990er Jahre vor. Doch erinnern wir uns trotzdem an einige Dinge. Die Behörden haben die Bevölkerung konsequent als Asylbetrüger und Wirtschaftsflüchtlinge dargestellt. Über 20 Jahre wurden sie in diesem Land als Unerwünschte behandelt und dämonisiert. Sie wurden unmenschlichen Lebensbedingungen unterworfen um sie wieder aus dem Land zu drängen, diskriminierende Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz oder die Re-sidenzpflicht wurden für sie geschaffen. Flüchtlin-ge wurden bewusst isoliert. Und sie wurden krimi-nalisiert, wenn sie es wagten, von ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. So haben die Behörden Ängste genährt und angefacht. Und deshalb sah auch die Bevölkerung Flüchtlinge vor allem als die, die nicht erwünscht sind und nicht hier sein sollten.
Dann kam die Willkommenskultur. Doch der Mangel an Reflexion in dieser aufkeimenden Kultur ist, gelinde gesagt, äußerst rätselhaft. Denn unter dieser neuen Kultur haben bestimmte Überzeu-gungen und Einstellungen sich erhalten. Sie sind wie alte Gewohnheiten: Sie sind nur schwer abzulegen. So erwarten viele heute, dass die Flüchtlin-ge, die in einem Zelt oder einer Sporthalle leben, dankbar dafür sind, dass ihnen keine Bomben mehr auf den Kopf fallen. Sie schelten die Flüchtlinge, wenn sie sich über die Aufnahmebedingungen beklagen. Doch dabei nehmen sie sich kaum eine Minute, um darüber nachzudenken, woher die fallenden Bomben stammen. Als Flüchtlinge sind wir immer unter dem Motto: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ auf die Straße gegangen. Und es kann heute kein Zweifel daran bestehen, wie richtig dieser Slogan ist.
Doch statt sich über solche Zusammenhänge Gedanken zu machen, gibt es Selbstzufriedenheit und Eigenlob in vielen der Begrüßungsinitiativen. Sie fühlen sich wohl dabei, Second-Hand-Kleidung und Schuhe für die „armen lüchtlinge” zu sammeln, auch wenn das meiste davon in Recyclingzentren endet. Die meisten kritischen linken Stimmen, die traditionell Flüchtlinge unterstützen, sind still geworden. Sie haben sich von der Will-kommenskultur einsaugen lassen und waren zu einem Teil davon geworden. Daran änderten sie auch dann nichts, als die Regierung neue Gesetze beschloss, um Flüchtlinge ohne Ankündigung oder auch bei laufender medizinischer Behandlung oder schwerer psychischer Erkrankung abschieben zu können.
Die Oberflächlichkeit der Willkommenskultur hat sich etwa an den Ereignissen in der Neujahrsnacht in Köln gezeigt: Innerhalb von wenigen Stunden, verwandelten sich zuvor „willkommen geheißene“ Flüchtlinge in Parias. Eine ganze Gruppe von Menschen wurde erneut zu Unerwünschten. Bevor wir uns auf die Schultern klopfen, sollten wir uns daran erinnern, dass es um Gerechtigkeit geht, und nicht um Philanthropie. Die politische Flüchtlingsbewegung fordert Solidarität und Empathie, nicht Bevormundung und auch keine Politik, die nur das ungerechte System in der Welt reproduziert.
Der Autor kam 1998 aus Nigeria nach Deutsch-land. Er initiierte eine Kampagne gegen die Residenzpflicht und ging 2004 ins Gefängnis, weil er sich weigerte, wegen Verstoßes gegen diese Bestimmung eine Geldstrafe zu zahlen. 2004 klagte er in Karlsruhe, 2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Residenzpflicht. Er ist Aktivist des The Voice Refugee Forum und der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant_innen, den ältesten bundesweiten Flüchtlings-Selbstorganisationen. 2010 promovierte er in Großbritannien über die Wirksamkeit politischer Kampagnen. Heute lebt er in Bremen und arbeitet als Flüchtlingsnetworker.
IMPRESSUM
Herausgeber: DGB Bildungs
MIGRATION & GLEICHBERECHTIGUNG
www.migration-online.de
Deutsch:
Kampagne gegen Deportationskultur und Kriminalisierung von Flüchtlinge In Solidarität mit den Flüchtlings-Communitys
- Break-Deportation-Flüchtlingslager-Tour in Thüringen!
Die politische BEWEGUNG - Aufruf an die Flüchtlings-Communitys für ein Solidaritätsnetzwerk in Deutschland und Europa
English:
Campaign to Break Deportation Culture and Criminalization - In Solidarity with Refugee Community Network
- Break Deportation – Refugee Lager Camps Tour in Thueringen
The Political MOVEMENT - Appeal to Refugee Communities for Solidarity Network in Germany and Europe